Heiko Kleve, Potsdam:
Am 7. Oktober 1989 war ein Tag für mich, den ich in ganz besonderer Erinnerung habe. Es war der 40. Jahrestag der DDR. Ich arbeitete in dieser Zeit als junger Facharbeiter für Datenverarbeitung in einem Rechenzentrum in der Nähe vom Berliner Alexanderplatz. Und obwohl der Tag ein Feiertag war, hatte ich Dienst. Denn wir waren in einem Vierschichtsystem tätig. Als meine Schicht zu Ende ging, unterhielt ich mich mit zwei Kollegen darüber, was wohl heute am Alexanderplatz passieren werde. Es wurde gemunkelt, dass am 40. DDR-Geburtstag, und zwar während Honecker mit Gorbatschow und den anderen geladenen realsozialistischen Staatsführungen im Palast der Republik feierten, eine spontane Demonstration an der Weltzeituhr losgehen würde. So war es dann auch – und meine Kollegen und ich waren dabei.
Die Demonstration bestand vor allem aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen und zählte ca. 3.000 Personen. Vor dem Palast der Republik verweilten wir, riefen „Gorbi, Gorbi“, „Freiheit, Freiheit“, „Keine Gewalt“ und „Wir sind das Volk!“. Danach zogen wir weiter in Richtung Prenzlauer Berg. Am Ende versammelten wir uns in der Gethsemanekirche.
Für mich war diese spontane Demonstration ein Protestzug von Menschen, die das Land verändern wollten, die nicht an Ausreise dachten, sondern in der DDR radikale demokratische Reformen forderten. Es war ein Aufbegehren von Idealisten, die noch an die Reformbarkeit des Realsozialismus glaubten. Die daran anschließenden Tage bis Ende Oktober 1989 erlebte ich sehr intensiv. Da ich sehr nahe an der Gethsemanekirche in Berlin-Prenzlauer Berg wohnte, war ich täglich dort. Denn es hatten sich unter diesem Dach Protestierende versammelt, die die Forderungen der Straße mittels Diskussionen und Ansprachen in die Kirche hineintrugen.
Am 1. November 1989 war für mich dann zunächst schlagartig Schluss mit diesen intensiven Auseinandersetzungen und Protesten für eine neue DDR. Denn ich wurde zum Grundwehrdienst der Nationalen Volksarmee (NVA) eingezogen. Da ich 1991 anfangen wollte, Wirtschaftsinformatik zu studieren, musste ich zuvor den Grundwehrdienst ableisten. Bei der NVA war ich bis März 1990; auch dort gab es Proteste. So demonstrierten wir etwa für die Einführung des Zivildienstes, der dann tatsächlich Ende 1989 etabliert wurde. Und so stellte ich einen entsprechenden Antrag und wurde daraufhin im Frühjahr 1990 von der Armee entlassen.
Nach dieser Entlassung erlebte ich erneut sehr intensive Zeiten. Denn die ersten Jahre nach der Maueröffnung, insbesondere die Jahre 1990 bis 1996 waren für mich eine Periode meines Lebens, in der sich die politischen Transformationen in der Gesellschaft mit persönlichen Entwicklungen sehr eng verbanden. Mein Leben veränderte sich radikal: Ich begann, in neuer Weise zu denken, zu fühlen und zu handeln. Ein Ergebnis dieses Wandels war das Aufblühen systemisch-konstruktivistischer Positionen in mir.
Noch bis in die beginnenden 90er Jahre hinein kämpften in mir die Ruinen der DDR-Indoktrinationen mit neuen sich immer deutlicher abformenden Denkbewegungen, zu denen auch jene der Systemtheorie und des Konstruktivismus gehörten. Aus heutiger Sicht ist es erschreckend für mich zu konstatieren, wie stark die DDR-Ideologie des Marxismus-Leninismus mich beeinflusste. Zwar kam ich etwa um 1986 zu dem Schluss, dass der Realsozialismus der DDR kein „richtiger“ Sozialismus sei, dass aber die Idee einer solchen Gesellschaftsordnung grundsätzlich richtig sein müsste. Daher begrüßte ich die friedliche Revolution mit aller Intensität, war mit auf den Straßen, aber hoffte, dass nun die Stunde gekommen sei, um den „wahren“ Sozialismus aufbauen zu können. Umso enttäuschter war ich, dass nach der Maueröffnung am 9. November 1989 die gesellschaftshistorische Bewegung schnurstracks in Richtung Wiedervereinigung führte. Erst allmählich begriff ich, dass die DDR eine so künstliche Konstruktion war, dass kein Argument es vermocht hätte, deren Bestehen massenwirksam rechtfertigen zu können.
Welche Wirkungen jedoch dieser Staat, der das bessere Deutschland hatte sein wollen, in den Köpfen von uns Menschen hinterlassen hat, kann ich erst aus der zeitlichen Distanz differenzierter betrachten. Die DDR-Ideologie hatte religiöse Züge. Wir wurden als Kinder und Jugendliche im Sinne dieser Quasi-Religion erzogen. Von klein auf wurden wir mit Ritualen und sich wiederholenden Phrasen eingesponnen in ein Netz von ideologischen Mustern, das uns einfing und hielt. Die Befreiung daraus war nicht einfach. Möglicherweise ist diese Emanzipation tatsächlich vergleichbar mit jener von Menschen, welche sich aus ihren religiösen Glaubenssystemen emanzipieren. Marxens Feststellung, dass die Religion Opium für das Volk sei, nutzten die Realsozialisten – intendiert oder nicht – wohl auch dafür, ihre Ideologie als Religion zu inszenieren, damit das Volk eingelullt wird und nicht merkt, auf welchen künstlichen, instabilen sowie die Freiheit und Selbstentfaltung der Menschen niederhaltenden Füßen der Sozialismus steht.
Während ich dies schreibe, merke ich, welch Wohlklang das Wort „Sozialismus“ in meinem Inneren immer noch auslöst. Es ist ein Begriff, der das Attribut „sozial“ mit einer gesteigerten Substantivierung zu verstärken scheint. Und wer möchte das nicht: das Soziale intensivieren, also die Kommunikation, die gegenseitige Bezogenheit der Menschen, deren Solidarität und Beziehungen zueinander? Das Fatale ist nur, dass diejenigen, die dies ausgehend von ihrer sozialistischen Ideologie versucht haben, das Gegenteil dessen bewirkt haben: die Ausweitung von Knechtschaft durch unterdrückende Sozialverhältnisse.
Für mich ist eines der großen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts, dass scheinbar wohlklingende Intentionen des Geistes in der sozialen Realität in ihr krasses Gegenteil umschlagen können und dass das nicht heißt, dass diese Intentionen nur falsch umgesetzt wurden, sondern dass sie „an sich“ und grundsätzlich falsch sind. Freilich konnten wir dies bereits seit Mitte der 1940er Jahre wissen. Denn Karl Popper (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde), Friedrich August von Hayek (Der Weg zur Knechtschaft) sowie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (Dialektik der Aufklärung) haben ähnliches formuliert.
Letztlich sind nicht die „guten“ Intentionen entscheidend, sondern die Wirkungen und Effekte des Handelns, das aus diesen Intentionen entspringt. Wer – wie die meisten Sozialisten – glaubt zu wissen, was die Menschen wollen oder brauchen, dem begegne ich angesichts meiner DDR-Erfahrung mit großer Skepsis. Daher spricht mir Niklas Luhmann aus der Seele, wenn er in Archimedes und wir (Berlin, 1987, S. 29) schreibt: „Zu wissen, wo es lang geht, zu wissen, was der Fall ist, und damit die Ansicht zu verbinden, man habe einen Zugang zur Realität und andere müßten dann folgen oder zuhören oder Autorität akzeptieren, das ist eine veraltete Mentalität, die in unserer Gesellschaft einfach nicht mehr adäquat ist.“ Wenn es also eine Lehre gibt, die ich aus den 20 Jahren meines DDR-Lebens mitnehme, dann diese: dass „man […] die Freiheit dadurch [erreicht], dass man nicht ‚folgsam‘ ist“, wie Frithjof Bergmann (Die Freiheit leben, Freiburg, 2005, S. 10) das formuliert. Den Weg zur Freiheit kann jede/r nur selbst gehen, „und zwar auf ureigene, selbst gefundene und nicht vorgeschriebene Art“ (ebd.).
man muss sich nicht wundern, 12 Jahre Faschismus, dann 40 Jahre stalinismus deutscher Prägung. Das macht mehr als 50 jahren. Dann sind viele darunter auch kritische Menschen geflohen, abgewandert. Dann die Katastrophe mit der NSU. Danach Pegida und nun Halle. Natürlich hat man ein mulmiges Gefühl. Kein wunder. Es braucht jahre, bis sich eine neue Kultur etabiliert. Wir müssen daran arbeiten und hoffen.
Ja, das sehe ich genauso! Die Kontinuität der Diktatur, der rechte und der linke „Sozialismus“ haben ihre extremen Spuren hinterlassen: in den äußeren und inneren Beziehungen der Menschen. Ich setze auf die Kinder und Jugendlichen, die bestenfalls in toleranten und pluralen, in radikal liberalen Kulturen aufwachsen und die statt Ausgrenzung und Abspaltung Integration betreiben.