Seit 9 Jahren leben Katja und Robert zusammen. Sie haben eine Tochter von 8 und einen Sohn von 7 Jahren. Katja, Lehrerin, ist halbtags berufstätig, und Robert arbeitet als Bautechniker. Beide lieben ihre Kinder und ihre Arbeit. Aber ihre Beziehung sei seit der Geburt der Kinder lustlos und monoton, es gebe kaum noch leidenschaftliche Begegnungen. Robert fragt, ob sie vielleicht dafür eine Sexualtherapie bräuchten?
Weil das Thema Sex zu jeder guten Paarberatung gehört, ermutige ich das Paar zur Fortsetzung der Gespräche bei mir. Katja erzählt zerknirscht, dass sie sich in einen jungen Kollegen (der davon nichts weiss) verliebt und es inzwischen Robert gestanden habe, worauf dieser mit der Bemerkung, dass er das bei so viel Kälte zwischen ihnen normal finde, zur Tagesordnung übergegangen sei. Roberts Vernunft und Gelassenheit in allen Lebenslagen löst bei Katja immer wieder Verzweiflung aus und gibt ihr das Gefühl, Teil des häuslichen Inventars zu sein. Zwar schlafen sie noch ab und zu miteinander, aber ohne Feuer. Robert: «Ich möchte schon, dass es sexuell wieder so lebendig wird zwischen uns, wie es vor der Geburt der Kinder war, und dass Katja so experimentierfreudig ist wie damals aber wie soll das gelingen, wenn sie andere Männer in ihre Phantasien lässt?» Katja: «Ich frage mich mit schlechtem Gewissen, warum das so ist. Eigentlich liebe ich Robert. Kürzlich habe ich meine sexuellen Wünsche aufgeschrieben. Aber es kam mir nur Banales in den Sinn. Meine grösste Sehnsucht ist, dass Robert mir wieder einmal in die Augen schaut, wenn er mich begehrt, damit ich weiss, er meint mich und nicht einfach seine eigene Entspannung.»
Es sind selten Tragödien, mit denen Paare zu mir kommen, sondern ganz gewöhnliche, alltägliche Enttäuschungen wie eben, dass Lust und Leidenschaft nach der Geburt von Kindern in der Familie «verschwimmen». Es scheint eine normale Unvereinbarkeit zwischen Bindung und Sexualität und zwischen Elternschaft und sinnlicher Paarbeziehung zu geben. Der Graben kann aber überbrückt werden, wenn beide bereit sind, einander ihre Wünsche zuzumuten. Denn die Glut ihrer sexuellen Sehnsüchte lebt im Geheimen fast immer weiter, und der Sauerstoff, welcher sie anfacht, entsteht auf vielfältige Weise: zum Beispiel in der ausserehelichen Verliebtheit, dem Romeo- und-Julia-Syndrom des Unmöglichen. Wenn ein solches Erlebnis als Vorbote von Wandel statt als Tragödie verstanden wird und das Paar eigene Liebesinseln findet, können sexuelle Begegnungen «mit offenen Augen» zur Wiederbelebung der Leidenschaft führen.
Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.