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Online-Journal für systemische Entwicklungen

systemagazin Adventskalender 2022 – 24. Tom Levold

| 5 Kommentare

Optimismus? Nein. Zuversicht? Ja bitte.

Mit Interesse habe ich die diesjährigen Beiträge zum systemagazin-Adventskalender gelesen. Als ich die Einladung zum Thema „Zuversicht“ ausgesprochen hatte, war ich unsicher, ob ich ausreichend viele Beiträge erhalten würde. Umso überraschter war ich, dass der Kalender schneller als in früheren Jahren gefüllt war. Das spricht für einen gewissen Bedarf an Zuversicht, wenngleich sich in der Zusammenstellung der Kalenderbeiträge auch die Ambivalenz wiederfindet, die mit meiner ursprünglichen Frage verbunden war. Wie kann man in diesen Zeiten von Zuversicht sprechen? Was bringt dieses Wort zum Ausdruck?

Für Niklas Luhmann handelt es sich bei Zuversicht um eine Sonderform des Vertrauens. In einem Text mit dem Titel „Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen“, der – zunächst auf Englisch erschienen, dann erst ins Deutsche übersetzt – sich mit diesem Begriff beschäftigt, beschreibt er Zuversicht als eine Art generalisiertes Vertrauen in die Funktionalität von Systemen, als Systemvertrauen: „Vertrauen bleibt unerlässlich in zwischenmenschlichen Beziehungen, aber die Partizipation an funktionellen Systemen wie Wirtschaft oder Politik ist nicht mehr eine Sache persönlicher Beziehungen. Sie erfordert Zuversicht, aber kein Vertrauen“ (Luhmann 2001: 156). Während Vertrauen eine Entscheidung im Bewusstsein des Risikos der Enttäuschung von Vertrauen sei, gelte die Zuversicht eher einer nicht reflektierten Erwartung als Grundlage des Vertrauens auf gesellschaftlicher Ebene, z.B. dass das Geld als sicheres Zahlungsmittel auch zukünftig erhalten bleibt, dass man auf die Einhaltung von Verkehrsregeln vertrauen kann, dass man auf politische Entscheidungsverfahren vertrauen kann etc. „Der Hoffende faßt trotz Unsicherheit einfach Zuversicht. Vertrauen reflektiert Kontingenz, Hoffnung eliminiert Kontingenz“ (Luhmann 2014).

Mit diesem Grundvertrauen in das Funktionieren unserer gesellschaftlichen Funktionssysteme bin ich groß geworden, ganz unabhängig von den Bewertungen der jeweiligen politischen Konstellationen und Auseinandersetzungen seit Ende der 60er Jahre. Dass es für ein solches Systemvertrauen in anderen Regionen der Welt in diesen Jahrzehnten wenig Anlass gab, war schon immer klar. Während Krisen und Kriege sich früher in anderen Weltregionen abgespielt haben, sind sie mittlerweile bei uns angekommen. Angesichts der sich abzeichnenden Klimakatastrophe, des brutalen Kriegs in der Ukraine und der allgemein zu beobachtenden militärischen und ökonomischen Vorbereitungen zukünftiger Kriege ist meinem – vielleicht schon immer einäugigen – Systemvertrauen weitgehend der Boden entzogen.

Die Zuversicht, dass die Weltgesellschaft in der Lage ist, die Klimakatastrophe in der dafür noch zur Verfügung stehenden Zeit zu verhindern, habe ich verloren. Nicht nur, weil alle dafür notwendigen (und längst als notwendig bekannten) Bemühungen nur halbherzig, schleppend oder eher nur symbolisch angegangen werden, sondern weil die Kräfte, die diese Bemühungen boykottieren und die Zerstörung des Planeten mutwillig fortsetzen und ausdehnen, nicht kleiner geworden sind. Auf Systemvertrauen kann ich nicht mehr setzen.

Aber gibt es Zuversicht ohne Systemvertrauen? Ich denke schon. Ohne Zuversicht können wir nicht gut (über)leben – wenn das Leben überhaupt einen Sinn haben soll. Wenn also Zuversicht auf globaler Ebene nicht mehr viel Sinn macht, was sind dann andere Quellen von Zuversicht? Ulrich Schnabel, der ein interessantes Buch zum Thema geschrieben hat (2018), hat in einem lesenswerten Interview betont, dass Zuversicht aus der Überzeugung stammt, „dass das, was man tut, einen Wert  hat“ und zitiert einen Satz von Vaclav Havel: „„Es geht nicht um die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern um die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.“ Darin liege der Unterschied zwischen Zuversicht und Optimismus. „Optimismus ist mir zu sehr auf den Ausgang fixiert. Der Optimist denkt, dass sich die Dinge zum Guten wenden, wenn er nur fest daran glaubt. Nehmen wir an, Sie kommen mit einer schweren Krankheit ins Krankenhaus und sind überzeugt, dass Sie wieder gesund werden, wenn Sie nur positiv denken. Dennoch kann es passieren, dass Sie am Ende bleibende Schäden davontragen. Wenn Sie sehr darauf gesetzt haben, dass alles gut wird, kann Sie das umso mehr in eine Depression stürzen. Es gibt nun einmal Situationen im Leben, in denen Sie Schwierigkeiten nicht aus dem Weg räumen können. Da braucht es dann eine andere Art von innerer Stärke. Das ist der Kern der Zuversicht: Auch wenn die Dinge nicht gut ausgehen, kann man Spielräume für sich finden“.

Es geht also nicht um die Eliminierung von Kontingenz. Wenn ich keine generalisierte Zuversicht entwickeln kann, kann ich Zuversicht aus lokalen, regionalen oder zeitlich begrenzten Geschehnissen ziehen. Insofern erfüllen mich Initiativen mit Zuversicht, die mir zeigen, dass das Eintreten für die Menschenwürde und Menschenrechte, gegen die Ausbeutung des Planeten und die Vernichtung der Arten, gegen Korruption und Machtmissbrauch, für soziale Gerechtigkeit gelebt wird, selbst wenn das mit Konsequenzen für Leib und Leben der Aktivisten verbunden ist. Es erfüllt mich mit Freude, wenn junge Menschen die Aufmerksamkeitsökonomie nutzen, um deutlich zu machen, dass die Weiter-so-Strategien eines Systems, das aus seinen Pfadabhängigkeiten nicht herauskommt, die Probleme nicht lösen werden. 

Meine besondere Zuversicht richtet sich auf die Bewegung der vielen Menschen im Iran, die bereit sind, ihren Kampf um ein lebenswertes Leben mit dem eigenen Leben zu bezahlen. In mehreren Aufenthalten in den vergangenen Jahren konnte ich mir ein Bild von der Lähmung im Lande machen, die ein Resultat der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen die Wahlfälschung von 2009 gewesen ist, der so viele junge Menschen zum Opfer gefallen sind. Den Mut, mit dem nun die Bevölkerung im Iran unter dem Motto Jin, Jiyan, Azadî (Frau, Leben, Freiheit) auf die Straße geht, kann ich nur bewundern. Ob Optimismus angebracht ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber aus der Zuversicht erwächst eine Kraft, die überhaupt erst möglich macht, unter widrigen Bedingungen zu handeln.

Das Foto, das ich 2015 in Isfahan auf der Straße von einer Gruppe junger Frauen gemacht habe, die spontan für mich posierten, ohne dass ich sie dazu eingeladen hätte, ist für mich ein Sinnbild für diese Zuversicht. Wenn ich die Nachrichten aus dem Iran sehe, bin ich in Gedanken bei diesen jungen Menschen. Ich bin sicher, dass sie zu denen gehören, die heute gegen das Regime auf die Straße gehen.

Auf einer Weihnachtskarte von Kollegen fand ich folgenden Aphorismus von Jochen Mariss: „Auch wenn uns Zuversicht und Lebensfreude manchmal so klein wie Zwerge vorkommen: Sie sind schlafende Riesen, die wir wecken können“. In diesem Sinne: Wecken wir unsere schlafenden Riesen, geben ihnen Nahrung und lassen uns ein Stück weit von ihnen tragen. Frohe Feiertage!

Literatur:

Luhmann, Niklas (2001): Vertrautheit, Zuversicht, Vertrauen. Probleme und Alternativen. S. 143 – 160 in: Hartmann, Martin und Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts. Frankfurt/Main (Campus).

Luhmann, Niklas (2014): Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Konstanz (UVK), 5. Aufl.

Schnabel, Ulrich (2018): Zuversicht. Die Kraft der inneren Freiheit und warum sie heute wichtiger ist denn je. München (Blessing)

5 Kommentare

  1. Lothar Eder sagt:

    Das Gewinnbringende an einer systemischen Anschauung der Welt war für mich stets, Komplexitätsreduktionen kritisch zu betrachten und in Wechselwirkungen und selbstregulatorischen Dynamiken zu denken.
    Bei Komplexitätsreduktion denke ich an alle drei Zusammenhänge, die angesprochen wurden, denen allen eine „1-Täter-Theorie“ zugrundeliegt: das gilt sowohl für „das“ Virus, für Putin („die Russen“) als auch für CO2.
    Wer systemisches Denken ernst nimmt, wird schwer glauben können, dass ein Konflikt allein durch eine Person oder eine Seite, die als das inkarnierte Böse konstruiert wird, herbeigeführt wurde. Schon allein aufgrund unserer Geschichte mit Russland stünde es uns Deutschen gut an, uns nicht mit Säbelrasseln und Kriegsgerät, das an der Front eingesetzt wird, zu beteiligen. Das ist mE historische Blindheit und es erhöht die Gefahr eines weiteren Weltkrieges.

    Wer die Erde als System, mehr noch als selbstregulierendes System versteht, wird auch hier schwerlich ernsthaft in Betracht ziehen, dass wir „nur“ einen „Bösewicht“ – CO2 – elimieren müssen, um das System in einem für die Tierart Homo sapiens sapiens erträglichen Zustand zu halten. Überhaupt ist dies in meinen Augen nur die andere Seite der Ausbeutungsideologie mit ihrer maßlosen menschlichen Selbstüberschätzung. Erst machen wir uns zu „Herren“ über die Natur und dann zu ihrem Retter. Ein wenig mehr Demut und ein Bewußtsein dafür, dass wir selbst nur ein Teil der Natur sind und sie, wenn wir es zulassen, für uns sorgt – die indigenen Kulturen sprechen alle von der Erde als „Mutter“ – wäre hier mehr als angebracht.
    Die – aus meiner Sicht einzig vernünftige – alternative Sichtweise hierzu ist die grundlegende Beschäftigung mit den Regulationsmechanismen der Erde. Hier finde ich das Motto „die Natur kapieren und kopieren“ treffend, das aus der Permakultur und der ursprünglichen Ökobewegung kommt.
    Der einfache Befund lautet: um Temperatur und Luft „angemessen“ zu regulieren, wird eine ausreichende Humusschicht benötigt. Humus reguliert z.B. aufgrund seiner Speicherfähigkeit von Wasser die Umgebungstemperatur, sodass renaturierte Wüstengebiete zu moderaten Temperaturen zurückfinden und die Pflanzen CO2 binden können. Die Humusschicht allerdings hat sich u.a. infolge von industrieller Landwirtschaft seit 1960 um ca. 1/3 verringert. Dort wäre anzusetzen, innerhalb regionaler und lokaler Projekte (und nicht mit Großkonferenzen, zu denen 800 Privatjets anreisen). Der Faktor „Humus“ kommt in den Klimamodellierungen, die allesamt Computermodelle sind, nicht vor. Damit wird in unverantwortlicher Weise ein entscheidender Faktor ausgeblendet.

    Zuversichtlich stimmt (mich) nicht zuletzt eine Forschungsarbeit des MIT, die belegt, dass die Erde seit Mio. von Jahren extreme Temperaturschwankungen auszugleichen vermag; sie liefert damit Hinweise, dass unser Planet sich tatsächlich selbst reguliert: https://news.mit.edu/2022/earth-stabilizing-temperature-1116.
    Das würde ich nicht als Einladung verstehen, die Erde weiter auszuplündern und möglichst viele Schadstoffe in die Luft zu blasen. Es zeigt aber, dass wir mit hoher Wahrscheinlichkeit keineswegs die „letzte Generation“ sind, die auf diesem geduldigen Planeten wandelt.

    Dir, lieber Tom, und allen Mitlesenden ein gesegnetes (Rest)Weihnachten und be-sinnliche Raunächte!

    • Rufer Martin sagt:

      Alles gut und recht. Und doch: ohne Komplexitätsreduktion, Linearität, Kausalität, d.h. ohne klare Positionen und Handungen 1.Ordnung ist kein politisches und schon gar nicht ein therapeutisches Handeln möglich. Und das sage ich als einer, der sich schon seit Langem das Epistem der SO und der „nicht-linearen Dynamik“ auf die Fahme geschrieben hat.

  2. admin sagt:

    Lieber Tom,

    Systemvertrauen lost?! Man kann das so sehen, es sieht nicht gut aus und es gibt gute Gründe sich Sorgen zu machen. Immerhin können wir unsere Aufmerksamkeit auf Gruppen und Gemeinschaften lenken, die gemeinsam geteilte (!) Zuversicht „herstellen“, indem sie etwas tun, was aus der Zukunft betrachtet sinnvoll erscheint und schon heute hoffnungsvoll stimmt („schlafenden Riesen“ zum Leben erwecken).

    Vielleicht kommt es jetzt auch darauf an, in Kontingenz (prinzipielle Unvorhersagbarkeit, die Macht des Zufalls, Ungewissheit) zu vertrauen. Es kann (wenn wir als Spezies so weiter machen) so oder so ausgehen, aber wer sind wir, dass wir mit Sicherheit die Apokalypse vorhersagen könnten. Morgen passiert irgendetwas (das wir als „Wunder“ bezeichnen) und die Lage ändert sich grundlegend. Wir können das, soviel wissen wir, nicht wissen. Insbesondere dann, wenn wir uns (in der Evolution der menschlichen Spezies) Springpunkten nähern, an denen eine (bisherige) Ordnung verschwindet und eine andere Ordnung auftaucht, die wir nicht vorhersagen können und die wir nicht kennen (Änderungen II. Ordnung). Natürlich taucht in solchen systemischen Lagen (auf der Schwelle zur Neuorganisation) Angst auf. Niemand möchte sich die chaotischen Turbulenzen wirklich vorstellen, die einer grundlegenden Neuordnung der globalen Ökosysteme vorausgehen (obwohl sie sich bereits deutlich abzeichnen). Und doch können wir meiner Ansicht nach sicher sein, dass es neue Ordnungen geben wird.

    Ich gebe zu, das klingt reichlich abstrakt, und doch stimmt mich diese Art des systemischen Denkens zuversichtlich.

    Zweifellos befinden wir uns als Spezies in einer Lage, in der wir uns neu erfinden müssen (Rotthaus, 2021). Das ist nicht unmöglich. Wir haben es schon mehrmals getan, und wir können es wieder tun. Wir können unsere Lebensweise, unsere Sichtweise der Welt und die Logik, mit der wir Beziehungen gestalten, transformieren. Wie unsere Zukunft aussehen wird, kann heute niemand seriös beantworten – und wie es gelingen wird, den nächsten evolutionären Sprung zu vollziehen, können wir nicht wissen. Klar ist nur: Auf dem Weg zu einem Ethos des gemeinschaftlichen Zusammenlebens aller Arten und der gemeinsamen Pflege der Biosphäre werden wir uns als Spe¬zies von einer Sichtweise verabschieden müssen, die uns selbst ins Zentrum stellt (Bleckwedel, 2022). Wir sind Teil von etwas Größerem, das uns hervorbringt und zu dem wir eines Tages zurückkehren. Kulturelle Transformation würde bedeuten, den anthropozentrischen Humanismus und Individualismus, der spätestens seit der Renaissance das Denken und Handeln Europas bestimmt, zu überwinden und zugleich seine unbestreitbaren Errungenschaften zu bewahren.

    Solange wir uns über Zuversicht austauschen können wir zuversichtlich bleiben.

    Jan

  3. Sabine Klar sagt:

    Danke Tom für dein nicht nachlassendes Bemühen um vernunftorientierte Reflexion. Auch das gibt mir Zuversicht. Ich wünsche dir dass unsere Bereitschaft zu lernen und mit dem Denken immer wieder neu anzufangen nicht nachlässt. Sabine

  4. Martin Rufer sagt:

    Lieber Tom
    Hab Dank für Deine alljährliche Kalenderblatt-Initiative und Deine schöne und im besten Sinne vertrauensvoll zusammengefasste Weihnachtsbotschaft, die uns auch im Neuen Jahr zuversichtlich weitere Fensterchen gestalten und öffnen lässt..

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