Nachdenkliches
„Eigentlich“ wollte ich etwas Lockeres, Witziges, Leichtes schreiben. Ging aber nicht. Vielleicht trage ich mit meinem diesjährigen ernsten Beitrag zum Adventskalender sogar Eulen nach Athen. Wer weiß?
Mir scheint, dass seit geraumer Zeit eine Art Vervielfachung individueller Identitätsentwürfe beobachtet werden kann, die durch ein auf Profitmaximierung und Wohlstandserhalt getrimmtes, sich stetig beschleunigendes und neoliberales Wirtschaftssystem angetrieben wird.
Man könnte sie als Identitätsprojekte beschreiben, die mit einer um sich greifenden eindimensionalen Freiheitsvorstellung und einer zunehmend moralisch unterlegten Empörungskultur inklusive Selbstüberzeugungs-, Wahrheits-, Durchsetzungs- und Rücksichtsnahmeansprüchen agieren.
Gleichzeitig kursieren zunehmend Vereinfachungen komplexer Zusammenhänge durch Hinwendung an eindeutige Weltinterpretationen, die angesichts einer krisenanfälligen Weltlage, einer Welt, in der Kriege und Flüchtlingselend nun auch in unser Blickfeld geraten, sich Klimakatastrophen bemerkbar machen, deren Dimensionen menschliche Fähigkeiten erheblich zu überfordern scheinen. Ein Nährboden, auf dem Trumps, Orbans, Netanjahus, Putins, Xi Jinpings, Musks u.a. wunderbar gedeihen können.
Einerseits also das Feiern von Unterschiedsexpansionen mit der Tendenz zu individuellen Identitätsentwürfe mit entsolidarisierenden Freiheits- und Wahrheitsansprüchen und auf der anderen Seite eine Unterschiedskompression mit eindeutigen und damit unterkomplex-gefährlichen (Er-)Lösungsphantasien.
Es erscheint, als ob diese neue Fusion zum einen Aspekte repräsentiert, bei der sich Menschen als Teil von Massenbewegungen verstehen, sich mit Führungsideologien sowie Führerpersonen identifizieren und dadurch einen Bedeutungszuwachs erleben. Zum anderen handelt es sich um Menschen, die kurioser Weise in einer ursprünglich aufklärerischen Tradition zu stehen scheinen, sich von der Idee einer allumfassenden göttlichen Instanz unabhängig wahrnehmen und von diesem Freiheitsgewinn eine höchstpersönliche Deutungshoheit hinsichtlich „richtiger“, „wahrer“ Weltinterpretation ableiten. Freilich ohne zu realisieren (besser: zu verstehen), dass mit diesem Freiheitsgewinn für den Menschen Sinnfragen, Absurditäten, Unsicherheiten, Zweifel und existenzielle Ängste notwendig verknüpft sind. Konsequenzen also, die bei eindeutigen Weltdeutung zur Vorsicht mahnen.
Fatal und besorgniserregend erscheint mir, dass beide Tendenzen sich wechselseitig stabilisieren, potenzieren und eine unheilvolle Melange bilden: Die Versimplifizierung komplexer gesellschaftspolitischer Sachverhalte wird durch den identitätsstiftenden, individuellen Anspruch auf „Wahrheit“ und „Freiheit“ begünstigt. Es ist also nicht mehr nur „die“ Ideologie oder „die“ Führerfigur, mit der sich Bevölkerungsteile identifizieren und der sie sich unterwerfen – es ist eine weitgehend kritikfreie und unzugängliche Selbstüberzeugung und Selbstgefälligkeit, die sich als individuelle, selbstbestätigende Identitäten herausbilden.
Da passen die Begriffe eines autoritären Charakters der Soziologie und Sozialphilosophie der 30er Jahre mit den Merkmalen von Macht, Gehorsam und Unterwürfigkeit nur teilweise – wie auch die Ausführungen zum narzisstischen Charakter als neuem Sozialisationstypus aus den endenden 70er und beginnenden 80er Jahren mit den Merkmalen einer Selbstbezogenheit und Selbstüberschätzung bei parallelen Versagensängsten und Minderwertigkeitsgefühlen nur partiell überzeugen.
Die Vervielfachung scheint die Vereinfachung hervorzubringen und umgekehrt. Gerade diese Wechselseitigkeit erzeugt ein Phänomen, das eine Festigkeit und Starrheit repräsentiert, die mir neu erscheint. Und das in einer Weltlage, in der sich neben der Sinnfrage schon lange auch eine Seinsfrage stellt.
Ich frage mich: Tragen wir lehrende Systemiker ungewollt, unbemerkt und unreflektiert zu einer Ver-ichung und Entsolidarisierung bei? Auf den ersten Blick ein klares „Nein“, da gerade systemische Ansätze sich auf soziale Systeme konzentriert hatten, die kommunikativen und interaktiven Wechselwirkungen dieser erforschten. Aber vielleicht doch, weil in immer kürzerer Abfolge Ideen, Techniken und Methoden (wie: klopfen, stellen, lösen, („es“) Schaffen etc.) als „Game Changer“ gehypt und mit einem gewissen selbstüberzeugten Machbarkeitsanspruch verkündet und gelehrt wurden und werden. Zusätzlich wird fast inflationär alles und jeder geachtet, gewürdigt und gewertschätzt. Hoffnung wird gesucht, gefunden, notfalls auch erfunden, positiv konnotiert, Ressourcen werden entdeckt, Autonomie, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit gefördert – aber alles neutral und allparteilich.
Meinetwegen. Aber haben wir genügend auf die ausgeblendeten Seiten dieser Begrifflichkeiten, auf die Risiken, Enttäuschungen, Überforderungen und Zumutungen hingewiesen, die mit diesen Wörtern und Anwendungen einhergehen? Anders ausgedrückt: haben wir uns in der Lehre den Komplexitäten, den Unverfügbarkeiten, Paradoxieentfaltungen und existenziellen Fragen menschlicher und gesellschaftlicher Bedingungen ausreichend gestellt? Haben wir neben den Kompetenzen zur Begünstigung von Veränderungen auch dem Aushalten, Innehalten, Akzeptieren, Aufhören und Ertragen von Unveränderlichkeiten ausreichend Raum gegeben? Haben wir unserem Zweifel, unserer Begrenzung, unserer Fähigkeit zum Irren eine Chance gelassen und gerade damit identitätsbildende Entwicklungen gefördert? Haben wir die gesellschaftspolitische Dimension ausreichend mitreflektiert?
Und während ich das so schreibe, denke ich an eine Buchpassage, in dem eine der Hauptfiguren von einem Gespräch mit einer Künstlerin erzählt: „Die Frau hatte gesagt, in der Kunst seien unsere Grenzen zugleich unsere Stärken. Was wir nicht gut könnten, was uns nicht einfalle, ja selbst die Fehler, die wir machten, trüge alles zu unserem persönlichen Stil bei. Keine solchen Beschränkungen zu haben bedeute, keine eigene Stimme zu haben.“ (Shriver, Lass uns doch noch etwas bleiben, S. 240)
Ja, lieber Rudolf Klein, Nach-Denkliches lässt sich als Methode Buchstabenkürzel nicht verkaufen, die Kraft des Zweifelns liegt im Archiv, und wir Oldies treffen uns bei Karl Valentin, denn „die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war“.
Ein fulminanter Text, der mir aus der Seele spricht. Sei bedankt, Rudi – und Barbara auch für den sanften Kontrapunkt.