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systemagazin Adventskalender: Die Schönheit ist ein Nachzügler – über den „gedehnten Blick“

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Lothar Eder, Mannheim: Die Schönheit ist ein Nachzügler – über den „gedehnten Blick“

Der Schriftsteller Wilhelm Genazino schrieb in einem Essay: „Wir alle sind trainiert im schnellen Anschauen von Bildern, weil wir anders mit der Bilderflut um uns herum nicht fertig werden können. Wenn wir dagegen ein Bild vor unseren Augen sozusagen anhalten und es über die vorab zugebilligte Zeit betrachten, kommt das zustande, was wir den gedehnten Blick nennen können“.

Man kann diesen Satz natürlich gut auf die Betrachtung eines Kunstwerkes anwenden. Wir sind heutzutage zugeschüttet mit Bildern, aber in der Regel leisten wir uns den von Genazino angeregten „gedehnten“ Blick nicht. Man kann ihn aber auch anwenden auf alltägliche Wahrnehmungen, z.B. eine Lichtspiegelung an der Wand oder die Wolken am Himmel. Sind diese Erscheinungen schön? Die Schönheit ist ein Nachzügler, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han – sie ist kein augenblicklicher Glanz, sondern ein stilles Nachleuchten. Der gedehnte Blick ist demnach keine spezielle Optik auf die Dinge, sondern eine Haltung, den Dingen zu begegnen und sie zu sehen. Er macht aus Vertrautem Fremdes. Die gedehnte Zeit öffnet einen Raum, in dem vorab Vertrautes und Gewohntes neu und damit fremd erscheint.

Das Foto in der Abbildung stellt in der flüchtigen Betrachtung drei Dreiecke dar, die im Nebeneinander als Fallbewegung erscheinen. Die genauere Betrachtung zeigt in den hellen Flächen ein Raufasertapetenmuster, die Dreiecke stellen sich als nichtmaterielle Gebilde heraus, ihre Gestalt und Reihung simulieren ein Fallen. Der gedehnte Blick befremdet also das Gewohnt-Vertraute, reichert den Eindruck an und führt zu einer Erweiterung, einer Paradoxie oder einer Frage; z.B.: warum hat der Fotograf eine derartige Banalität aufgenommen? Oder auch, im günstigen Fall: was gefällt mir an dem Bild, was sehe ich jenseits dessen, was ich sehe? Oder aber ich achte nun viel besser auf Lichtspiegelungen und betrachte sie fasziniert – ihre Schönheit, ihre Dynamik, ihre Vergänglichkeit, und ich vergesse dabei für eine Weile mich und meine Sorgen.

Lothar Eder, WITTGENSTEIN-KADENZ (Die Welt ist alles was der Fall ist)
3 Fotografien als Fine Art Baryta Print (2014/16) © Lothar Eder

Wenn ich also länger als die im Wortlaut Genazinos „vorab zugebilligte“ Zeit auf etwas schaue, verändert es sich. Es zeigt Aspekte und Details, die mir im schnellen Blick nicht auffallen, und es erzeugt Resonanz. Der gedehnte Blick erlaubt den Phänomenen, in mir eine Wirkung zu erzeugen. Und er erlaubt mir, dem Betrachter, zu mir zu kommen. Es entsteht oder es kann zumindest eine innere Anreicherung entstehen. Dazu eignet sich ein Foto, ein Gemälde oder auch eine Lichtspiegelung an der Wand oder auf dem Wasser.

Hierin liegt eine Parallele von Kunstbetrachtung einerseits und Psychologie und Psychotherapie andererseits. Psychotherapie kann verstanden werden als Einladung, sich mit dem Fremden in mir vertraut zu machen. Im gedehnten Blick kann sich beispielsweise mit Hilfe der Teilearbeit (innere Familie, innere Teile, Egostates etc.) eine als niederdrückend erlebte Belastung als Dominanz des Antreibers in mir herausstellen; jemand also, der wie eine Person in mir mich kritisiert, meine Bemühungen herabwürdigt oder immer mehr von mir fordert, auch wenn ich bereits erschöpft bin. Der gedehnte Blick lässt einen Abstand entstehen zwischen diesem „Teil“ von mir und mir selbst. In diesem Freiraum kann deutlich werden, dass ich nicht dieser Teil „bin“, sondern dass ich vielmehr der Beobachter bin, derjenige, der diesen Teil (seine Botschaft, seine Stimme, deren Wortlaut etc.) wahrnimmt. Dadurch kann ich im besten Fall in Verhandlungen mit diesem inneren Anteil eintreten, er wird besser handhabbar und ich entdeckte womöglich zudem noch einen weiteren, fürsorglichen Anteil als Antagonisten zum Antreiber.

Irgendwo habe ich einmal den Satz „Sparen Sie sich das Geld für eine Psychoanalyse, schauen Sie in den Himmel“, gelesen. Der Satz stimmt sicherlich nicht in vollem Umfang, aber er hat etwas Wahres. Er fordert dazu auf, die vertraute Sicht-Weise aufzugeben und lange auf etwas zu schauen, was vollkommen banal und alltäglich ist. Dadurch wandelt sich nicht nur der Blick, sondern auch der innere Zustand. Das „Verweilen am Schönen“ (Gadamer) – und mit Schönheit ist nicht das vordergründig Schöne gemeint, sondern eher die „Anschauung“ generell – setzt die Distanz voraus. Dies gilt sowohl für die oben skizzierte innere Teilearbeit als auch für die Betrachtung von Wolken oder Kunst. Wenn ich mit der Nase direkt am Bild bin, kann ich nichts erkennen. Ich muss mich erst, vermittels des Abstandes, der Differenz, zum Fremden machen, um eine Wirkung zu ermöglichen. Beide, Abstand und gedehnte Zeit, ermöglichen dann das, was man eine Erfahrung nennen könnte. Gerade die Kunst ist es, die uns dazu einladen kann – „Das Wesen der Zeiterfahrung der Kunst ist, daß wir zu weilen lernen“ (Gadamer).

Die Ausstellung „Der gedehnte Blick“ (Fotografie und Malerei) ist noch bis zum 24. März 2017 in der Akademie im Park in Wiesloch bei Heidelberg zu sehen (www.akademie-im-park.de). Weitere Fotos von Lothar Eder sind hier zu sehen…

2 Kommentare

  1. Wolfgang Loth sagt:

    Lieber Lothar,
    ich habe mir Deine „Wittgenstein-Kadenz“ nun mehrfach angeschaut und bin stets aufs Neue angezogen davon. Deine Überlegungen zum „gedehnten Blick“ sind sehr anregend. Bis hin zu, dass ich bei dem Gedanken ankam, ob „sich etwas anschauen“ das gleiche ist wie „etwas anschauen“. Ich vermute, man sagt eher „ich schaue mir etwas an“ als „ich schaue etwas an“. „Anschauung“ wäre dann so etwas wie Selbst-Erfahrung, sich selbst erfahren im Anschauen von „etwas“. Und dann würde ein „gedehnter“ Blick eben auch bedeuten, dass man es länger aushält mit sich im Erfahren von etwas. Und dann müsste die Welt als das, was „der Fall ist“, vielleicht auch nicht unbedingt als etwas „Fallendes“ erscheinen, sondern könnte, wenn der Blick lange genug mitgeht, das heißt vielleicht bis zum nächsten Tag und wenn dann die Sonne immer noch scheint, dann könnte der mitgehenden Blick vielleicht auch erfassen, dass es nicht unbedingt weiter herunter gegangen ist, sondern zwischenzeitlich auch wieder „oben“ war, von wo es wieder nach unten geht, ein kurvenreiches Leben, sozusagen. Der gedehnte Blick dann als ein Kürzel für compassion, Mitgehen. Und so brachte mir Deine „Wittgenstein-Kadenz“ viele Assoziationen, vom Höhlengleichnis bis zur „erweiterten Denkungsart“. Gratulation zur Wieslocher Ausstellung, das klingt sehr spannend!
    Herzlichen Gruß
    Wolfgang

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