Wie politisch ist Systemik?
Ich möchte diesen Adventskalender nutzen, um eher unbesinnlich und un-adventlich über das Verhältnis von Systemik und Politik nachzudenken, und über Rollentrennung und Rollenvermischung überhaupt. Ich habe dazu eine Grundhaltung und Grundüberzeugung, und ich habe Fragen, Zweifel, offene Fragezeichen, die gar nicht mit ersteren zusammenpassen. Ich stelle sie der Reihe nach vor, ohne zum Schluss überzeugende Antworten geben zu können – um das gleich zu sagen.
I. Wie politisch ist Systemik?
Meine Grundüberzeugung ist: Ich bin gegen die Politisierung professioneller Gruppen und professioneller Verbände. Ich halte Professionalität, die Form der Profession und die Mission dieser speziellen Profession, für so wichtig und selbsttragend, dass sie ausreichend Stoff für Texte, Tagungen, Diskussionen, Dynamiken, Projekte, Entwicklungen für die nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte (Smiley) gibt. Ich brauche keine politische Zweitmission, um das Gefühl zu haben, dass ich als Systemikerin und Mitglied eines Systemikerverbandes etwas Wichtiges und Sinnvolles tue. Ich will nicht einem Verband sein, der sich zur Hälfte als politische Lobbygruppe versteht. Ich will dort sein wegen dem, was ich für den professionellen Kern systemischen Denkens und Könnens und Wissens halte.
Für diese Grundhaltung spricht die Soziologie, oder genauer: die Systemtheorie Niklas Luhmanns, die Theorie funktionaler Differenzierung. Diese sagt: In der modernen Gesellschaft sind Dinge in „ihren“ jeweiligen Funktionssystemen angesiedelt, sie sind funktional spezifiziert, das ist die Basis ihrer besonderen Leistungsfähigkeit und ihrer spezifischen Rationalität. („Rationalität“ im weitesten Sinn, auch z.B. die Eigenlogik von Paarbeziehungen/Liebesbeziehungen einschließend, die ja nicht rational im engeren Sinn ist.) Das gilt auch für systemisches Arbeiten. Wir könnten keine guten Therapeuten oder Berater sein, wenn wir nicht auf unsere Klienten in einer spezifischen Rolle zugehen würden und sie in ihrer spezifischen Rolle als Klienten nehmen würden, wenn wir stattdessen unsere Klienten nach politischer Gesinnung aussuchen würden oder nach religiöser Übereinstimmung; und wir nehmen keine Familienangehörigen oder sonstwie privat Bekannten als Klienten, und wir gehen mit unseren Klienten keine privaten Beziehungen ein, keine Paarbeziehungen und nach Möglichkeit auch keine Geschäftsbeziehungen, weil das die Möglichkeit professioneller Wirksamkeit und des Anbringens professioneller Kompetenz (zer)stören würde.
Das gilt auch dann, wenn der genaue Ort systemischer Praxis in der Gesellschaft nicht ganz leicht zu bestimmen ist. Die Funktionssystemzuordnung ist nicht eindeutig, es können mehrere Funktionssysteme berührt sein, insbesondere Familie/Intimbeziehung, Gesundheit/Krankenbehandlung, ggf. Bildung/Erziehung, vielleicht auch mal Recht/Justizsystem, und es gehört mit zu den Herausforderungen und vielleicht auch zum Reiz systemischen Arbeitens, dass es sich an solchen Schnittpunkten abspielt. Aber bei aller Vielfalt der Systembezüge: Das Politiksystem ist eher nicht dabei. Ich sehe deshalb kein allgemein-politisches Mandat eines systemischen Verbandes, ich sehe nicht, warum er sich als Forum und Sprachrohr für politische Anliegen verstehen soll und warum er nicht genug zu tun haben soll, professionelle Dinge zu diskutieren und weiterzuentwickeln. Man kann sich ja trotzdem als Mensch politisch engagieren, man kann in Parteien, Bewegungen, Petitionskampagnen etc. dabei sein, aber man muss das ja nicht in der Rolle als Systemiker und im Rahmen eines systemischen Verbandes tun.
II. Wie politisch ist das Private? oder Wie eingebettet ist das Private?
Andererseits, wenn ich ehrlich bin, habe ich auch einige Fragen und Relativierungen dazu im Kopf. Vielleicht ist es doch nicht so einfach.
Was mich am meisten beeindruckt hat und mir am meisten im Gedächtnis geblieben ist als Fragezeichen zum Punkt Rollentrennung, ist eine Beobachtung, die ich mal in einem alten soziologischen Text (von 1968) gelesen habe. Er beschäftigt sich mit ähnlichen Fragen im Schnittfeld zwischen professionellen – hier: wissenschaftlich-soziologischen – und politischen Rollen, etwa: wie man als Soziologe ein irgendwie „neutraler“, „objektiver“, zu wissenschaftlich-abstrakter Beobachtung verpflichteter Beobachter sein kann und trotzdem links sein kann, oder wie man als Soziologe ggf. Karriere machen, Professor werden und auf eine relativ hochrangige Position im gesellschaftlichen Gefüge kommen kann und trotzdem links bleiben kann (Alvin W. Gouldner, The Sociologist as Partisan, in: The American Sociologist 3, 1968, S. 103–116).
Gouldner bezieht auch private Beziehungen, Paarbeziehungen, in seine Betrachtung mit ein. Er beobachtet, dass Soziologen, die zu einer anderen Theorie oder einem anderen Paradigma überwechseln, oft ungefähr zur selben Zeit auch ihren Lebenspartner wechseln. Das sollte ja erst mal nicht zusammenhängen, wenn wir annehmen und soziologisch behaupten, dass Paarbeziehungen in der Moderne nur aus „Liebe“ bzw. aus Faktoren zwischenmenschlicher Intimität, Intimkommunikation, getrieben sind, und nicht aus politischen, ökonomischen und sonstigen äußeren Interessen. Es hängt aber offensichtlich doch zusammen, und ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass auch ein Wechsel von einer soziologischen zu einer systemischen Berufsidentität etwas ist, was eine Paarbeziehung nicht leicht übersteht.
Wie kommt das? Was besagt es für die Frage der nötigen oder nicht-nötigen, möglichen oder nicht-möglichen „Reinhaltung“ professioneller Rollen, Identitäten, Perspektiven, Diskussionskontexte? Wo sind die Grenzen dieser Möglichkeit? Ist die Reinhaltung oder Getrennthaltung funktional spezifischer Kontexte schädlich oder förderlich, und wofür? Das frage ich mich, ohne eine Antwort zu wissen.
III. Wie losgelöst sind politische Überzeugungen?
Gouldner meint auch – aber das würde ich für heute bezweifeln –, dass die soziologisch-wissenschaftliche Auffassung, die jemand vertritt, oft seiner eigenen Position in seinem eigenen sozialen Kontext entspricht. Ihm zufolge sind es oft die jungen, unarrivierten, selbst auf prekären Positionen sitzenden Soziologen, also die „Underdogs“ im wissenschaftlich-universitären Positionsgefüge, die sich soziologisch mit den gesellschaftlichen „Underdogs“ identifizieren und kritische Theorien vertreten, während die alten arrivierten Professoren eher Theorien anhängen, die von einer wunderbar eingerichteten gesellschaftlichen Ordnung ausgehen. Das scheint mir aber eher ein Generationseffekt oder ein Zeiteffekt der damaligen Zeit zu sein. Heute hat sich das eher umgedreht, mit dem Älterwerden dieser linken-kritischen Generation. Es hat sich gezeigt, dass die alten kapitalismuskritischen Kämpfer, auch wenn sie etabliert, arriviert und mit Professorentitel ausgestattet sind, immer noch marxistisch und kapitalismuskritisch denken, während die heutigen Jungen wieder ganz anders unterwegs sind.
Überzeugungen sind manchmal zäher als reale sozialstrukturelle Positionen, und das ist ja auch ein Teil des Problems der „links-liberalen Elite“, das durch aktuelle politische Debatten spukt, oder des Phänomens des „Links denken, rechts leben“, das heutige Soziologen wie Armin Nassehi und Stephan Lessenich beschreiben. Menschen können ihrer objektiven sozialstrukturellen Position nach ziemlich weit oben stehen und sich trotzdem politisch-überzeugungsmäßig mit denen identifizieren, die unten sind, und umgekehrt. Insofern herrscht also doch wieder Rollentrennung. Es gibt eine eigenständige Macht der Überzeugungen, und jedenfalls in diesem Punkt kann man für die heutige Zeit eine ziemliche Entkopplung diagnostizieren.
Das ist im Übrigen eine Entkopplung, die manche politischen Wahlergebnisse gut erklärt. Viele Beobachter fragen sich verwundert, warum so viele Amerikaner Trump wählen, dessen Politik ihren eigenen materiellen Interessen eigentlich entgegensteht, warum sie also „gegen ihren Geldbeutel“ wählen (etwa Industriearbeiter, auf Sozialleistungen angewiesene Geringverdiener, Hispano-Amerikaner in einer in den Eliten angloamerikanisch dominierten Gesellschaft). Das ist die Antwort: Sie wählen aus Überzeugung, und es herrscht Entkopplung zwischen persönlichen materiellen Interessenlagen und politischen Überzeugungen oder Ansprechbarkeiten. Ebenso wie wir – als gut ausgebildete und relativ gut verdienende Mittelschichtangehörige, wie die Leser dieser Seite es in ihrer überwiegenden Mehrheit sind – unter Umständen für gesellschaftliche Reformen und Umbauten sind, die auch nicht in erster Linie uns selbst profitieren lassen würden, sondern andere. Trump-Anhänger haben auch ein Recht auf Überzeugungen, auch sie müssen nicht nach ihrem persönlichen Geldbeutel und ihrer persönlichen Kosten/Nutzen-Bilanz wählen.
Ob das gut ist oder nicht, kann man dahingestellt lassen, auf jeden Fall ist es so. Rollentrennung ist eine fundamentale soziale Realität unserer Gesellschaft. Sie ist keine hundertprozentige Realität, und es gibt dann doch wieder Abweichungen und erwartete oder unerwartete Kopplungen, und man kann da interessante Beobachtungen machen und auf interessante Selbstinfragestellungen kommen. Jedenfalls lohnt es sich, gezielt darüber nachzudenken.
Lieber Martin (wenn ich darf),
darüber weiß ich nichts, weil ich in diesem Bereich nicht unterwegs bin (da weder Psychologin/Psychotherapeutin noch Psychiaterin, leider). Ich finde die Frage nach Inter-Professions-Verhältnissen total spannend. Für mich hat das vor allem die Form der Frage, was Systemik als ein aus mindestens drei Teilprofessionen (Therapeuten, Sozialarbeitern, Ärzten/Psychiatern) zusammengesetztes Gebilde eigentlich sein soll, was für eine Art von System das überhaupt ist. Ein System ist es schon, da bin ich relativ sicher, aber was für eins, weiß kein Mensch.
Der Konflikt zwischen Psychotherapeuten und Psychiatern findet vermutlich nicht in diesem seltsamen Mix-System namens Systemik statt, sondern zwischen Psychotherapie als Profession insgesamt und Medizin als Profession. Richtig? Er ist größer als die Systemik, und schwappt in die Systemik-als-System höchstens rüber. Aber man kläre mich auf, wenn es anders ist …
Liebe Barbara
Nun, ich glaube, dass sich in diesem „seltsamen Mix-System“ durchaus in und mit verschiedenen Klienten-Bezugsystemen gut arbeiten lässt. Jede/r wird dieses, sein Tun auch als „systemisch“ etikettieren wollen und können (da darunter ganz Unterschiedliches verstanden wird). Ich bin auch Deiner Meinung, dass sich daraus aber nichts Politisches i.e.S. ableiten lässt, auch wenn dies oft, z.B. unter dem Stichwort „Haltung“, gemacht wird. Zudem geht der Weg ja klar in die Richtung, dass mit einem Direktstudium „Psychotherapie“ die Karten neu verteilt werden (müssen).
Zusammen mit Jürgen Kriz, Günter Schiepek u.a. gehe ich ganz grundsätzlich „nicht- lumannianisch“ davon aus, dass „Systemik“ ein Theorie geleitetes Metamodell für Therapie, Beratung, Pädagogik sein könnte. Das Problem sehe ich darin, dass aber der eigene Berufsstand (bei Dir die Profession Soziologie, Uni..) gleichsam diesem Metamodell in Bezug auf berufs- und gesundheitspolitische Entscheidungen übergeordnet ist.
Ja, weil das „Metamodell“ Systemik ist halt nur inhaltlich-theoretisch-intellektuell ein Metamodell, also was Höheres, aber systembildungsmäßig-praktisch-operational eine Spätbildung und ein Anhängsel oder eine Subsystembildung. Soviel Realismus in Systemanalyse muss sein …
Durch deinen Kommentar denke ich darüber nach, ob bei mir die Soziologie übergeordnet ist. Insofern schon, als ich nicht aufhören kann, in meinem Kopf so zu denken, bestimmte Dinge so zu sehen, wie ich sie 20 Jahre lang sehen gelernt habe. Aber das ist ja nur die Reflexionsebene, also wieder eine späte, drangehängte Ebene (Professionspolitik, Verbandspolitik, Adventskalender etc., also was für Sonntage). In Sachen systemische Praxis bin ich ganz demütig und sehe mich als Anfängerin und fädle mich ganz vorsichtig von ganz unten ein, da hilft mir die Soziologie gar nichts und ordne ich sie bestimmt nicht über. Und die Praxis ist ja der Kern der Sache. Oder?
PS: Wenn ich Psychotherapeutin wäre, würde ich wahrscheinlich auch die Identität einer etablierten Profession (Psychotherapie) über die weiche Wischiwaschi-Identität der Systemik stellen.
Eine Profession ist etwas, was man nicht einfach aus dem Boden stampfen kann. Die Psychotherapieprofession ist seit 100 Jahren in Betrieb und einigermaßen stabil professionalisiert, man muss sich gut überlegen, ob man das für etwas eintauscht, was erst halb so alt ist und was in der Professionsbildung wacklig ist. Ich habe schlechte Erfahrungen gemacht mit fehlender Rollentrennung an systemischen Instituten, Vermischung von Therapie- und Ausbildungsrollen. Das wäre in einem voll-professionalisierten Psychotherapiefeld nicht passiert, das liegt an der wackligen Professionalisierung des (breiten, diffusen, mixmäßig aufgestellten) Systemikfeldes. Professionsbildung hat schon ihren Sinn …
Grundsätzlich, betr. „Praxis als Kern“ sowie der „Professionalisierung“ einverstanden. Allerdings hat in diesem Spannungsfeld Klaus Grawe ja schon vor Jahren sein Grundlagenwerk „Von der Konfession zur Profession“ geschrieben. Da aber mit der Medizinalisierung der Psychotherapie (ein Begriff, der ja de jure nur für die Behandlung „“krankheitswertiger Störungen“ gebraucht werden darf) sich im Feld Psychotherapie nach akkreditierter Weiterbildung ganz unterschiedlich sozialsisierte Berufsgruppen ihr Brot verdienen, fehlt es an einer gewachsenen eindeutigen Identität. Dies ermöglich zwar im günstigen Fall „Einheit in der Vielfalt“, leistet aber auch der Rollenvermischung Vorschub, indem (z.B. in Kliniken) nicht getrennt wird zwischen Rollen des Case Managements, des fallführenden Arztes/Psychologen oder des (unparteilichen) Therapeuten…
Liebe Kollegin
Um Ihren, damit hoffentlich angestossenen, Diskurs weiter zu befüttern: wie steht es um die Rollenkonfusion als „systemischer“ Psychologen und Psychotherapeut in einem medizinisch definierten Gesundheitssystem mit „systemischen“ Psychiatern, die aber berufs-und standespolitisch andere Interessen verfolgen. Lassen sich da die metaphorisch immer wieder erwähnten Hüte so einfach wechseln und damit verbundene Fragen der Defintions- und Entscheidungsmacht im Versorgnungssystem „überspielen, wo sich doch unterschiedliche Identitäten in die Quere kommen?