Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin,
heute öffnen Sie das letzte Türchen dieses Adventskalender – und ich freue mich sehr, dass es auch dieses Mal wieder haargenau hingekommen ist. Für mich war das wie in den letzten Jahren ein spannender Prozess, denn bis zuletzt wusste ich nicht, ob der Kalender voll wird oder nicht. Ich bedanke mich daher an dieser Stelle bei allen Kolleginnen und Kollegen, Leserinnen und Leser und bei den Freunden, die mit ihren Überlegungen zum Thema Fremdheit und Vertrautheit diesen Kalender gefüllt haben.
Beim Lesen der Beiträge wurde mir die Spannweite des Themas deutlich – Vertrautheit und Fremdheit manifestieren sich in den unterschiedlichsten Kontexten, von der intimen Nahbeziehung zur LebenspartnerIn bis hin zur Begegnung mit fremden Kulturen ohne direkte sprachliche Verständigungsmöglichkeiten. Es wurde deutlich, dass auch in der Fremde Erfahrungen gemacht werden, die Vertrautheit stiften, und in der Beziehungsnähe unvermittelt Fremdheit auftauchen kann. Nicht zuletzt stoße ich ja in der Selbstbeziehung immer wieder auf Dinge, die mir an mir selbst fremd erscheinen können. Um etwas als vertraut erleben zu können, braucht es eine Erfahrung von Fremdheit. Dies gilt von allem Anfang an. Und es braucht unabdingbar Zeit, um das Eine in das Andere zu verwandeln. In seinem wunderbaren Buch „Das Rätsel Ödipus“ schreibt Norbert Bischof: „Für Vertrautheit gilt immer ein logisches Aposteriori – niemand kann mir vertraut sein, dem ich zum ersten Male begegne, und für jede Begegnung gibt es ein erstes Mal. Das gilt sogar für die Begegnung mit der eigenen Mutter. Vertrautheit geht somit notwendig aus Fremdheit hervor.“ Sobald diese Form der primären Vertrautheit einmal etabliert ist, entwickeln wir umgekehrt ein Wissen von dem, was uns fremd ist, nur in Abgrenzung zum Vertrauten. Die Unterscheidung von Fremd und Vertraut macht deutlich, dass beide Begriffe nur aufeinander bezogen Sinn ergeben.
Für Vertrautheit aber braucht es Zeit, denn neben der Notwendigkeit von Nähe und Wohlwollen erfordert sie Gewohnheit. Die Trias von Wohlwollen, Nähe und Gewohnheit taucht auch im Motiv des Dialogs zwischen dem kleinen Prinzen und dem Fuchs auf, das in diesem Kalender zweimal aufgegriffen wurde. „»Bitte … zähme mich!«, sagte [der Fuchs]. »Das würde ich gern tun«, antwortete der kleine Prinz, »aber ich habe nicht viel Zeit. Ich muss Freunde finden und viele Dinge lernen.« »Man versteht nur die Dinge, die man zähmt«, sagte der Fuchs. »Die Menschen haben keine Zeit mehr, um etwas kennen zu lernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Da es aber keine Läden für Freunde gibt, haben die Menschen keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, dann zähme mich!« »Was muss ich machen?«, sagte der kleine Prinz. »Du musst sehr geduldig sein«, antwortete der Fuchs. »Du wirst dich zunächst mit einem kleinen Abstand zu mir in das Gras setzen. Ich werde dich aus den Augenwinkeln aus anschauen und du wirst schweigen. Sprache ist eine große Quelle für Missverständnisse. Aber jeden Tag setzt du dich ein wenig näher …«“
Ohne Vertrautheit keine Bindung und keine Freundschaft. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Ohne Fremdheit nämlich auch kein Interesse und keine Neugier. „Familiarity breeds contempt“, sagt ein englisches Sprichwort, „Vertrautheit gebiert Verachtung“. Zumindest führt allzu große Vertrautheit geradewegs in die Langeweile, wovon wir als PaartherapeutInnen ein Lied singen können. Jede Form der Veränderung, ganz gleich, ob es sich um Lernprozesse in Krabbelstube, Kindergarten, (Hoch-)Schule, Ausbildung oder um Veränderungsprozesse im Kontext von Beratung und Therapie usw. handelt, erfordert die Neugier auf das Fremde und die Bereitschaft, sich das Vertraute fremd zu machen. Diese Balance von Vertrautheit und Fremdheit, von Sicherheit und Erregung, macht das Thema dieses Adventskalenders aus meiner Sicht so spannend – und alle Geschichten lösen in uns Erinnerungen an oder Phantasien in Bezug auf eigene Erfahrungen und Vorstellungen aus.
Als ängstliches Kind fürchtete ich mich vor allem Fremden, was mich nicht daran hinderte, genau das gleichzeitig in Büchern zu suchen – was zu ständigen Konflikten mit den Bibliothekarinnen der Stadtbücherei führte, die mich weiter in die Kinderabteilung verbannen wollten. Kein Wunder, dass ich dann in einem Zweitstudium Ethnologie studiert habe. Ich erinnere mich noch gut an die Aufregung und das Herzklopfen, das ich verspürte, als ich mich in der Türkei, in Ägypten oder im Sudan auf Einladungen in Gegenden und Häuser eingelassen habe, aus denen ich alleine kaum wieder herausgefunden hätte, von Menschen, mit denen ich mich nur rudimentär verständigen konnte – was ich aber fand, war Gastfreundschaft und Interesse. Ich verstand allmählich, dass nicht das Fremde der Anderen mich lähmte und einschränkte, sondern meine Angst. Das galt übrigens anfangs auch für meine therapeutischen Gehversuche in den unterschiedlichsten Settings, vor allem für die aufsuchende Arbeit im Kinderschutz-Kontext, in der Arbeit mit Gewalttätern in Gefängnissen und forensischen Kliniken, aber auch für die Arbeit mit Menschen, deren Probleme sich von den meinen nicht so großartig unterschieden.
Das Vertraute im Fremden zu suchen und das Fremde im Vertrauten habe ich mir seitdem versucht, zur Maxime zu machen, denn nur, wenn es uns gelingt, Interesse bei uns selbst im Umgang mit Fremdheit zu entwickeln, sind wir auch in der Lage, bei unserem Gegenüber – wem auch immer – Interesse zu wecken. Das Drama unserer heutigen Zeit liegt darin, dass das Thema Fremdheit mit dem emotionalen Register der Angst verkoppelt ist anstatt mit dem des Interesses. Angst ist ausbeutbar – und die Stakeholder der Angstindustrie sind bekannt.
Ich wünsche daher Ihnen und Euch allen guten Mut, das Interesse am Fremden nicht zu verlieren, sondern weiter zu kultivieren – Angst ist nicht nur ein Antagonist von Interesse, sondern auch von Zivilisation.
In diesem Sinne wünsche ich schöne Weihnachten und ein gutes, friedliches, gesundes, unbedingt interessantes – und auch fröhliches Neues Jahr!
Herzliche Grüße
Tom Levold
Herausgeber systemagazin
Lieber Tom, das war erneut ein schöner Adventskalender, Deine Idee das zu machen trägt immer noch, die Themen sind in jedem Jahr anregend und by the way einer der wenigen Gründe jeden Tag in die mails zu schauen, liebe Grüße Dörte
Lieber Herr Levold,
herzlichen Dank für die Mühe der Erstellung des sehr anregenden Adventskalenders- die Beiträge oft sehr persönlich und berührend.
Georg Kilian-Hütten
Lieber Tom, wir lesen Deinen wunderschönen Kommentar (Danke für Deine Initiative) an unserem ersten Tag in Namibia. Meine Güte, ist das alles fremd hier – sogar wir,- ähhh wir ganz besonders
Schöne Weihnachten Rita und Arist
Herzlichen Dank, das wünsche ich Dir/Euch/Ihnen allen auch!
Lieber Tom
Vielen Dank für diese gute Tradition und die viele Arbeit, die Du mit den Systemmagazin hast.
Schöne Weihnachten auch an alle Kolleginnen und Kollegen
Clemens Lücke