Corina Ahlers, Wien: Integration auf Augenhöhe: Ein konstruiertes Geflüster im gegenseitigen Beziehungsprozess
Im Herbst 2015 beschlossen mein Mann und ich, Flüchtlinge bei uns aufzunehmen. Wir wollten uns, wie viele unserer Freunde – engagieren. Unser Haus war groß genug und ein Zimmer mit eigener Küche und Bad von unserem Teil perfekt abtrennbar. Es gab einen eigenen Eingang, gemeinsam würden wir die Waschküche und Teile des Gartens benutzen. Wir wollten helfen und deshalb Eltern mit Kind oder zwei junge Männer bei uns aufnehmen.
Nach einem längeren Prozess des Wartens im Kommunikationschaos zwischen Behörden, Privatinitiativen und kirchlichen Einrichtungen, die sich rivalisierend gegenseitig torpedierten, entschieden wir uns, dem Rat eines syrischen Bekannten folgend, zwei Männer bei uns aufzunehmen. Über Ecken kannte Aladin Nakshbandi einen von ihnen, und er meinte, dass dieser vertrauenswürdig sei. Das war ihm wichtig: Es gäbe diese und jene, aber er wolle uns Jemand vermitteln, der gut zu uns passe. Tarek und Can (Pseudonyme) zogen im Oktober bei uns ein. Tarek war Aladins Bekanntschaft und Can konnte etwas Englisch.
Der Anfang:
Wir genossen alle zusammen die euphorische Atmosphäre. Wir teilten mit ihnen das neue Gefühl der Geborgenheit, das gute syrische Essen, den Austausch über Musik, das Erklären unseres Lebensstils, den Wald, den Hund. Wir ließen uns aufeinander ein und begegneten uns. Wir halfen ihnen bei ihren Behördenwegen, bei der Bank, der Versicherung, etc., und wir wollten ihnen so früh wie möglich Deutschkurse organisieren. Manches davon gelang, anderes nicht. Wir waren alle überfordert von den verschiedenen Informationen zu den behördlichen Zuständigkeiten.
Zufall oder Strategie
Nach zwei Wochen des Zusammenseins stellte sich heraus, dass Tarek per Whatsapp eine Frau auf der Balkanroute begleitete. Bisher wussten wir, dass seine Erstfamilie im Flüchtlingslager auf seinen Asylbescheid warte und dann nachkommen wolle. Nun lernten wir einen zweiten Teil seines Lebens kennen: Im Flüchtlingslager habe er eine junge Witwe nach islamischen Recht geheiratet. Sie sei mit der kleinen Tochter auf dem Weg nach Wien. Tarek machte ständig Photos von unserem Hund und schickte sie per Whatsapp an Mutter und Tochter, sozusagen als Vorbereitung auf ihre Ankunft. Wissend, dass Hunde in der arabischen Kultur ekelerregend und Angst einflössend dargestellt werden, rechnete er offensichtlich fix damit, dass die beiden bei uns aufgenommen würden.
Unser erstes Dilemma
Can ist ein junger Mann. Er wurde von Tarek mitgenommen, weil er Englisch kann. Das war eine unserer Bedingungen für die Aufnahme bei uns gewesen. Nun hatten wir die Aussicht auf zwei Männer und eine Frau mit Kind, die Zweitfrau von Tarek. Das war nicht vereinbart gewesen. Can erklärte sich sofort bereit, uns zu verlassen, was wir nicht zuließen. Wir hatten ihn ins Herz geschlossen und wir brauchten sein Englisch. Wir fanden ein Zimmer für ihn. Er blieb noch ein halbes Jahr bei uns. Samira und Leyla erreichten unser Heim, und wieder herrschte eine Woche lang euphorische Stimmung bei uns. Aber dann veränderte sich etwas. Zwischen Can und der neuen Familie gab es Irritationen, die wir nicht verstanden. Seine Englischkenntnisse halfen uns wenig, da sich nun ein Prozess des gegenseitigen Ausweichens und Ignorierens einstellte, der uns erst später bewusst wurde. Can durfte Bad und Küche nicht benutzen, er wurde ausgesperrt. Niemand erzählte uns das.
Inzwischen habe ich verstanden: Ein junger Mann, so in der Nähe der jungen Zweitfrau eines älteren Mannes, das war keine gute Idee. Gleichzeitig fanden wir es in unserem Wertesystem unfair, wie das zwischen ihnen ablief. Wir erwarteten Solidarität und Bezogenheit. Stattdessen gab es Eifersucht aufeinander und als Reaktion das gegenseitige Ignorieren. Tochter Leyla brachte Can das von Samira vorbereitete Essen ins Zimmer und Can verhöhnte ihrer aller geringen Deutschkenntnisse. Dagegen wurde unsere Beziehung zu Can gerade durch seine Motivation, Deutsch zu lernen, gestärkt. Länger wussten wir nicht, wie wir uns verhalten sollten und schließlich entschieden wir uns, Can bei der Suche eines Zimmers zu begleiten, auch deshalb, weil er bei uns zunehmend vereinsamte.
Can ist zu einem syrischen Freund gezogen. Heute überlegt er, ob er nach Syrien zurück geht.
Eine lange Zeit
Tarek, Samira und die damals fünfjährige Leyla blieben zwei Jahre bei uns. Wir gingen miteinander durch Höhen und Tiefen des Flüchtlingsdaseins, der Behördenwege, der besuchten und unbesuchten Deutschkurse, der alltäglichen Missverständnisse, gegenseitiger Hilfe, Störungen, Irritationen und kulturellen Herausforderungen.
Vor einem Monat sind sie ausgezogen. Tarek hat die Sprache nicht gelernt. Er ist jetzt zuckerkrank, und seine Erstfrau ist mit seinen fünf Kindern nachgekommen. Sie ist Dialysepatientin und zweimal die Woche im Spital. Samiras Tochter Leyla ist in der ersten Volksschule, ihre Deutschkenntnisse sind trotz Kindergarten und Vorschulbesuch noch immer gering. Samira hat am meisten Deutsch gelernt. Sie hat A1++ Niveau und schafft es, sich im Alltag auf niedrigem Niveau zu verständigen. Sie kann sich also durchschlagen.
Warum erwähne ich das ‚Deutschlernen’ so stark? Es ist mir in den zwei Jahren klar geworden, dass Sprache das einzige Medium ist, um über die erste kulturelle Begegnung hinaus in ein Verständnis des Fremden zu kommen, welches auch unsere Neugierde weiter schürt. Begegnung war zwischen uns immer möglich, über Humor, gemeinsames Lachen, Gartenpflege, Saubermachen, Essen und Teetrinken. Jedoch: Will man über das Alltagsgeschehen hinaus ein tieferes Miteinander ermöglichen, dann wird Sprache zunehmend wichtiger. In unserem Fall wussten wir nie, was sie verstanden oder nicht verstehen wollten, bzw. was sie uns erzählen oder verschweigen wollten. Die Neugierde bei uns wich der Resignation.
Schwieriger Zeitgeist
Unmengen an Büchern zur Flüchtlingsthematik kommen gerade jetzt auf den Markt. Das Thema ist allgegenwärtig. Der 2017 in Cannes preisgekrönte schwedische Film von Ruben Östlund ‚The Square’ führt uns vor Augen, wie schwierig es ist, intellektuell abgeklärte Bürger mit dem Fremden zu befassen. Wie können sie helfen und hilfreich sein? Kann der Prozess gleichzeitig für beide hilfreich sein? Und wie bleibt man auf Augenhöhe? Im Film führt die schiere Angst und die Ratlosigkeit gegenüber Unbekanntem den Protagonisten, Kurator eines Museums, in komische Situationslagen. Während der 140 Minuten Kinodebüt ist einem zum Lachen, aber auch zum Weinen zumute. Am Burgtheater in Wien wird ein adaptierter Film von Simon Verhoeven und Angelika Hager auf die Bühne gebracht: Willkommen bei den Hartmanns. Es geht um eine reiche Familie, die einen nigerianischen Flüchtling aufnimmt. Eine verrückte Refugee-Welcome-Geschichte.
Deutlich wird, wie sehr das Thema in diesen Breitengraden Europas an Bedeutung gewinnt, möglicherweise aber auch wieder verliert. Die Diskussion und das Engagement um globalisierte Migration und Flucht könnte auch ein vorübergehendes mediales Ereignis sein. Mit den zunehmenden populistischen Parolen der Politik weltweit scheint sich das Thema selbst lahm zu legen. Wir wissen nicht, wie der Integrationsprozess 2018 weitergehen wird: In diversen Regierungen und in den Köpfen der Menschen.
Im Alltag mit den syrischen Gästen ist man persönlich gefordert. Der subjektive Zugang in der Begegnung bringt die tiefe Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen der Betrachtung mit sich. Ein Beispiel folgt.
Kulturzentrismus, Position und Konstruktion zum Konzept der ‚Zweitfrau’
Ich bin eine unabhängige und stark professionsorientierte westliche Frau. Ich habe mittlerweile erwachsene Kinder. Ich war gerne Mutter, aber der Beruf war und ist mir ebenso wichtig. Meine stärkste Herausforderung war die Begegnung mit Samira als Zweitfrau von Tarek. Obwohl ich wusste, dass es seine Form war, die junge Witwe zu unterstützen, indem er Verantwortung für sie und das Kind übernahm, wurde gleichzeitig transparent, in welchen Widerspruch er sich mit ihr hier in Österreich brachte: Sie wurde als Alleinerziehende unterstützt, war 2/3 der Woche mit der Tochter alleine bei uns. In dieser Zeit fühlten wir uns für Samira und Leyla verantwortlich. Für jeden Arztbesuch und Behördenweg wartete Samira jedoch auf Tarek, und dass, obwohl er Null Sprachkenntnisse hatte. Es war für uns nicht möglich, ihr einen Deutschkurs zu organisieren, solange er es nicht erlaubte. Er organisierte Netzwerke für sich und für sie in der Parallelwelt der syrischen Gemeinschaft und beide überhörten beflissen unsere Informationen zu bestimmten Sachlagen vor Ort. Im Außen zwei getrennte Asylberechtigte, ist er gleichzeitig ihr Ehemann. Seitdem seine Erstfamilie in Wien wohnte, kam er auf Besuch, in meiner Wahrnehmung vor allem, um sich von den Strapazen der Erstfamilie zu erholen. Seine Erstfrau hasste die Zweitfrau, seitdem er sie nach Wien gebracht hatte. Sie fühlte sich entwürdigt dadurch, dass er die Zweitfrau zuerst brachte, so wurde es uns erzählt. Die Frauen und die Kinder durften sich nicht sehen. Alleine den Mann, der hin und her wechselte. Wer hatte da welche Verantwortung für wen unter welchem diskursiven Auftrag welcher Behörde und mit welcher finanziellen Unterstützung? Ich fragte mich, ob Samira ihm wohl Geld von ihrer Mindestsicherung gäbe? Ich würde es nie erfahren. Ihre Welt in meiner Welt, ein fremder Planet in meinem kulturellen Horizont.
Ich arbeitete täglich selbstreflexiv an der Transformation meiner inneren Konstrukte, mein Mann und ich hatten viele Diskussionen darüber. Die Rolle meines Mannes war die des wohlwollenden Patriarchen, bewundert und respektiert. Ich war die Organisatorin des Gesamthaushaltes, und Tarek nannte mich gerne seine ‚große Schwester’.
In den zwei Jahren habe ich mich in Bescheidenheit geübt und viel über die Widersprüche in mir und meiner Öffnung zum Fremden erfahren. Heute sehe ich den Möglichkeitsraum als Mischung zwischen behutsamer Neugierde und Konfrontation mit der Differenz. Ich bin verändert worden, und gleichzeitig stelle ich mir die Frage: Wo schlägt die Hilfe um in Paternalismus und wird dann zur Hängematte statt zur Förderung motivierter Integration? Wie entsteht Hilfe zur Selbstständigkeit? Wie kultur-de-zentriert können wir sein? Gibt es strukturell Möglichkeiten auf ein partnerschaftliches Miteinander?
Meine vorläufige Antwort ist derzeit ein neues Projekt, diesmal an meinem systemischen Ausbildungsinstitut: Studierende der systemischen Psychotherapie begegnen der syrischen Gemeinschaft im ‚Kulturdialog’ bei geplanten videoaufgezeichneten Workshops zu spezifischen Alltagsthemen. Beide Kulturen arbeiten anschließend selbstreflexiv an den inneren Konstruktionen über das Fremde. Mehr davon könnt ihr nächstes Jahr erfahren, wenn das Projekt beendet ist. Wir planen auch ein Buch dazu.
Vorbote: Meine Selbstreflexion zum Thema Integration
Die forschende Selbstreflexion in der Zeit mit meinen syrischen Gästen habe ich im Laufe der Jahre 2016-2017, von Mary Gergen dazu ermuntert, auf Englisch geschrieben. Damals war es das Thema Nummer 1 überall auf der Welt. Ich wollte so viele Leser_innen wie möglich daran teilhaben lassen, weil ich es selbst so spannend fand. Mich hat es bereichert, und ich bin ein bisschen weiser geworden. Es wurde daraus ein selbstreflexiver Roman über die Gedanken einer systemischen Therapeutin und Ausbildnerin in der Auseinandersetzung mit der Fremdheit ihrer arabischen Gäste. Ein Text über die Transformationen ihrer inneren Konstrukte und die Begegnung im ‚anders sein’ als autoethnografischer Prozess.
2018 wird der Text im Taos Institut als Download Manuskript für das Englisch lesende Publikum veröffentlicht . Im Systemmagazin wird er Anfang des Jahres ebenfalls erscheinen.
Liebe Corina,
danke für deinen gleichzeitig ehrlichen, berührenden und erhellenden Beitrag. Ich finde es angenehm, dass hier so viel beobachtet und so wenig bewertet und Position bezogen wird. Das möchte ich auch lernen: mich weniger auf etwas festlegen als mich darin bewegen und bewegen lassen.
Bin schon neugierig auf das Projekt in der ÖAS
Sabine
Liebe Corina, in Deinem Beitrag wird deutlich in welchem Spannungsfeld wir uns befinden. Einerseits nehmt Ihr als zugewandte und wissende Familie geflüchtete Menschen auf und kommt dann andererseits an gemeinsame Grenzen, die noch lange nicht überschritten sind.
Ich war ganz berührt von Deiner Ehrlichkeit dies zu beschreiben.
Liebe Grüße Dörte Foertsch