Dominik M. Rosenauer, Wien: Sich zeigen
„Open doors“ waren die einladenden Worte, an diesem Adventkalender mitzuwirken. Tom hatte dieses Jahr kein übergeordnetes Thema vorgeben wollen und die Community des Systemmagazins eingeladen, an Texten zu schicken, was interessant erscheint. Diese Offenheit für das, was kommt, finde ich nicht nur mutig, sondern vor allem auch befruchtend! Wenn wir ganz offen sind für das Spannende und Interessante, das Andere uns bringen, ist das ein sehr humanistischer Zugang, den ich uns Systemikerinnen und Systemikern nur immer wieder wünschen kann!
Open doors. Wenn die deutsche Kanzlerin Flüchtende willkommen heißt und die Türen nicht zumacht, macht das einigen Menschen Angst, weil sie das Gefühl haben, dass offene Türen auch Negatives hereinlassen. Wer lebt schon gerne in einem Haus, in dem alle Türen offen sind? Welcher Mensch, der halbwegs bei Verstand ist, würde nicht seine Wohnungs- oder Haustür schließen, wenn er schlafen geht. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihm Wohlmeinende während der Traumstunden etwas hineintragen, ist tendenziell gering. Auch wenn Weihnachten kommt und der Heilige Nikolaus genau das macht. Aber auch der Weihnachtsmann kommt ja durch den Schlot und nicht durch offene Türen. Also kann man die ruhig schließen. Damit es sicher ist. Damit alles dort bleibt, wo es ist und so bleibt, wie es ist.
Nein, das ist nicht nur ein politisches Statement. Das ist nicht nur eine Einladung, die Türen und auch die Fenster und die Grundstücksgrenzen zum Nachbarn offen zu halten und nicht alles hinter einer einfallslosen Thujen-Hecke und dicken Vorhängen und Vorhängeschlössern zu verstecken. Gleichzeitig habe ich auch nicht die naive Vorstellung, was die Welt nicht für ein schöner Ort wäre, wenn wir alles offen ließen. Aber stellen Sie sich einmal vor, wie viel angenehmer das Leben wäre, wenn man das, was andere innen drinnen machen, mehr respektieren könnte.
Logischerweise gibt es da Ausnahmen und Orte und Situationen, die ich nicht mit allen rund um mich teile. Aber im Großen und Ganzen verstecken wir vielleicht allzu viel von uns und geben so den anderen nicht die Möglichkeit, uns kennen zu lernen. Wir denken, dass wir uns nicht zeigen können, wie wir sind, weil unsere Regungen, Empfindungen und Gedanken die anderen vielleicht abstoßen, verletzen oder ärgern könnten. Und vielleicht haben wir auch oft die Erfahrung gemacht, dass unsere Offenheit negative Auswirkungen hat. Wir lernen sehr früh, dass es private Dinge gibt – und das ist natürlich wichtig. Vielleicht übertreiben wir es aber in unserer Angst, nur nichts falsch zu machen und zeigen viel weniger her, als möglich und manchmal nötig wäre. Und wenn wir nicht offen sind, laden wir auch andere nicht ein, sich zu öffnen. Und dann bleiben wir alle in unseren kleinen Kokons und fürchten das Fremde um uns herum, weil wir nicht wissen, was dahinter steckt. Und dann müssen wir zu denken beginnen, was die anderen denken, dass wir denken und das macht wieder Angst.
Facebook ist also die gesellschaftliche Perversion der Öffnung in ein virtuelles Außen, das dem Wunsch folgt, sich selbst zu zeigen, „ge-liked“ zu werden – aber nicht wirklich, sondern nur dafür, wie wir uns präsentieren. Ganz offen – aber sehr kontrolliert. Dahinter könnte die Angst stecken, dem Menschen, der neben mir wohnt zu zeigen, wer ich bin und mit ihm in Kontakt zu treten. Dahinter könnte der Wunsch nach Nähe und Anerkennung stecken – aber die Angst, dass man nur für gesellschaftlich Akzeptables gemocht wird. (Dabei gibt es den „dis-like“-Knopf bekanntlich nicht!)
Erleben Sie in der Praxis nicht auch oft, dass es Menschen selbst in der bestgehüteten Kommunikationssituation einer Psychotherapie-Stunde massiv schwer fällt, sich zu öffnen? Weil sie es gar nicht mehr gewöhnt sind, über sich zu reden, anderen mitzuteilen, was wirklich wichtig ist. Wir sind nach 100 Jahren Psychotherapie offenbar wieder am Anfang und müssen unser Gegenüber einladen, alles zu sagen, was in den Sinn kommt (freie Assoziation), damit diese kognitiven Hemmungen wegfallen. Das Anything-Goes, das Entblößen unserer äußeren Hüllen (bauchfreie Tops, hot pants, String-Tangas), all die Open Doors erwecken den Eindruck einer offenen Gesellschaft – und sind doch zu einem guten Teil Theater. Denn wer diese Menschen sind, sehen wir trotz all der Haut genauso wenig wie im fin de siècle, als alles verhüllt und verborgen wurde. Viele Menschen in der Therapie machen es auch so: Sie sprechen viel, erzählen in den ersten Stunden von den schlimmsten Traumatisierungen – und zeigen *sich* doch nicht. Sie haben Angst, sich verletzlich zu zeigen, haben das Gefühl, auch in der Therapiestunde eine Rolle spielen zu müssen und wissen vor lauter Übung vielleicht oft gar nicht mehr, dass sie eigentlich eine Rolle spielen. Und wir Zuhörenden halten vieles von dem Rollenspiel vielleicht oft für einen Einblick in die persönliche Lebenswelt. Dabei ist es doch nur Theaterrolle auf der Gesellschaftsbühne.
Ich als katholisch erzogener Mensch habe meine Zeit in Amsterdam genossen. Zwar waren die Menschen dort nicht in der Art und Weise „liberal“, wie ich es dachte, aber es war angenehm. Kennen Sie die riesengroßen offenen Fenster der Wohnungen im Erdgeschoß? Am ersten Tag sah ich als Tourist noch hinein: wie leben die? Wie sieht’s da aus? Aber spätestens nach zwei, drei Tagen geht man durch die Grachten und blickt nicht mehr so neugierig, weil man weiß, dass die Menschen uns sehr ähnlich sind und es dort eigentlich nicht viel zu spionieren gibt. Die Offenheit der anderen hat also bei mir, dem Touristen, ein Gefühl von Nähe erzeugt – generiert durch die Erkenntnis, dass die Fremden mir eigentlich sehr ähnlich sind. Das Ansehen wurde dann zu einem Wahrnehmen und Erkennen von Gleichheiten und Unterschieden. Geschlossene Vorhänge hätten mich viel neugieriger gemacht, da bin ich sicher.
Ist nicht auch dieser Adventkalender eine Metapher dafür? Alle 24 geschlossenen Türchen machen uns neugierig, lassen uns spekulieren – und wenn wir sie eins nach dem anderen öffnen, begegnen wir Menschen und ihren Geschichten.
In diesem Sinn: Viel Spaß beim Öffnen!
Lieber Dominik Rosenauer,
vielen Dank für Ihre Gedanken zum „Sich zeigen“. Mir fallen zwei Zitate dazu ein:
Das erste stammt von dem amerikanischen Autor Don DeLillo:
„Es geht darum, wer wir sind,
wenn wir gerade nicht inszenieren,
wer wir sind.“
Wenn ich mich frage, warum es oft so schwer fällt, mich/sich zu öffnen und
zu zeigen wer ich/man wirklich ist, welche Affekte und Gefühle, welche Schwächen
und ‚Peinlichkeiten‘ in mir sind, dann vermute ich, dass es ein Bedürfnis nach
Schutz und Sicherheit (Sieh mich, aber nicht ganz) ist, das dem anderen Bedürfnis
nach Anerkennung (Sieh mich!) entgegen steht. Sich nicht zu öffnen könnte man
dann als den Versuch verstehen, das Gefühl der Scham zu vermeiden. Ich habe am
6. Dezember versucht, diesem Gedanken ein Türchen im Kalender zu öffnen.
Vielleicht kann das zweite Zitat eines Satzes von Adorno einen Weg zu mehr Offenheit
zeigen:
„Geliebt wirst du einzig dort, wo schwach du dich zeigen kannst, ohne Stärke zu provozieren.“
Für mich ein guter Wegweiser im Advent vor Weihnachten: Wo ich Anerkennung, Wertschätzung
und vielleicht sogar Liebe spüre, kann ich zeigen, wer und wie ich bin, wenn ich nicht gerade
inszeniere wer ich bin. Dann brauche ich keine schamvermeidende Sicherungsvorkehrungen
mehr. Vielleicht ist die wohlwollend-liebevolle Beziehung (auch im beruflichen Setting des Psychotherapeuten) die notwendige Voraussetzung dafür, dass andere sich mir öffnen.
Ganz herzliche Grüße aus Köln
Peter Müssen
Lieber Dominik,
danke für deinen schönen Beitrag, der mich sehr anspricht – gerade in seiner Zwiespältigkeit
Alles Liebe
Sabine
Ent-Täuschen wir uns über „das Virtuelle“.
Nutzen wir die Kraft der inneren Bilder, die bleibt …
Lieber Herr Rosenauer,
so gerne hätte ich Ihnen widersprochen in Ihrer nüchternen Analyse des „Jetzt“, aber ich habe nichts gefunden, worin ich Ihnen widersprechen könnte. Sie haben so Recht, wir müssen wieder oder immer noch lernen, uns zu zeigen, nur das verbindet uns. Danke für Ihren Beitrag.
Lieber Andreas Wahlster,
Es kann durchaus von Wertschätzung des Gegenübers zeugen, sich der eigenen Differenzen bewusst zu sein und sie auch zu äußern, um einen Social Mehrwert mittels Media zu kreieren.
Vielen Dank im Voraus für die Aufmerksamkeit.
Liebe Frau Thiede,
Sie werden mir sicher erklären, was Sie damit meinn, ich hab`s nämlich nicht verstanden.