Kurt Ludewig, Münster: Vom Baden im Mainstream
Vor fast einem Vierteljahrhundert, im Jahr 1994, hielt ich auf Einladung von Wilhelm Rotthaus im Rahmen der von ihm gestalteten Viersener Therapietagen einen Vortrag mit dem Titel “Quo vadis Systemische Therapie”. Wilhelm hatte den Vortragenden bei der Tagungsplanung die Frage gestellt: „Angenommen, wir hätten schon das Jahr 2.000 und du wärest zufrieden mit der Weiterentwicklung der Systemischen Therapie, woran würdest Du das merken?“ Angeregt durch die Einladung von Tom Levold, mich auch in diesem Jahr an seinem Adventskalender im systemagazin zu beteiligen, las ich in diesem lange vergessenen Text und war erstaunt zu finden, dass vieles davon auch heute gilt und durchaus eine Antwort auf die Frage sein kann, die Tom stellt. Im Folgenden übernehme ich Passagen aus jenem Text, zumal ich nicht glaube, dass ich es heute besser formulieren kann.
Tom Levold schlägt nämlich für das diesjährige Adventskalender 2018 folgendes Leitthema vor: “Angenommen, Sie schauen 2028 auf 10 turbulente Jahre zurück, was ist alles an erfreulichen und deprimierenden Ereignissen geschehen?” Schon an diesen beiden Leitthemen von 1994 und 2018 offenbart sich die intrinsische Motivation systemisch Denkender, die Zukunft vorwegzunehmen. Allerdings wirkt Wilhelms Frage durchaus eher im Sinne seines Erfinders, Steve de Shazer, als jene von Tom: sie war einseitig optimistischer. Offenbar erwartete man im Jahr 1994 weniger eventuell deprimierende Ereignisse, sondern hoffte vielmehr auf die Früchte einer guten Weiterentwicklung. Hat sich so viel im letzten Vierteljahrhundert verändert, dass man einen größeren Raum für Skepsis einplanen muss? Eigentlich müsste man heute viel mehr geneigt sein, sich über die aktuelle Entwicklung zu freuen und die Schampuskorken knallen zu lassen, denn seit wenigen Wochen ist endlich die sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie beschlossene Sache.
Nur, wie man es seit den eigenen Kindheitstagen kennt, gehen die Feste, auf die man sich lange gefreut oder für die man lange vorgearbeitet hat, ob Geburtstage, Weihnachten oder bestandene Prüfungen, viel zu schnell vorbei, und der unaufhaltsame Alltag ordnet einen wieder ein. Ist etwa das, was sich als deprimierend erweisen könnte, der Alltag, das Ende des freudigen Anlasses? Oder ist es das, was passiert, wenn, um Heraklit zu paraphrasieren, der Badende im Mainstream danach nicht derselbe ist, der sich in diesen Strom hineingewagt hat? Man badet zwar nicht nur zweimal im selben Fluss, hier nicht so sehr, weil der Strom sich ändert, sondern weil dieser meistens mächtiger als der Badende ist und ihn verändert. Ist das, was zu befürchten und nach 10 Jahren als deprimierend zu werten wäre?
Ich habe in meiner Zeit als Vorsitzender der Systemischen Gesellschaft mich gegen die Meinung einiger prominenter Kollegen stark dafür eingesetzt, die systemische Therapie wissenschaftlich anerkennen zu lassen. Neben der Tatsache, dass ich mich mit diesem Verfahren, vor allem aber mit seiner Metatheorie identifizierte und schon deshalb für die Anerkennung plädierte, hielt ich es für unfair, jüngere Kolleginnen und Kollegen auf eine berufliche Zukunft hin auszubilden, die außer der Freude am Neuen wenig Konkretes anbieten würde, das heißt, das Nötige, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Wir bildeten aus, damit unsere Ausgebildeten entweder das Erlernte ohne Erlaubnis ausübten oder sich im Anschluss in einem der anerkannten Verfahren noch einmal ausbilden ließen, um davon leben zu können. Die Niederlassung in eigener Praxis blieb nur denjenigen reserviert, die sich bekannt gemacht hatten oder wenig Bedarf am Verdienst hatten Das war eine schiefe Lage und es konnte nicht unser Ziel sein. Also wir und viele, die dann folgten, kämpften weiter für eine angemessene gesellschaftliche Anerkennung. Und nun ist sie da!
Greife ich nun auf meinen alten Text zurück, um die aktuelle Frage zu beantworten, finde ich im Hinblick auf meine Zukunftsvision auf das Jahr 2000 unter anderem Folgendes:
- Im Jahre 2000 ist die Systemische Therapie ein selbstverständlicher Bestandteil der psychotherapeutischen Versorgung. Sie hat ihre Fundamente gepflegt und weiterentwickelt und darauf ein kohärentes und solides Gebäude in konzeptioneller und technischer Hinsicht errichtet. Sie hat ihre Scheu vor der Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen verloren. Ohne auf die eigenen Denkvoraussetzungen zu verzichten, hat sich die Schnittmenge zwischen ihr und den anderen erheblich erweitert. In der Forschung hat sie unter Verwendung geeigneter Methoden überzeugende Nachweise ihrer Effizienz erbracht sowie viele Konzepte der klinischen Theorie empirisch bestätigt bzw. den empirischen Ergebnissen angepasst.
- In Universitätsabteilungen der Psychologie und Medizin arbeiten und lehren begabte Forscher, die das systemische Paradigma vertreten und vorantreiben. Diese kooperieren mit den privaten Instituten, in denen ein Teil der praktischen Ausbildung stattfindet. Den Trägern dieser Institute ist es gelungen, die Ergebnisse der Wissenschaft zu integrieren und untereinander zu kooperieren. Dennoch haben zwischen ihnen weitere Differenzierungen bezüglich der Akzentsetzung und der Interessen stattgefunden, die das dialektische Moment fördern und neue Ideen und Methoden hervorbringen.
- Angehende Psychotherapeuten, ob aus Psychologie oder Medizin, können frei von Vorschriften und Sachzwängen ihre Ausbildung nach persönlichen Präferenzen wählen. Die Ausbildungsgänge für systemische Therapeuten führen zu einer offenen und effizienten Professionalität. Die Machtkämpfe zwischen den Richtungen sind überwunden, verblieben ist aber genügend Unterschiedlichkeit, die den Diskurs und die Weiterentwicklung der Psychotherapie in Gang hält.
- Für nicht-klinische Berufe wie Sozialpädagogen und Lehrer sind Konzepte auf der Basis einer systemischen Pädagogik und einer Beratungspraxis erarbeitet worden. Nicht psychotherapeutische Mediziner erfreuen sich der Möglichkeiten einer systemischen Medizin. Auch für andere Berufe z. B. im Pflegebereich sind geeignete Konzepte entstanden. Schließlich hat sich im Organisationsbereich eine systemische Perspektive etabliert, die konsistent auf die Verbesserung institutioneller Bedingungen hin arbeitet und dazu beiträgt, dass Menschen kooperativer miteinander umgehen und auf das hierarchische Gefälle weitgehend verzichten.
Was davon ist bereits im Jahr 2018 Wirklichkeit geworden? Ich meine, bei aller damaligen Blauäugigkeit, eine Menge. Andererseits sind auch jetzt einige Klippen zu nehmen und an jeder von ihnen, kann ein bisschen von dem hängen bleiben, was die Systemische Therapie kennzeichnet. Wird dann im Jahr 2028 oder später unter systemische Therapie noch zu verstehen sein, was auf ein Kürzel gebracht, lautet: die praktische und konzeptionelle Nutzung der Möglichkeiten systemischen Denkens, um Individuen und sozialen Systemen bei der Überwindung leidvoller Probleme professionell zu helfen. Wird dann noch Einigung darüber herrschen, das „Menschenbild“ der Systemischen Therapie im Einklang mit konstruktivistischer Erkenntnis- und Wirklichkeitsauffassung sowie mit soziologischer Systemtheorie aufzufassen?
Meines Erachtens wird es der Systemischen Therapie guttun, das erkenntnis- und systemtheoretische Fundament, auf dem sie baut, beizubehalten und gfs. auszubauen. Dieses Fundament ist gerade das, was sie identifiziert, und zwar zugleich im wissenschaftlichen und praktischen, vor allem aber im ethischen Sinne. Denn dieses Fundament befreit von mechanistischen Vorstellungen des Menschen als mehr oder weniger raffinierte, triviale Input-Output-Konstruktion, die gestört oder defekt sein kann sowie objektiv erfassbar und kausal beeinflussbar ist. Das Verständnis von Menschen als autopoietisch organisierte Individuen, die im rekursiven Miteinander mit anderen ihre Welten durch Sinngebung kooperativ gestalten ist ein konzeptioneller und ethischer Gewinn, der nicht leichtfertig verspielt werden sollte.
Dennoch sind sich systemische Therapeuten schnell darüber einig, dass es keine einheitliche Auffassung des Systemischen gibt oder zu geben braucht. Bereits im Jahr 1994 merkte ich an, dass wesentliche Kritiken am Systemischen aus den eigenen Reihen stammen. Diese oftmals allzu selbstkritische Einstellung mag durchaus im Einklang mit jenen Prämissen systemischen Denkens stehen, dass es keine absolute Wahrheiten gäbe, sie bieten aber denjenigen, die ihre bisherigen Claims im sozialrechtlichen Bereich verteidigen wollen, gewichtige Argumente, um die Positionierung der Systemischen Therapie als Richtlinienverfahren zu erschweren. Mit Blick auf Inhalte muss Dissens und Vielfalt weiterhin begrüßt und Heterogenität eingeräumt werden. Schwieriger ist es allerdings, das noch Gemeinsame zu finden, wenn dieser Ansatz mit Blick auf sozialpolitische Notwendigkeiten mit nachvollziehbarer Einheitlichkeit vertreten werden soll.
Als mich Anfang der Achtziger Jahre die Begeisterung für das “Systemische” erfasste, war ich dem Schicksal dankbar, ein neues, unbeackertes Terrain zu betreten und so dazu beitragen zu können, dass ein neues Verständnis von Menschen und ihren Beziehungen in Psychotherapie und anderen Hilfsmaßnahmen umgesetzt werden konnte. Die Freude am Neuen im Denken und der Erfolg mit einer neuartigen Praxis haben mich beflügelt. Die Achtziger Jahre waren in dieser Hinsicht ein lang andauerndes Fest. Wie aber bei allen Festen musste auch dieser Zustand der Konsolidierung und dem Alltag weichen. Das bahnte sich in den Neunziger Jahren an und scheint sich bis heute erstreckt zu haben.
Nun obliegt es den jüngeren Generationen, dafür zu sorgen, dass all das, was ihnen dieses Denken und dieses Handeln an Haltung, Visionen und beruflicher Zufriedenheit ermöglicht hat, erhalten bleibt und fortentwickelt wird. Never change a winning team, pflegte Steve de Shazer zu sagen, also: Handelt danach!