Sabine Klar, Wien: Ein Dialog zur systemischen Zukunft
Pessi: Die systemische Therapie der Zukunft wird Klient*innen mittels Übungen und diversen gezielten Interventionen behandeln, damit sie wieder funktionieren und ihre Aufgaben erfüllen. Dann sind alle zufrieden, die sich an ihren Eigenarten gestört haben.
Opti: Wenn sie wieder funktionieren, lässt man sie in Ruhe und gibt ihnen die Zuwendungen, die sie zum Leben brauchen. Außerdem leiden sie weniger, wenn sie sich kontextadäquat und damit sozial kompetent verhalten können. Etwas zu schaffen stärkt sie und richtet sie auf.
Pessi: Mag sein, aber es bestärkt sie auch in ihren Machbarkeits-, Leistungs- und Selbstoptimierungsideen, von denen sie ohnehin ständig angetrieben sind. Die werden von der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Umgebung gefördert. Auch therapeutische Techniken sind zunehmend davon geprägt – Fragen, Ideen und Anregungen werden als Übungen und Interventionen verkauft, man will wieder wissen, wo´s langgeht und diverse Tools bzw. Handwerkszeug für die Beseitigung von Störungen zur Verfügung haben.
Opti: Die Vermittlung der neugierigen, noch-nicht-genug wissenden Haltung reicht halt nicht aus, wenn man sich als Therapeutin orientieren und den Klientinnen helfen möchte, die ihre Symptome einfach schnell loswerden wollen. Vielleicht weil sie sich längere Reflexionsprozesse, was das alles mit ihnen und ihrem Leben zu tun hat, gar nicht leisten können.
Pessi: Der gesellschaftlichen Umgebung und der Politik scheint an längeren Reflexionsprozessen überhaupt nicht gelegen zu sein, im Gegenteil. Doch auch Therapeutinnen, die eigentlich Interesse haben sollten, ihre Klientinnen einfach mal als Menschen zu verstehen, sind schnell bereit, Klagen über schädliche Umgebungsbedingungen zu unterbrechen und stattdessen danach zu fragen, was das Individuum selbst tun kann, um mit einengenden oder schlechten Lebensbedingungen besser umgehen zu können.
Opti: Die Veränderung der Lebensumstände der Klientinnen ist halt für Therapeutinnen schwierig und vielleicht auch nicht unsere Aufgabe. Wir können nur mit denen arbeiten, die mit uns reden und sie zu Veränderungen anregen, die in ihrem Interesse sind. Was sollen wir denn anderes tun? Immerhin ist Psychotherapie einer der letzten Freiräume, wo Menschen noch gefragt werden, was sie selbst wollen.
Pessi: Sogar Kindertherapie wird immer häufiger im Einzelsetting angeboten, weil Geldgeber, Institutionen oder Eltern das so wollen. Ist ja auch praktisch – das Kind leidet unter der Umgebung, die Umgebung leidet unter dem Kind. Wer zahlt, setzt sich durch – also soll die Therapeutin dem Kind helfen, sich selbst zu verändern, damit sich die Umgebung nicht verändern muss, weil sie sich oft nicht verändern kann, weil die Umstände verlangen, dass sie so bleibt wie sie ist. Auf diese Weise wird Psychotherapie unter dem Titel: „Jeder ist seines Glückes Schmied“ zu einem Instrument des Neoliberalismus (Lit. s.u.).
Opti: Ja sicher – wir gehören als Berufsgruppe zu dieser Gesellschaft und ihren Angeboten, denn sonst würde sie uns gar keinen Raum geben und uns bezahlen. Auch du lebst doch recht gut davon, also beschwer dich nicht. Trotzdem haben wir als freier Beruf einen größeren Freiraum, den wir im Dienst an unseren Klient*innen nutzen können. Wir können ihnen dabei auch die eine oder andere Widerstandsoption eröffnen, wenn sie das wollen.
Pessi: Wir sollten jedenfalls vorsichtig bleiben, dass wir nicht vereinnahmt werden ohne es zu merken. Manchmal geschieht das schleichend über Jahre. In Österreich verändert sich in diesem Zusammenhang z.B. gerade der Schwerpunkt der Ausbildungen. Von Seiten des Gesetzgebers wird mehr Diagnostik eingefordert und damit im Zusammenhang auch ein gezielteres, an Effizienz und der Eliminierung von Störungen orientiertes therapeutisches Vorgehen.
Opti: Diagnostik ist etwas sehr Interessantes – man kann ihre Wirkungen ja dann mit einer neugierig, noch-nicht-genug-wissenden Haltung im Hinblick auf ihre Wirkungen reflektieren.
Pessi: Schon – aber wie wir wissen sind Ausbildungsstunden begrenzt. Verwendet man die Zeit für das eine, hat man keinen Raum für das andere. Außerdem ergibt sich durch den hohen Konkurrenzdruck, verbunden mit Einsparungen im Sozialbereich, auch unter Psychotherapeut_innen ein höherer Profilierungsdruck. Man will sich besser „verkaufen“, vermarktet also spezielle Techniken und transportiert damit ein eher behandlungsorientiertes Bild einer systemischen Psychotherapeutin. Die sich besser verkaufen, haben dann das Sagen – sie verändern auch die Rollenbilder und Therapievorstellungen in den Ausbildungen und damit bei der zukünftigen Therapeutinnengeneration.
Opti: Bist du vielleicht neidisch, weil du dich nicht so gut verkaufst? Vielleicht musst du dir ja mal ein besseres Selbstbild erarbeiten und eine wertschätzendere Haltung gegenüber deiner Umgebung einnehmen, damit du von ihr lernen kannst statt dich dauernd gegen sie zu wehren. Deine Beschwerden sind defizitorientiert und wirken wenig realitätsnah, sondern etwas naiv. Versuch doch mal eine positive Perspektive auf die Zukunft zu entwickeln und kleine Schritte zu setzen. Du bist nicht so ohnmächtig wie du glaubst – übernimm doch Verantwortung!
Pessi: Puh – wenn du so redest, spring ich dir gleich ins Gesicht. Diese Intervention ist gar nicht gut für mich. Wenn wir Zeit hätten, könnten wir uns darüber unterhalten, wie sie auf mich wirkt und welche Implikationen sie transportiert, die mir schaden. Ich nehme aber an, dass du mir diese Zeit nicht geben wirst, weil du gerade dabei bist, einen akademischen Titel zu erwerben und deshalb genug Stress hast.
Opti: Ich finde so vielleicht leichter eine Anstellung. Außerdem kann ich mich doch nicht ohne Titel in einem Feld behaupten, in dem alle anderen professionellen Beteiligten Titel haben. Die schauen dann ja auf mich herunter.
Pessi: Deshalb wird in Österreich ja auch vom Gesetzgeber her versucht, Psychotherapie als akademischen Beruf zu etablieren. Das hat Folgen, die wahrscheinlich erst in den nächsten Jahren sichtbar werden. Ausbildungsstunden, die dem gemeinsamen Nachdenken und dem Erwerb praktischer Erfahrungen dienen könnten, werden stattdessen Forschungsprojekten und dem Lesen von Fachliteratur gewidmet. Die Inhalte der Ausbildungen orientieren sich mehr an vorgegebenen Themen als am Lernprozess der Einzelnen.
Opti: Wir arbeiten nun mal nach wissenschaftlichen Kriterien. Was unterscheidet uns sonst von Schamaninnen, Seelenführerinnen und esoterischen Beraternnen? Die nehmen uns sonst nämlich auch die wenigen Klientinnen weg, die sich eine Psychotherapie noch leisten könnten.
Pessi: Das Problem ist, dass wir – weil wir vom Gesetzgeber her Forschung betreiben müssen, dies aber nicht so recht wollen oder können – vorrangig Pseudo-Wissenschaft betreiben werden, die wenig Erkenntniswert hat, Lehrende und Studierende aber trotzdem beschäftigt hält. Wir tun so als ob und verbraten damit die wertvolle Zeit in den Ausbildungen.
Opti: Das muss nicht immer der Fall sein – es gibt auch hochinteressante systemisch orientierte Forschungsprojekte, die einen hohen Erkenntniswert haben, gerade auch für die Studierenden.
Pessi: Gegen freiwillige Forschungstätigkeiten hätte ich ja gar nichts. Es ist der bürokratisch auferlegte Zwang zu einem gewissen Maß an Forschungstätigkeit, die hier Schaden anrichten wird, weil damit andere Beschäftigungen in der Ausbildung zu wenig Bedeutung bekommen. Es wird bei all diesem auferlegten Tun zu wenig Zeit bleiben für die Entwicklung der eigenen Reflexionsfähigkeit und für das Interesse an eigenartigen Menschen. Auch für die aus meiner Sicht immer wieder sinnvolle Frage, wie Fragen und therapeutische Interventionen auf die Klient*innen (auch emotional) wirken, bleibt dann wenig Raum.
Opti: Sag mir dein Schreckensbild, damit ich es dekonstruieren kann.
Pessi: Ich habe einen Menschen vor Augen, der unter schlimmen Umgebungsbedingungen und Schicksalsschlägen leidet und in seiner Verzweiflung und Wut verstanden werden möchte. Die systemische Psychotherapeutin der Zukunft sitzt in einer wohlwollend-wertschätzenden Haltung vor ihm und fragt ihn schnell und effizient mit geeigneten Tools danach, was er selbst dazu tun kann damit es ihm besser geht. Folgt er dieser Zumutung, wird er gelobt – da er Sehnsucht nach menschlicher Zuwendung hat, spielt er der freudig-erfolgreichen Therapeutin dann einen braven Klienten vor und macht Pseudo-Therapie. Wehrt er sich gegen diese Zumutung, wird er mit einer geeigneten Diagnose versehen und gilt bald als unbehandelbar, was im weiteren Verlauf dazu führt, dass er dafür bestraft wird, indem man ihm Ressourcen entzieht. Das wird die Therapeutin nicht daran hindern, eine Studie über „schwierige Klientinnen dieser Art“ in der Fachliteratur zu veröffentlichen.
Opti: Möge das nicht geschehen und mögen wir alle etwas dagegen tun – darauf vertraue ich. Schließlich sind wir Systemiker*innen!
Pessi: Schließlich sind wir Systemiker*innen – ja, das ist es eben.
Wenn Sie an Reflexionen zum Thema interessiert sind – hier finden Sie unter diversen Stichworten Unterlagen, die Ende des Jahres noch durch weitere ergänzt werden.
Außerdem zwei Buchempfehlungen:
Angelika Grubner: Die Macht der Psychotherapie im Neoliberalismus: Eine Streitschrift“. Mandelbaum 2017
Klar. S./ Trinkl, L. (Hrsg.): Diagnose Besonderheit. Systemische Psychotherapie an den Grenzen der Norm. Vandenhoeck & Ruprecht 2015; Rezensionen