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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender 2024 – 16. Timm Richter

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Praktiziertes Paradoxie-Management

Fehlende Zuversicht, das war es, was mich im Einladungstext von Tom Levold besonders angesprochen hat. Das Gefühl kenne ich. Muss man sich jetzt Gedanken machen, wie man Zuversicht erzeugen kann, im Zweifel sogar »Fake it until you make it«, da ja das Gegenteil Resignation bedeuten würde, und das kann es, nein darf es doch nicht sein! Wobei: mir scheint gerade die Systemtheorie auf sehr schlüssige Weise zu zeigen, dass die Gesellschaft fast unausweichlich auf Katastrophen zusteuert. Wie anders sollte man z.B. Fritz B. Simons Bücher »Anleitung zum Populismus« oder »Die kommenden Diktaturen« lesen als das Aufzeigen, wie sich die Gesellschaft mit Ansage in ihr eigenes Unglück stürzt? Der Hinweis von ihm auf eine paradoxe Intervention durch das Aufzeigen eines Worst Case, mit der die Gesellschaft wachgerüttelt werden soll, überzeugt mich nicht, ich denke bei mir: er hat leider recht. Erst wenn es richtig knallt, wenn die gesellschaftlichen Verwerfungen noch schlimmer, die Klimaschäden noch spürbarer werden, erst dann wird die Gesellschaft reagieren, aber dann ist es schon ziemlich spät. Wobei ich es bemerkenswert finde, wie konsequent Fritz B. Simon trotz meiner vermuteten Unausweichlichkeit in Social Media fortfährt, in Bezug auf Klimakatastrophe und Demokratiegefährdung Stellung zu beziehen. Wie passt das zusammen?

Von der Systemtheorie kann man lernen, dass Gesellschaft und Psychen unterschiedliche Systeme sind, die andere Zeithorizonte haben. Nur weil ich etwas zu wissen glaube, was mir offensichtlich erscheint, heißt das noch lange nicht, dass die Gesellschaft das genauso erkennt oder so schnell und angemessen darauf reagieren kann, wie ich es mir wünsche. Wenn wir historisch etwas herauszoomen, stellen wir fest, dass sich die Gesellschaft in den letzten 200 Jahren im Vergleich zu den 300.000 Jahren davor extrem verändert hat – aber möglicherweise nicht schnell genug, um den selbsterzeugten Schaden durch die Klimakatastrophe deutlich zu begrenzen. Und vielleicht kann eine Gesellschaft nach 80 Jahren Frieden in Deutschland auch erst dann erkennen, welchen Wert Demokratie hat, wenn sie die Alternative wieder richtig kennengelernt hat? Man mag es mögen oder nicht, aber mir scheint, dass die Gesellschaft in längeren Zyklen als Individuen lernt und Impulse auf gesellschaftlicher Ebene nur dann spürbar werden, wenn sie für viele kaum noch erträglich erscheinen. Wie kann man es vor solch einem Hintergrund mit Zuversicht halten, wie kann man in solch einer Situationen handeln, wie wäre – wenn überhaupt – ein gutes Leben im schlechten möglich? Oder anders formuliert: „Was tun?“

Diese Frage taucht auch im Titel eines schmalen Büchleins auf, in dem Interviews mit Niklas Luhmann gesammelt sind. Die Interviews strahlen zwar weder Trost noch Zuversicht im engeren Sinne aus, aber es gelingt ihnen gleichwohl, mit lakonischer Distanz und intellektueller Schärfe bei mir Spielfreude zu wecken.

Im Vorwort wird Luhmann aus einem Interview des Jahres 1994 dahingehend zitiert, dass es nicht um die Vermeidung von Katastrophen geht, sondern um die Frage, wie mit ihnen umzugehen ist, also um eine Reflexion auf der nächsthöheren Ebene. Seine Feststellungen sind 30 Jahre später (soviel zu Zeithorizonten der Gesellschaft) weiterhin sehr aktuell:

Ich nehme an, daß in vielen Bereichen, und zwar in der Ökonomie und in der Politik die Situation prekärer wird. Und das heißt auch: abhängiger von Zufällen. Von einem Zufall wie Gorbatschow, von einzelnen Personen. Oder von einzelnen Ereignissen wie Tschernobyl oder was immer [Anmerkung Timm Richter: Finanzkrise 2007, Trump, Corona, Ukraine Krieg mag man heute ergänzen]. Ich glaube, es gibt keine Entwicklungslogik, die Trends auszeichnet, sondern eher ein Überdrehen der Normalisierung von an sich unwahrscheinlichen Instabilitäten, die dann von Zufällen abhängen. Und zugleich hohe Kapazitäten des Ausgleichs. Also einen solchen Crash wie 1929 werden wir so nicht wieder haben. Aber dafür vielleicht ganz andere Formen. Eher würde ich meinen, daß das Unvorhersehbare vorauszusehen ist, und die Frage, wie man also Ressourcen des Abfangens von Katastrophen, wenn man das Katastrophen nennen will, wie man das behandelt, wie man das organisatorisch zur Verfügung stellen kann, ist eines der Probleme.

Um die Gesellschaft als Ganzes muss man sich dabei laut Luhmann keine Sorgen machen, denn auf die Frage, „ob denn die Menschheit mit dieser Instabilität zurechtkommen könne, kommentiert er lakonisch“:

Ja, was sollte sie denn sonst tun?

Die Ruhe möchte ich gerne haben: Es geht weiter, solange es weitergeht. Was im Interview dann folgt, sind Überlegungen, die vor allem auf politisches Handeln referenzieren, die dabei zugleich auch in anderen Bereichen für persönliches Handeln hilfreich sind (Stichwort: Lebensführung), zumindest zur Beantwortung der Frage, was man tun selbst könnte, um in der als katastrophal wahrgenommenen Situation einen Beitrag zu einem gewünschten Besseren zu leisten – und mehr als das kann man nicht tun, aber das ist nicht wenig.

Zunächst lädt Luhmann dazu ein, „Beschränkungen auf der anderen Seite [in Rechnung zu stellen]“. Es ist eben nicht damit getan, das Wünschenswerte zu benennen und die vermeintliche Dummheit der anderen, inklusive der Gesellschaft als Ganzes, zu beklagen. „Die größte Gefahr geht von denen aus, die es gut meinen.“ Interessanterweise lehnt Luhmann damit keineswegs Utopien ab. Er sagt sogar, dass „ein autonomes System seine eigene Negation in sich selbst einbeziehen [muss]. Politik muss deshalb eine Utopie haben“. Utopie ja, aber bitte nicht der Vorstellung verfallen, dass diese je auch nur annäherungsweise erreichbar wäre. Stattdessen schlägt er vor, sich auf kurzfristige, lösbare Probleme zu fokussieren. Also auf das, wo man eine Chance sieht, etwas bewegen zu können. Um dann mit „funktional-äquivalenten Problemformeln […] mehr Möglichkeiten ausfindig [zu machen]“. Und diese muss man anbieten und verkaufen können. Dieser Gedanke erinnert mich an den Hinweis von Armin Nassehi, dass sich neue Lösungen von Sachproblemen im Alltag bewähren müssen.

Luhmann plädiert anstatt für Zuversicht, die uns beruhigen würde, für „mehr Unsicherheit(en) und Paradoxien“, denn „die Zukunft nicht zu kennen führt [seiner Meinung nach], in ein Erziehungsprogramm umgedacht, zu einem Abbau von Ideologien, zu einer Art von debunking, einer Zerstörung behaupteter Sicherheiten.“ Damit erinnert er mich daran, dass trotz aller von mir oben ausgeführten vermeintlichen Alternativlosigkeit die Zukunft ungewiss ist und bleibt. Mit jeder noch so kleinen Entscheidung nehmen wir Einfluss und man kann nie wissen, wohin sich daraus entwickelt und wozu es gut sein könnte. Er führt weiter aus: „Auf dieser therapeutischen Grundlage des Nicht-Wissens um den Ort und die Ursache des Problems könnte man längerfristig beobachten, Prognosen korrigieren und im Rahmen der laufenden Unsicherheitsabsorptionen durch versuchsweise Maßnahmen kooperieren. Es könnte sich ein Stil herausbilden, bei dem sich Sozialität auf der Grundlage gemeinsamer Unsicherheit einpendelt“. Luhmann gesteht zu, dass die Hoffnung, die Menschheit würde sich selbst auf Unsicherheit und Kontingenz einlassen, utopisch ist. Aber das sollte einen nicht davon abhalten, in diese Richtung zu wirken. Er schlägt vor, sich an der konkreten Frage zu orientieren: „Gibt es eine Konstruktion, die uns im Moment erträglicher erscheint?“ Und diese Frage funktioniert auf jeder Ebene. Es ist praktiziertes Paradoxiemanagement. Und das wäre also eine Antwort, was man tun könnte. Eine Praxis, die wir im Übrigen schon immer praktizieren, weil uns auch nichts anderes übrigbleibt. Es geht weiter!

Literatur

Hagen, W. (Hrsg.). (2009). Was tun, Herr Luhmann? Vorletzte Gespräche mit Niklas Luhmann (1. Aufl.). Kulturverlag Kadmos Berlin.

Timm Richter, Leipzig

Ein Kommentar

  1. Ellahe Engel-Yamini sagt:

    Wie soll sich was an Klimaschäden was ändern? Es wird weiterhin abgeholzt, Auto gefahren , geflogen und Musk verpulvert Unmengen CO2 mit seinem Programm. Niemand stellt sich ihm in den Weg. keine Regierung. Im Gegenteil, er wird auch noch gefeiert.

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