Zum heutigen Sonntag gibt es den dritten Text der Serie von literarischen Texten von Rudolf Welter (siehe hier) im systemagazin-Salon:
Rudolf Welter: Knecht
Meine Kammer war recht bescheiden eingerichtet, mit einem Tisch, einem Stuhl, einem Bett, einem Schrank und einem Waschbecken. Die Wände waren getäfelt, das Holz, nach Jahrzehnten der Luft und dem Licht ausgesetzt, hatte eine dunkle Färbung angenommen. Von der Täfelung war allerdings nicht sehr viel zu sehen, denn ein größerer Teil davon war mit Fotografien abgedeckt. Diese machte ich während meiner Freizeit, die sich weitgehend auf die Winterszeit beschränkte, wenn die Felder nicht bestellt werden mussten und Arbeit in den Wäldern anfiel. Der Blick durchs Fenster fiel im Sommer auf einen üppigen Garten, auf weiter entfernte Felder und auf schneebedeckte Berge in weiter Ferne.
Meine fotografische Ausrüstung war einfach. Ich kannte keine elektronischen Apparate. Ich besaß eine normale Kamera und eine billige Sofortbildkamera. Ich hatte diese selber so bezeichnet, weil ich mit dieser Kamera Bilder aufnehmen konnte, die ich sofort an die Wände in meiner Kammer heften konnte. Für eine teurere Ausrüstung hätte mein Lohn als Knecht nicht gereicht.
Meine Mutter arbeitete ebenfalls auf dem Hof mit, vor allem in der Küche, im Garten oder auf dem Feld, wenn dort zusätzliche Hände gebraucht wurden.
Die Meisterleute beachteten mich kaum. Es schien mir, als ob sie mich als etwas zurück geblieben wahrnahmen, was mein Denken und meine Eigenständigkeit anbelangte. Auch meine Mutter schätzte diese nicht gerade hoch ein. Meistens erledigte sie alles für mich, traute mir kaum etwas zu. Dafür wurde ich körperlich sehr gefordert auf dem Hof.
Das Fotografieren behielt ich als ein Geheimnis für mich. In freien Stunden durchquerte ich, mit den Kameras in einem Rucksack, winterliche Landschaften und nahe liegende Dörfer. Die dort gemachten Aufnahmen betrachtete ich nachts bei Kerzenlicht. So schuf ich mir eine Welt in Bildern, baute Beziehungen zu Menschen ohne deren Wissen auf, nahm ganze Landschaften in Besitz und streichelte auf Fotos Tiere, bis ihre Felle auf Hochglanz poliert waren. Dann erkrankte Mutter, musste ins Spital, wo sie bald starb. Die Meisterleute wollten die Verantwortung für mich nicht übernehmen, ein Vormund wurde bestellt.
Als die Meisterleute auch starben, kam ich mit etwa sechzig Jahren in die Männerabteilung eines großen Alters- und Pflegeheimes. Die Abteilung zählte vierundzwanzig Bewohner. Zum großen Teil waren meine Mitbewohner geistig und körperlich ziemlich zurück geblieben. Ich selber sorgte dafür, dass ich tagsüber auf dem großen Bauernhof, der dem Heim angegliedert war, tätig sein konnte. Nachts musste ich das Zimmer mit drei weiteren Bewohnern teilen. Damit hatte ich große Mühe, ich trauerte meiner kleinen Kammer auf dem Hof nach.
Immer stärker zog ich mich von anderen Menschen zurück, was niemand so richtig verstehen oder erklären konnte oder wollte. Mit der Zeit sprach ich kaum noch, viele meinten, ich hätte die Sprache verloren.
Eines Tages – etwa zehn Jahre später – wurde ich gefragt, ob ich bereit wäre, eine Besuchergruppe durch die Abteilung zu führen. Ich war erstaunt ob dieser Frage, zeigte mich dann nach einigem Zögern zur Führung bereit. Am Tag der Führung zeigte ich den Besuchern die Wohnstube unserer Wohngruppe sowie Klos und Bäder. Der Gruppe schlossen sich bald weitere Bewohner und auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an. Letztere wollten wissen, was ich den Besuchern zeigen und wie ich das Gezeigte erklären würde.
Im Obergeschoss, wo sich die Schlafzimmer befanden, gingen wir im Flur einer Schrankfront entlang. Unerwartet erinnerte ich mich daran, dass mir in dieser Front bei meinem Eintritt ins Heim ein eigener Schrank zugewiesen wurde. Ich suchte ihn, fand ihn, blieb davor stehen, zeigte auf ihn und verkündete bestimmt, dass dies mein Schrank sei. Ich bat darum, dass er geöffnet werde. Die neben mir Stehenden schauten mich verdutzt an.
Der Schrank wurde geöffnet und alle waren erstaunt, was zum Vorschein kam: Kleider und Bücher von mir und in der Tiefe des Schranks, halb versteckt, eine Kartonschachtel. Ich öffnete sie und war überrascht, dass viele Fotos darin lagen. Beim genauren Betrachten stellte ich fest, dass es Fotos waren, die ich vor etwa dreißig Jahren gemacht hatte, als ich mit meiner Mutter noch auf dem Bauernhof lebte. Die Herumstehenden trauten ihren Ohren nicht, als ich begann, mit Hilfe der Bilder ohne Unterlass aus meinem Leben zu erzählen. Ich gab zu verstehen, dass ich bedeutende Teile meiner Lebenswelt durch Kameralinsen betrachtet hatte und ich mich der Sprache bedienen kann, wenn ich zu deren Gebrauch angeregt werde.