Jürgen Hargens, Meyn: Systemische Therapie? Was ist das?
Diese Frage hörte ich Anfang der 1980er Jahre immer wieder, wenn ich mit Kolleginnen sprach, als die erfuhren, dass ich eine ebensolche Zeitschrift gestartet hatte. Ich muss gestehen, ich konnte die Frage damals genauso wenig beantworten wie heute. Klar, es gibt – für mich – ein paar Linien oder wie es neudeutsch heißt „basics“, die sich damit verbinden.
Im Laufe der Jahre habe ich gemerkt, dass es mit am wichtigsten für mich war, die dadurch gewonnene Freiheit zu gestalten, nicht mehr fixiert (ja, genauso meine ich es: nicht mehr festgebunden) auf starre Vorgaben zu sein, sondern Möglichkeiten und Stärken herauszufinden, respektvoll mit meinen Gegenübern umzugehen, ihnen zuzutrauen, das zu erreichen, was sie sich wünschen.
Heute – glücklicherweise praktiziere ich nicht mehr, eine Folge des Älterwerdens – hat sich das für mich verschoben. Auch die Anerkennung der systemischen Therapie (ich weiß immer noch nicht, was genau das ist) hat mir nicht wirklich geholfen – im Gegenteil. Systemische Therapie ist ins Bett des ärztlichen/medizinischen Systems gekrochen und muss sich – und wird sich weiter – an die von diesem System und seinen durch die bestehenden Organisationen und Strukturen definierten Anforderungen und Bedingungen anpassen. Was ich da aus meiner Situation und Perspektive ein wenig vermisse, fasse ich unter dem Begriff „Kontextsensibilität“ ebenso zusammen wie unter dem Begriff „Selbst-Rückbezüglichkeit“.
Ich war und bin immer noch kein Anhänger der Idee, „systemische Therapie“ als Teil des medizinischen Gesundheitssystems zu verstehen. Denn eines, was ich an systemischen Konzepten hilfreich finde, ist die Idee, dass es ein Merkmal von Systemen ist/sein soll, den eigenen Bestand zu wahren und zu erhalten. Und wenn ich mich zu jemand anderen ins Bett lege, dann … darüber ließe sich spekulieren. Und auch die Frage aufwerfen, was bei der ersten Ablehnung der systemischen Therapie durch die Ärzteverbände dagegen sprach, als Systemische Gesellschaft mit den Kassen zu verhandeln …
Auch die Idee, dass Sprache Wirklichkeiten hervorbringt, hat für mich Bedeutung erlangt. Es geht u.a. um Begriffe wie Diagnose, Krankheit, Intervention. Die sollen – so wird gesagt – im systemischen Zusammenhang eine andere Bedeutung haben. Wie soll das gehen, frage ich mich. Ein Beispiel amüsiert mich dabei immer wieder – das Thema der „geschlechtsneutralen Sprache“, also männlich oder weiblich, großes „I“, Unterstrich, Stern oder was auch immer. Mir schwebt immer ein Experiment vor: zehn Jahre lang einfach einmal ausschließlich die weibliche Form zu verwenden, also davon zu schreiben, dass es um Therapeutinnen geht, um Helferinnen usf. Bisher – so meine Erfahrung – kommt dann regelmäßig der Aufschrei, das ginge so nicht.
Könnte sein. Und wenn es denn so wäre, dann bliebe zu fragen, was es denn bedeuten könnte (welche Wirklichkeit es hervorbringe), wenn die „üblichen Begriffe“, z.B. Diagnose, Krankheit, Kausalität, Ursache, weiter verwendet werden, nun aber eine andere, nämlich eine systemische Bedeutung haben sollen.
Ich muss gestehen – da vermisse ich den Aufschrei.
Das #Aufschrei-ben läuft selbstverständlich weiter. keine Sorge.
Ein Kundenservice Marketing Bot bot mir letztens an, die Anrede „lieber Kunde“ ändern zu dürfen. Fortschritt oder Fortschreibung?