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Staunen, Humor, Mut und Skepsis

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Thomas Stölzel (2012): Staunen, Humor, Mut und Skepsis

Thomas Stölzel (2012): Staunen, Humor, Mut und Skepsis

Rainer Zech, Hannover:

Seit über 25 Jahren bin ich Organisationsberater und leidenschaftlicher Laie in Sachen Philosophie. Bisher hatte ich mir meinen persönlichen Reim aus der Philosophie für meine beraterische Praxis gemacht. Da stieß ich auf das genannte Buch und erhoffte mir hier professionelle Unterstützung.

Thomas Stölzel baut sein Buch um die im Titel genannten Kompetenzen Staunen, Humor, Mut und Skepsis auf. Zunächst erfolgt allerdings auf den ersten rund 100 Seiten (einem Drittel des Gesamtwerkes) eine grundlegende Einführung der Bedeutung der Philosophie für die beraterische Praxis. Was an diesem Buch fasziniert, beginnt gleich hier. Der Autor legt Wert auf den verantwortlichen Umgang mit Begriffen, die er – zur Freude des Rezensenten – immer etymologisch herleitet, denn die üblicherweise verwendeten fixen Definitionen entpuppen sich nicht selten nur als stabile Vorurteile. Philosophie ist für den Autor daher auch kein Kanon historischer Lehrmeinungen und Erkenntnisse, sondern eine praktische Anleitung zum Selberdenken gemäß dem Kant’schen auf Horaz zurückgehenden Motto »Sapere aude« – Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Im weiteren Verlauf des Buches werden dann die vier philosophischen Kompetenzen Staunen, Humor, Mut und Skepsis in je eigenen Kapiteln er- und bearbeitet. Das Staunen ist der Ursprung und der Anfang jeder Philosophie. Es lässt sich etymologisch auf ein »intensives, offenes, geistiges Anschauen bzw. Betrachten« (S. 120) zurückführen. Damit ist es die Grundlage jeder späteren Theorie gelegt, die wortursprünglich eben Schau bedeutet. Das für jede Praxis grundlegende Anschauen, Betrachten, Wahrnehmen sollte sich dann immer zugleich auf den Gegenstand, das Objekt der Wahrnehmung, beziehen und auf den Betrachtenden selbst, also das Subjekt der Wahrnehmung. Denn jeder Beobachter beobachtet nicht einfach nur Welt, sondern er beobachtet sie immer aus seiner besonderen Perspektive, wobei Beobachten und Interpretieren kaum unterschieden werden können. Der Humor ist »etymologisch mit dem Humus und dieser mit der Humanität verwandt« (S. 167). Der Humor ist als Heiterkeit eine Haltung dem Leben gegenüber und als Praxisform nicht weniger als eine Orientierungshilfe für ein gutes Leben. Der Mut wird als eine Seelenkraft verstanden, die sich vor allem in den bedeutenden Entscheidungen des Lebens jedes Einzelnen niederschlägt, bei denen er sich unabhängig machen muss von allen gesellschaftlichen Einflüsterungen. Der Mut zu sich selbst ist die Grundlage der Infragestellung aller Nahelegungen und Selbstverständlichkeiten. Schließlich bleibt noch die Skepsis als bedeutende Beratungskompetenz. Diese kommt »skeptesthai«, was so viel wie »umherspähen, suchen, prüfen, genau betrachten« (S. 251) bedeutet. Sie kann einem Berater helfen, auch gegenüber den eigenen vermeintlichen oder tatsächlichen Erkenntnissen kritisch zu bleiben und darauf aufmerksam machen, dass es für jede Sichtweise auch eine gegenteilige gibt, die das gleiche Recht für sich beanspruchen kann.

Die vier philosophischen Kompetenzen des Staunens, Humors, Mutes und der Skepsis verkörpern also »vier lebensdienliche Handlungsoptionen, wie Wahrnehmen, (sich) Halten, Entscheiden und (Über-)Prüfen« (S. 297) und werden auch in Bezug auf ihre Gegensätze der Gewohnheit, dem Ernst, der Feigheit oder Angst und der Gläubigkeit abgehandelt. Die einzelnen Kapitel werden eingeleitet durch fiktive Dialoge des Philosophischen Praktikers, hinter dem sich wohl der Autor verbirgt, mit einer Therapeutin, einem Berater und einer Organisationsentwicklerin. Vermutlich soll hier an die philosophische Praxis eines Sokrates angeschlossen werden, wie sie den Werken Platons zugrunde liegen. Sie wirken einigermaßen konstruiert und tragen auch nichts Neues zum Verlauf der inhaltlichen Entwicklung des Buches bei. Weiterhin sind die vier Kapitel zu den philosophischen Kompetenzen angereichert durch Fragen zur Selbsterkundung des Lesers, die im Einzelfall recht nützlich sind, um das Gelesene noch einmal auf sich selbst anzuwenden. Das Buch kann insgesamt Beratern helfen, sich ihrer Profession und ihrer Praxis gegenüber selbst zu verständigen. Allerdings bezieht es sich überwiegend auf individualberaterische Settings. Die wenigen Ausführungen zur Organisationsberatung zeigen dann, dass dem Autor ein theoretisches Verständnis von Organisationen als emergente überindividuelle Entitäten abgeht; Organisationen werden mehr oder weniger als Interaktionssysteme der versammelten Menschen betrachtet. Dennoch: Das Buch hat auch dem Organisationsberater und philosophischen Laien für manches den Blick geöffnet.

(mit freundlicher Genehmigung aus Kontext 44(4), S. 468-469, 2013)

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Eine weitere Rezension von Hubert Kuhn für managerSeminare.de

Inhaltsverzeichnis, Vorwort und Leseprobe

info

 

Thomas Stölzel (2012). Staunen, Humor, Mut und Skepsis. Philosophische Kompetenzen für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung

312 Seiten mit 7 Abb. und 3 Tab. kartoniert
ISBN 978-3-525-40359-4
Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

Verlagsinformation:

Ein Blick auf die Bestsellerlisten der letzten Jahre macht deutlich: Philosophie ist en vogue. Das Potenzial aus dem Kanon der Philosophie für Therapie, Beratung und Organisationsentwicklung ist gleichwohl noch nicht gehoben. Die Fähigkeit des Menschen zu Staunen, Humor, Mut und Skepsis bietet für Berater viele Optionen, Problemstellungen unter grundlegenden Aspekten anzugehen. Thomas Stölzel, als Kulturwissenschaftler und systemischer Therapeut seit Jahren in diesem Metier unterwegs, schreibt ein Buch für Praktiker, das eine Fundgrube für an Begriffsgeschichten, Falldarstellungen, methodischen Szenarien und Übungen bietet, sie aber auch in den Stand versetzt, ihre Haltung und ihr Vorgehen aus einer Metaperspektive zu reflektieren. Über eine überwiegend schulengebundene beraterische Kompetenz hinaus philosophische Grundlagen für das eigene Selbstverständnis als Berater, aber auch hinsichtlich einer bestimmten Art der Problemsicht ganz praktisch zu nutzen, ist eine der zukunftsträchtigen Erweiterungen des Rüstzeugs von Therapeuten, Beratern, Coaches, Organisationsentwicklern. Das Buch ist: Kulturwissenschaftlicher Essay, Praxisbuch, Fundgrube, Metakommentar und Anregung zum selbstständigen Denken in einem.

Über den Autor:

Dr. phil. Thomas Stölzel, Systemischer Therapeut und Berater (SG), Philosophischer Praktiker (IGPP), Coach (DBVC), ist als Dozent an Fachhochschulen, Akademien, Weiterbildungsinstituten, in klinischen Einrichtungen und Organisationen sowie in der Einzelberatung tätig.

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