Urs Stäheli, Soziologe und Systemtheoretiker mit einer Professur für Allgemeine Soziologiee an der Universität Hamburg, hat in der aktuellen Ausgabe des Merkur einen wunderschönen Essay über die Schüchternheit geschrieben, der auch online zu lesen ist. Im Unterschied zur Gemeinschaft, in der Schüchternheit aufgrund der Vertrautheit, die hier miteinander herrscht, kein Problem darstellt, ist sie erst in der Gesellschaft, die die Kommunikation unter Fremden erfordert, ein zunehmend wahrgenommenes Thema: Die Schüchternheit wird damit als ein Phänomen gefasst, das sich auf das gesellige Zusammensein mit Fremden bezieht und in Kontrast steht zu jenen Gemeinschaftsformen, die auf historisch verankerten Vertrauensbeziehungen beruhen. Es geht um Situationen wie jene des Smalltalk, in denen eine temporäre gemeinschaftliche Verbindung unter und mit Fremden hergestellt werden soll. Es überrascht daher kaum, dass die Semantik der Schüchternheit um 1900 einen Höhepunkt erfährt: Mit der Urbanisierung und Demokratisierung westlicher Gesellschaften wird das Aufeinandertreffen von Fremden zum Normalfall. Und diese begegnen sich nicht nur in festgefügten, anonymen Rollen, sondern sie entwickeln auch neuartige Formen des ephemeren gemeinschaftlichen Zusammenseins. Gerade weil diese temporären Gemeinschaften jenseits ihrer klassischen Formen unter Vertrauten immer häufiger auftreten, ja in manchen Bereichen sogar zum Normalfall werden, taucht die Semantik der Schüchternheit als Indikator für ein Problem auf. Sie markiert die Unfähigkeit, sich am zwanglosen Zusammensein unter Fremden angemessen zu beteiligen. Dies liegt Stäheli zufolge aber nicht ab der mangelnden Wahrnehmungsfähigkeit des Schüchternen, was seine sozialen Kontexte betrifft, im Gegenteil: Die Paradoxie des Schüchternen liegt also darin begründet, dass er eigentlich das ideale Medium für die affektive Gemeinschaftsbildung wäre, denn niemand nimmt so präzise wahr, niemand ist so sensibel wie er; gleichzeitig wird er sich aber dieser Medialität bewusst und bringt diese genau dadurch ins Stocken. Womöglich lässt sich der Typus des Schüchternen aber auch als Ressource in einer gesellschaftlichen Entwicklung verstehen, die von einem kommunikativen Overflow gekennzeichnet ist: Das, was den Schüchternen für die klassischen und neuen Formen der Gemeinschaft verdächtig gemacht hat, deutet nun auf einen neuen Typus von Gemeinschaft hin: auf eine intransparente, diskrete und kontemplative Gemeinschaft, die sich ebenso der Gemeinschaft als Arbeit wie auch dem Glauben an eine innere gemeinschaftliche Identität verweigert.
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Schüchternheit
22. Oktober 2013 | Keine Kommentare