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systemagazin Adventskalender: Wie ich wahrnehme, was ich wahrnehme

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9adventKurt Buchinger, Wien: Wie ich wahrnehme, was ich wahrnehme

Zuzeiten bin ich mehr „metaphysisch“ gestimmt. In allem, was mir begegnet, scheint mir dann ein Geist zu walten, der jede menschliche Fassungskraft überschreitet. Die Natur, der ganze Kosmos mit all seinen Rätseln, die Untiefen der menschlichen Seele, sogar die menschliche Geschichte und Gesellschaft mit ihren unfassbaren Gräueln zeugen auf irgendeine unsentimentale Art und Weise davon. Was ich oder irgendwer anderes zu denken und fühlen vermag, was wir in welcher Form auch immer zum Ausdruck bringen können, spiegelt mir diesen unendlichen Geist wieder – mehr oder weniger getrübt durch unsere begrenzten Möglichkeiten.

Ich ahne das Eine im Vielen, erkenne dass alles mit allem verbunden ist, bin nahe daran in „allem die ewige Zier“ zu sehen.

Wenn mich diese Stimmung nicht mehr ganz ausfüllt, melden sich inmitten der Bewunderung, oder zumindest an ihren Rändern Zweifel, wie das alles möglich ist. In der Folge erhebt sich die Frage, was denn das sein soll, was da waltet und wirkt.

Für etwaige Antworten stehen mir aus den diversen religiösen und philosophischen Traditionen Bilder zur Verfügung. Da ist die Rede von einem liebenden Schöpfergott, oder von einem bösen Dämon, oder von beiden gemeinsam; vom unbewegten Beweger; von einem großen Weltgesetz; vom Rad des Werdens und Vergehens.

buchingerNatürlich gibt es innerhalb und zwischen diesen Traditionen endlos viel zu diskutieren. Etwa ob allem ein göttlicher Plan zugrunde liegt, oder ob eine solche Vorstellung eines schaffenden Geistes nicht allzu sehr nach dem Muster menschlichen Tuns gestrickt ist. Ob eine geistige Grundstruktur sich in immer wachsender Entfaltung und Komplexität durch alles hindurch zieht, vielleicht sogar auf ein geheimnisvolles Ziel hin. Oder ob es in kosmischen sowohl als in historischen Dimensionen um die ewige Wiederkehr des selben geht.

Je intensiver ich versuche, solchen Fragen nach zu gehen, desto eher verdünnt sich die Stimmung, die ihnen vorangegangen ist, und die ich „metaphysisch“ genannt habe. Bis zuletzt nur mehr Gedanken übrig bleiben. Auch sie üben einen gewissen Reiz auf mich aus. Sie laden mich dazu ein, ein konsequentes Spiel mit Begriffen zu treiben, ein Zeitvertreib, der süchtig machen kann und sich gelegentlich erst mit Fertigstellung eines großen Puzzles beruhigt, das man ein System nennt.

Zu anderen Zeiten wiederum bin ich von einer eher „materialistischen“ Grundstimmung erfüllt. Da erscheint mit nur wirklich, was mir über die fünf Sinne zugänglich ist. Überall nehme ich die ungerichtete Abfolge von Ereignissen wahr, die planlos aufeinander treffen und einwirken. Diese Wahrnehmung dehnt sich in meiner Vorstellung zu einer unendlichen Aufeinanderfolge von Zufällen, von denen mir nur ein mehr oder weniger kleiner Ausschnitt zugänglich ist. So haben sich aus zufälligen Begegnungen verschiedener Materieteilchen im Laufe der Zeit Verbindungen ergeben, die über jeweils neue Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen. Und Verbindungen von Verbindungen, die ohne Plan und Ziel zu immer komplexeren Anordnungen geführt haben, manche davon Leben genannt, manche Geist. Alles zusammen ein beeindruckendes Schauspiel, in dem immer nur das zu geschehen scheint, was in diesen zufälligen Begegnungen am wahrscheinlichsten, weil am einfachsten ist, was aber in der Summe die aller unwahrscheinlichsten Resultate gezeitigt hat, und immer wieder, eben ohne Plan und Ziel hervorbringt. Ein großes Paradox!

Je klarer mir diese Unwahrscheinlichkeiten vor Augen treten und je größer meine Verwunderung darüber, desto eher melden sich auch hier Zweifel, und ich stelle mir, wiederum aus Zweifeln geboren, die Frage, wie so etwas möglich sein kann. Noch auf der Suche nach Antworten ahne ich: Was auch immer ich finden mag, es wird meiner durch Zweifel und Frage ohnehin schon etwas verdünnten materialistischen Grundstimmung nicht förderlich sein. (Es wird mir ähnlich gehen wie beim Nachlassen meiner metaphysischen Stimmung.)

Tatsächlich finde ich Antworten auf meine Frage, und tatsächlich bestätigen sie meine Befürchtung. Denn da ist die Rede von einem evolutionären Prozess, von Mechanismen der Anpassung, vom survival of the fittest, von den verschiedensten Gesetzmäßigkeiten der Natur und dergleichen: Alles mehr oder weniger sinnvolle und geistreiche Konstrukte zur Erklärung eines sinn-und geistlosen Geschehens. Und damit wiederholen diese Antworten auf ihre Art bloß das Paradox, das zur Suche nach ihnen geführt hat, anstatt es zu erklären und damit diesmal meiner Grundstimmung vielleicht doch zu helfen. Falls sie nicht überhaupt nur Namen für etwas erfinden, das durch Namensgebung allein auch nicht annähernd begriffen werden kann (ganz ähnlich wie im ersten Fall).

Schließlich gibt es Zeiten, da es mir gelingt, von keiner dieser beiden einander entgegengesetzten, und wie ich ahne, gerade deshalb aufeinander bezogenen Grundstimmungen erfasst zu werden. Da bin ich weder „metaphysisch“ noch „materialistisch“ gestimmt. Zwar bleibt mir beides vertraut, aber ich befinde mich dazu in gleichmäßiger innerer Distanz. Und ich entscheide mich versuchsweise dafür, zwischen ihnen nicht zu unterscheiden, sie für gleichgültig zu nehmen. Weder will ich dann alles als von Geist erfüllt und gelenkt sehen, noch als zufälliges Resultat planloser Begegnungen irgendwie vorhandener Materien.

Nähere ich mich aus solcher gleichmäßiger Distanz heraus den Phänomenen, so geschieht etwas Eigenartiges:

Ich komme ihnen, vielmehr sie kommen mir näher, können ihren Reichtum vor mir, in mir ungehemmter entfalten als jemals zuvor. Und noch etwas geschieht: Ich fühle, wie sehr wir verwandt sind. Ich entdecke mich in ihnen und sie in mir.

Dabei lasse ich mich so wenig wie möglich von meinen Gedanken und von den erlernten Begriffen leiten. Natürlich geht es nicht ganz ohne sie. Denn ich habe ja die Konzepte und Konstrukte nicht vergessen, die ich aus den Fragen, aus den Zweifel-geborenen Fragen meiner beiden anderen damals gerade verblassenden Grundstimmungen gewonnen habe. Aber ich bin gewitzt in der Art ihres Gebrauchs. Ich lege diese Konstrukte jeweils eine zeitlang an die Phänomene an, die ich durch ihre Brille wahrnehme. So betrachte ich einmal alles als von einem unendlichen Geist durchdrungen. Schließlich lege ich diese Brille ab, und lasse das zunächst unscharf gewordene Bild auf mich wirken, bis ich es neu sehe. Dann greife ich nach der anderen Brille, die mir alles als blinde Abfolge einander zufällig begegnender Materieteilchen vor Augen führt, und gehe genauso vor. Ich lege also auch sie ab und warte, bis das nun auf andere Weise unscharf gewordene Geschehen sich wieder überraschend neu zeigt. So werden die Bilder immer reicher und die Möglichkeiten der Wahrnehmung weiten sich aus. Bis ich durch den auswechselbaren Reichtum der Gedanken zu einer immer gedankenloseren Annäherung an die Phänomene gelange – einer Annäherung, in der mein Inneres zu vibrieren beginnt, und ich am Grunde von allem nur mehr grenzenlose Freiheit fühle. Mich und meine Wahrnehmung inbegriffen.

Schließlich entdecke ich, dass ich hier mit Hilfe der beiden ersten Grundstimmungen, die ich als metaphysisch und als materialistisch bezeichnet habe, und durch ihre gleichgültige Nutzung in einer dritten Stimmung gelandet bin. Sie suche ich nun so oft wie möglich auf, um mich immer mehr in sie und sie in mir zu vertiefen, bis sie mein ganzes Dasein erfüllt. Ich habe keinen Namen für sie. Seliges Untergehen ohne zu ertrinken.

So wie ich in meiner metaphysischen Gestimmtheit alles bewundere, so bin ich in der materialistischen Laune über alles verwundert. Nun aber, in meiner neuen Lage, in der aus Distanz unglaubliche Nähe und Verbindung erwachsen ist, erscheint mir die Welt voller Wunder.

Ein Kommentar

  1. Sabine Klar sagt:

    Danke für diesen Beitrag – ich kann dieses Erleben (das für mich etwas „Dialektisches“ hat) gut nachvollziehen
    Alles Liebe
    Sabine Klar

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