Arist von Schlippe, Osnabrück:
Zu Besuch in einer ostdeutschen Großstadt, wir sitzen im Taxi und wollen vom Bahnhof zum Hotel. Es dauert, ein langer Stau hält uns auf. Der Taxifahrer schimpft: „Die Baustelle ist hier schon so lange und nichts passiert, die Planung ist jetzt, dass das hier noch sieben Jahre so weitergehen soll. Was machen die da eigentlich?“ und es geht weiter: mit der Regierung, die nichts „gebacken“ kriegt, was die alles rumgeschlampt haben, da braucht man gar nicht auf den Berliner Flughafen zu gucken, das sei doch überall so. Ich stimme vage zu, Projekte großer Komplexität sind ja wirklich schwierig zu steuern… Da kommt ein neuer Zungenschlag ins Gespräch: „Und die Afrikaner, die kommen alle hierher und machen Urlaub! Auf unsere Kosten!“ – „Nun ja, die meisten sind ja Flüchtlinge“, werfe ich ein. „Von wegen, die wollen es sich hier doch nur gutgehen lassen, 400.000 kommen jedes Jahr und wir tun nichts dagegen! Und die lachen sich ins Fäustchen…“ Ich spüre kurz die Versuchung, über Fakten zu diskutieren, es sind doch nicht 400.000 sondern nur die Hälfte, aber dann erinnere ich mich an ein Buch, das ich vor Kurzem las (1): Wenn man sich in einer solchen Debatte auf die Ebene von Argumentation begibt, hat man schon verloren („Lügenpresse, Falschinformation, Sie haben ja keine Ahnung, wie es wirklich ist…“). Außerdem redet er schon weiter: „Und, Sie werden schon sehen, bald haben wir auch noch Schwarze in der Regierung!“ Kein Gedanke daran, hier mit dem Witz zu kontern, dass die Partei mit der schwarzen Farbe doch schon längst im Amt ist, im Gegenteil, mir ist nicht nach Lachen zumute. Ich merke Wut und Empörung in mir aufsteigen, überlege, ob ich ultimativ fordere, dass er anhält und wir den Wagen verlassen. Aber dann stehen wir mit den schweren Koffern mitten in einer Stadt in einer hoffnungslos verstopften Straße. Der Pragmatismus siegt.
Welche Möglichkeit gibt es zwischen voraussichtlich unergiebiger Diskussion auf der Sachebene und der klaren, wütenden Stellungnahme, dass man diese Position nicht dulden könne – die den anderen dann in die Opferposition bringen könnte („Sehen Sie, so weit ist es in diesem Land gekommen, dass man das nicht einmal mehr sagen darf!“)? Zum Glück fällt mir ein Drittes ein: wie wäre es mit Fragen? Und ich komme in einen anderen Modus: „Wenn ich Ihnen so zuhöre, denke ich mir, dass Sie vermutlich die AfD wählen werden, oder?“ – „Darauf können Sie sich verlassen!“ – „Was glauben Sie denn, würden die anders machen?“ – „Ach, vermutlich nichts, aber die kommen ja sowieso nicht an die Regierung.“ – „Aber warum wählen Sie die denn dann, das verstehe ich nicht.“ – „Naja, um ein Zeichen zu setzen, irgendwer muss denen da oben mal in den Arsch treten, damit sie sehen, dass es nicht so weitergeht!“ – „Also es wäre ein Protest?“ – „Genau!“ – „Was sollten die da oben denn verstehen, wenn Sie protestieren?“ – „Dass sie uns abgehängt haben, die tun nichts für die kleinen Leute. Und wenn Sie sich hier umschauen, nichts hat sich hier getan, in dreißig Jahren hat sich nichts verändert!!“ Ich schaue mich um, sehe renovierte Altbauten, eine Straße in gutem Zustand und weise darauf hin. „Ja, Häuser und Straßen, das ist aber nichts, ich muss Ihnen sagen, in der DDR ging es mir besser als heute!“ – „Und wie ist es mit Reisen?“ – „Ja, gut, – aber wie soll ich das denn bezahlen? Ne, das war schon besser damals!“
Wir fahren am Parteibüro der Linken vorbei: „Jetzt erklären Sie mir doch mal, warum wählen Sie denn nicht die, die vertreten doch ganz viel von den Positionen, die Ihnen auch wichtig sind?“ – „Die? Die sind doch schon in der Regierung hier. Und die tun doch auch nichts. Früher habe ich die mal gewählt!“ – „Aber nun sind Sie enttäuscht von denen?“ – „Ja, die setzen doch nichts um von dem, was sie versprechen!“ Ich denke nach. Enttäuschungen haben ja viel mit Erwartungen zu tun, auch mit Hoffnungen. Ich denke an Arlie Hochschilds Buch „Fremd in ihrem Land“ , in dem sie die Enttäuschungen der Amerikaner beschreibt, die an den „American dream“ glaubten: „Jeder kann es schaffen!“ Und ich vergleiche es mit dem Versprechen der „Blühenden Landschaften“ der 1990er Jahre für die neuen Bundesländer. Welche Erwartungen haben sie geweckt, dass heute die Enttäuschung so groß ist? Ich frage ihn: „Was bräuchten denn Sie persönlich?“ – „Dass man mal sieht, in was für einer Lage ich bin. Ich bin 68 Jahre alt, kriege 560,- Euro Rente, meine Wohnung kostet 555,- Euro, ja und von den 5,- Euro, die noch übrig sind, soll ich leben? Warum muss ich denn wohl noch Taxi fahren?“ – „Ah, verstehe, Sie fühlen sich abgehängt!“ – „Was heißt denn ‚ich’? Das war doch ’ne Übernahme damals, alles haben sie kaputt gemacht, die aus dem Westen mit der Treuhand, unsere Wirtschaft und unseren Stolz!“ Wieder bin ich versucht, auf die Ebene der Argumente zu gehen (‚Wissen Sie eigentlich, in welchem Zustand die ostdeutsche Wirtschaft damals war…’), aber ich halte mich zurück. „560,- Euro,, das ist ja wirklich nicht viel!“ – „Aber da bekommen Sie dann doch Sozialhilfe!“, wirft meine Frau ein. „Sozialhilfe, das ist doch keine Lösung, das ist doch kein Zustand für jemanden, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hat! Wissen Sie, ohne das Trinkgeld käme ich auch jetzt nicht über die Runden!° – Aha, denke ich, jetzt kann ich mir vorstellen, wohin die Konversation geht, aber ich bin auch ruhiger. Wir tauschen noch einige Argumente aus, am Ende ist mir der Mann gar nicht mehr so unsympathisch, ich bin froh, im Wagen geblieben zu sein (nicht zuletzt, weil unsere Koffer am Hotel in Empfang genommen werden). Und ich gebe ihm ein reichliches Trinkgeld: „Damit ich ein bisschen dazu beitrage, dass Sie einen guten Lebensabend haben!“ Wir lachen und verabschieden uns.
(1): Leo, P., Steinbeis, M., Zorn, D. (2017). Mit Rechten reden. Ein Leitfaden. Stuttgart: Klett-Cotta
Herzlichen Dank, Arist von Schlippe, für diesen Beitrag. Er trifft meine Erfahrungen sehr genau, gerade auch in einer „ostdeutschen Großstadt“, noch stärker aber im Umland. Und wie schwierig es ist, solche „Zungenschläge“ nicht als Provokationen anzunehmen und in einen Empörungs-Schlagabtausch zu gelangen. Wenn ich auf die Inhaltsebene gehe, spiele ich das Spiel mit – mit bekanntem Ergebnis. Das habe ich schon oft erlebt. Wie schwer es ist, in eine fragende Haltung zu kommen und prinzipiell die Bedürfnisse zu würdigen, ohne den Aussagen zustimmen zu müssen, erlebe ich immer wieder. Es ist dann immer wieder beglückend, wenn sich die Menschen ein bisschen verändern – und sei es auch nur in meinem Bild… Ich übe mich und kann bestätigen, dass es „Neues in die Welt“ bringen kann. Und wenn etwas zu etwas Gutem führen kann, dann: warum nicht mehr davon?
Danke, das macht Mut, es Ihnen das nächste Mal in ähnlicher Situation mit Fragen nachzumachen.