„Im Unterschied zu ‚alltäglichen‘ Katastrophen (Unfälle, Krankheit, Trennungen, Tod, Kränkungen etc.), die bei den unmittelbaren Betroffenen (einschließlich des psychosozialen Umfelds) zu einer Beeinträchtigung des Kohärenzgefühls und weitergehend zu einer physischen und/oder psychischen Beeinträchtigung bzw. Erkrankung führen können, werden die durch Medien an jeden Ort der Welt verbreiteten ‚Großschadensereignisse‘ (ein grauenhafter Begriff!) von Großgruppen wahrgenommen, die als Zuschauer ‚teilnehmen‘. Die Erleben der einzelnen Individuen wird dabei durch die (je nach Medium und Redaktion/Eigentümer) unterschiedliche Art der Darstellung beeinflußt und auf bestimmte Details gelenkt oder auch von solchen abgelenkt.
Zunächst konfrontiert uns das Geschehen mit der dem Individuum jederzeit drohenden, nun aber unmittelbar wahrgenommenen Gefährdung unserer Existenz – und weitergehend – auch der Endlichkeit unserer Existenz. Bewußt erlebt wird die Ohnmacht angesichts dessen, was geschieht und was wir nicht oder nur sehr partiell zu beeinflussen vermögen. Um diese Ohnmacht nicht aushalten zu müßen, liegt es nahe, einen Zustand anzustreben, der von der Vorstellung, von der Illusion getragen ist, (wieder) Einfluß nehmen zu können.
Die insbesondere bei Journalisten zu beobachtende Tendenz, sofort nach Ursachen und Schuld zu suchen (und über verschiedenste Möglichkeiten, möglichst mit ‚ExpertInnen‘ verschiedenster Herkunft zu spekulieren) kommt dem Bedürfnis der ‚KonsumentInnen‘ entgegen, möglichst wenig mit der Ohnmacht des Augenblicks und den damit einhergehenden Affekte und Gefühle (Trauer, Wut, Angst und Panik) konfrontiert zu werden.
Nicht anders ist der Versuch zu verstehen, daß PolitikerInnen, betroffenen Verbände, Gewerkschaften und andere Beteiligte Personen und Institutionen sofortige Maßnahmen fordern, die häufig wenig mit den kausalen (zumeist vorerst oder dauerhaft unklaren) Ursachen für das Eintreten des Ereignis zu tun haben. Hinzu kommt, daß einfache Erklärungen kaum zu erwarten sind – meist handelt es sich ja um überaus komplexe und schwer zu durchschauende (psychologische) Vorgänge, die oft schon von den Protagonisten (PolitikerInnen, Journalisten etc.) nur ansatzweise verstanden werden und weder dem Format journalistischer Beiträge (Rundfunk, Fernsehen, Zeitung und Internet) noch dem Interesse und Verständnis der breiten Leser-, Hörer bzw. Seherschaft entsprechen. Daß dabei auch andere Faktoren eine Rolle spielen (narzißtische Bedürfnisse, Machtstreben, Erwartung durch Medienpräsenz den Status und/oder Wahlchancen zu erhöhen) spielt zuweilen wohl auch eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nicht zuletzt scheinen gerade PolitikerInnen, aber auch andere Beteiligte auf vermeintliche oder reale Vorwürfe (häufig in Boulevardzeitungen lanciert) zu reagieren, sie würden ‚wieder einmal nichts zu tun‘.
Bei mehr oder weniger namenhaften FachkollegInnen muß man sich schon sehr wundern, mit welcher (vermeintlichen) Selbstsicherheit sie sich mit Erklärungen zu den psychologischen Hintergründen von Handlungen in die Öffentlichkeit wagen, ohne die genauen Tatvorgänge oder die daran beteiligten Personen zu kennen.“
via: http://www.schweigepflicht-online.de/Seite_Aktuelles.htm
Dies ist ein wichtiger kritischer Beitrag zur Problematik medialer sensationeller Überreaktionen im Umgang mit zugespitzten (aber i.d.R. seltenen) komplexen Konflikten. Erfahrene Risiko- und Fehlerforscher wissen, dass es differenzierter Untersuchungen bedarf, um Schadensfälle im Nachhinein zu beurteilen. Schnelle Ferndiagnosen helfen nicht weiter!. Prof. Dr. Reinhart Wolff (Kronberger Kreis f. Dialogische Qualitätsentwicklung e. V.)