heute ist das systemagazin Forum für einen aktuellen Diskussionsbeitrag von Michael Schlicksbier-Hepp aus Wilhelmshaven, der sich als Kinder- und Jugendpsychiater kritisch mit dem aktuellen Kinderschutz-Diskurs auseinandersetzt. Die Leserinnen und Leser sind zu Kommentaren und Erwiderungen ausdrücklich eingeladen!
Es ist ein gutes Jahr her – Anlass war der unselige „Fall Kevin“ in Bremen, als ich Folgendes als Antwort auf das große Rumoren in der Politik mit der populistischen Forderung schrieb, dem Verbrechen an Kindern und der Vernachlässigung von Schutzbefohlenen mit noch mehr Kontrolle beizukommen:
„Ich misstraue aus Erfahrung auch den gut gemeinten Verordnungen zur Kontrolle und zum Zwang auf dem sozialen und medizinischen Sektor und glaube, dass solcher Art Problemlösungen viele neue Probleme aufwerfen. Zwang und Kontrolle sind letzte Mittel, die ausgerechnet bei den skandalösen Tragödien trotz vorheriger Hinweise grotesk versagen. Man sollte daher sehr viel mehr Geld und Ressourcen in Förderung und sozialmedizinische und -psychologische Angebote ohne Zwang mit niedrigen Zugangsschwellen stecken und die allgemein zunehmende Kinderarmut zum Thema eines gesellschaftlichen Umdenkens machen, in dem wir alle unsere Verantwortung an diesen Zuständen erkennen, statt empört aber doch skandallüsternd mit Schuldvorwürfen auf exemplarisches Versagen hinzuweisen, um gleichzeitig von unserer Mitverantwortung abzulenken“
Unmittelbar nach spektakulären Meldungen über Kindesmißbrauch, -vernachlässigung oder gar -tötung meldet sich die Politik in den Medien zu Wort, als könnte sie damit das Heft des Handelns wieder in die Hand bekommen. Sie meinen es ja gut, könnte man denken und vielleicht wissen sie es nicht besser mit ihren atavistischen Politikerreflexen: Doch Kanzlerin Angela Merkel und Co. haben sich gerade auf ihrem CDU-Parteitag bereits vor über einem Jahr schon deutlich für die populistische Billiglösung ausgesprochen, die gleichzeitig die Unwirksamste sein dürfte, damit alles beim Alten bleibt: Kontrolle bei verpflichtenden (Impfinformations-)Vorsorgeuntersuchungen, aber kein zusätzliches Geld in die Töpfe sozialer Wohlfahrt für Jugendhilfemaßnahmen, Förderung pädagogisch
sinnvoller Freizeitangebote, Bildung und freiwillige, niederschwellige psychosoziale Beratungsangebote, die bei Inanspruchnahme nicht mit dem unangenehmen Gefühl für die Betroffenen verbunden sind, sie seien„nicht normal“ oder„asozial“
Nun haben weitere spektakuläre Einzelfälle Gelegenheit gegeben, Parteien und Verbände nochmals„Handlungsbedarf“ anmahnen zu lassen: Der Gesetzgeber müsse nun handeln.
Es hat sich wenig getan, seit dem der kleine Kevin zu Tode kam. Doch: Die Kinderarmut ist weiter gestiegen. Nun sind wieder einige Babyleichen gefunden worden und als spektakulärster Fall fünf Klein- und Schulkinder in einem schleswig-holsteinischen Dorf Darry von einer angeblich an wahnhafter Schizophrenie erkrankten Mutter betäubt und dann erstickt worden. Kurz zuvor starb in Schwerin die fünfjährige Lea-Sophie in der Kinderklinik an Unterernährung und Flüssigkeitsverlust aufgrund von Vernachlässigung, obwohl das Jugendamt auf die Familie aufmerksam geworden war. Erneut ertönt ein Schrei nach Kontrolle, verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen und händerringend wird nach Schuldigen gesucht, während Kanzlerin Merkel eine „Kultur des Hinsehens“ fordert.
Bekannte Töne, erkennbarer Unsinn, wenn man einmal genauer hinsieht, denn auch nach dieser Forderung werden alleingelassene, ausgesetzte Kinder gefunden, manchmal zu spät! Kein Zweifel, diese Fälle sind schrecklich! Doch auch in dem spektakulären Fall des fünffachen Mordes einer als schuldunfähig bezeichneten Mutter war das Jugendamt bereits vor Ort, die psychosoziale Notlage der Mutter hätte also vermutlich erkannt werden können, einer der Kindsväter war noch am Tag zuvor im Haus. Was ist schief gelaufen? Oder bei der verhungerten Lea-Sophie, in deren Familie das Jugendamt bereits tätig wurde? Ich kann es aus meiner Erfahrung nur allgemein formulieren, denn die Skandalfälle kenne ich nicht persönlich. Es sind immer wieder ähnliche Probleme. Hilfesuchende und psychisch Kranke machen immer wieder die Erfahrung, dass es nicht leicht ist, von Behörden Hilfen zu erlangen. Die Bürokratie verteilt das knapper werdende Geld oft langsam und widerwillig und die Bittsteller fühlen sich oft nicht mit Wertschätzung behandelt und ernst genommen, auch wenn das nicht in der Absicht der einzelnen Sozialarbeiter liegt. Und manchmal gelingt es den„Problemfamilien“ recht leicht, ihre Schwachstellen vor Ärzten und Sozialarbeitern zu verstecken, wenn die vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht in Gang kommt.
Das Ergebnis ist, dass für viele Bedürftige die Schwelle, sich Hilfe vom Amt zu holen, zu hoch ist. Manche haben auch regelrecht Angst. Und dann versteckt man sich und seine Probleme. Psychisch Kranken, die mit Unterstützung sicher Vieles für ihre Kinder leisten könnten und es zumeist auch ohne Unterstützung schon tun, scheuen manchmal den Weg zum Psychiater, zum sozialpsychiatrischen Dienst oder dem Jugendamt, weil sie fürchten, dass man ihnen noch vor der Installation einer Hilfe zur Erziehung die Kinder wegnehmen könnte. Gerade dieser Fall der Fünffachtötung könnte wieder einmal dazu führen, Eltern mit psychischen Belastungen unter Generalverdacht zu stellen, sie könnten ihren Kindern etwas antun, was tatsächlich recht selten vorkommt.
Wenn die Behörden und ihre Mitarbeiter die Hauptenergie und die entsprechenden Ressourcen in Kontrolle stecken, werden die gestreckten Mittel für die psychosoziale Unterstützung von Bedürftigen mit Kindern noch weniger reichen, um effektive Hilfen anzubieten. Ich höre immer wieder von Klienten, dass Jugendamtsmitarbeiter mit Hinweis auf knappe Finanzen beantragte und für sinnvoll erachtete Hilfen nicht installieren wollen oder eine lange Wartezeit von einem halben Jahr oder mehr in Aussicht stellen. Die Sozialarbeiter, die solches durchblicken lassen, meinen es nicht böse. Sie suchen sozusagen nach einer Entschuldigung, dass ihnen die Hände gebunden seien und verweisen„nach oben“, wo über die knappen Gelder entschieden werde. Aus solchen Äußerungen spricht Hilflosigkeit, die jedoch die betroffenen Hilfesuchenden im Regen stehen lässt.
Viele soziale und erzieherische Notlagen eskalieren dann nicht selten gewalttätig und werden„psychiatrisiert“, weil gewalttätige Kinder und Jugendliche für psychisch krank gehalten werden, was meistens barer Unsinn ist bzw. weil sie weder von der Polizei festgehalten werden können, noch die desolaten Verhältnisse zuhause ohne die Hilfe des Jugendamtes angegangen werden können. Kommt es zu Misshandlungen an den Kindern, sind diese wiederum auch psychisch in Mitleidenschaft gezogen. Oft muss dann der Kinder- und Jugendpsychiater in einem Clearing die
Behörde involvieren – oft reichlich spät. Solche Vorkommnisse sind ein„schlagender Hinweis“ auf die Notwendigkeit enger, systemischer Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern, Jugendhilfeeinrichtungen und Kinder- und Jugendpsychiatrien.
Wenn das„Kind schon in den Brunnen gefallen“ ist, hilft bei erzieherisch heillos überforderten Eltern – oft auch Alleinerziehende – manchmal vorübergehend nur eine Inobhutnahme in eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung oder Bereitschaftspflegefamilie, um durch eine vorübergehende Distanz zur Deeskalierung von Konflikten Zeit und Raum für kreative Lösungen unter Einbezug des bisherigen Betreuungs- und Familiensystems zu schaffen. Die zuständigen Mitarbeiter der Jugendämter werden eine solche Platzierung eines Kindes oder Jugendlichen in der Regeln nicht leichtfertig vornehmen, denn neben der Unruhe in der Familie werden durch die an sich meist teuerste Maßnahme die ursprünglichen Probleme noch nicht gelöst. Daher werden insbesondere nächtlich oder an Wochenenden oft die Notdienste der Jugendpsychiatrie zu einem Klärungsgespräch mit involviert, was oft auch Sinn macht. Zunächst einmal versteht sich von selbst, dass diese eingreifenste aller Maßnahmen vorübergehend ist und von einer intensiven Abklärungs- und Betreuungsarbeit begleitet wird, deren Zielrichtung mehr Hilfe nach dem angeforderten Bedarf und nicht mehr Kontrolle ist.
Um so erstaunlicher ist, wenn die Arbeit der Jugendhilfe, die nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) zur präventiven Sicherung des Kindeswohls seit 1990 zunächst die Aufgabe hat, Kinder, Jugendliche und Familien adäquat zu unterstützen und Kontrollmaßnahmen nur zur Sicherstellung dieser Unterstützung z.B. bei versagender Unterstützung oder Kooperation vorzunehmen, manchmal nicht von den Familien oder anderen Helfern, sondern im eigenen Amt von den für die Leistungsverteilung in den entsprechenden Gremien bis zur kommunalen Verwaltungsspitze Verantwortlichen torpediert wird, wie z.B. in der Stadt Halle„per Dienstanweisung“ am 3.9.2007 geschehen, was aber bei den vielen kleinen Verrücktheiten aus falsch verstandener Sparsamkeit, die bis zur Sachbearbeiterebene gehen kann, vermutlich nur eine besondere Spitze des Eisbergs eines uninformierten Verwaltungsirrsinns ist. Zum Glück vernetzen sich betroffene freie Träger von Jugendhilfemaßnahmen und Klienten neuerdings in Selbsthilfe-
und Diskussionsforen, so z.B. auch in Halle in der „LOTSE – Beschwerde und Vermittlungsstelle“.
Der renomierte, systemisch arbeitende Sozialwissenschaftler Prof. Johannes Herwig-Lempp von der Hochschule Merseburg, Fachbereich Soziale Arbeit, Medien, Kultur, dem ich diese Hinweise verdanke, berichtet auf seiner Homepage über diese hanebüchene und völlig unüberlegte Maßnahme der Stadtverwaltung in Halle, mit der durch sofortige Entlassung von 314 in Obhut genommenen Kindern und Jugendlichen in ihre Familien auf einen Schlag alle Unterbringungskosten ohne Rücksicht auf eine vorherige sorgfältige Untersuchung der Stabilität des Milieus eingespart werden sollten. Die Fachmitarbeiter des allgemeinen Sozialdienstes und Pflegekinderdienstes des Jugendamtes und die Betroffenen fassten sich an den Kopf, was da von oben aus rein populistischen und Kostengründen ausgebrütet wurde.
Vorausschauende Sozialarbeit ist unter solchen Zielkriterien nicht zu machen. Verantwortlich für diese Kurzschlussreaktion, die auch in der Presse im Oktober und November hohe Wellen schlug, waren die Oberbürgermeisterin und der Leiter des Jugendamtes. Über die Einschätzung der Sozialarbeiter machten sich die beiden vorher kein Bild. Diese artikulierte sich später in zum Teil anonymen Briefen, die dokumentiert sind.
Ein ähnlich beschämendes Bild wie in Halle bietet schon seit geraumer Zeit der rot-rote Senat der bankrotten Bundeshauptstadt Berlin. Zwar lag die Berliner Bankenkrise 2002, die für den absoluten Tiefstand der Stadtfinanzen mitursächlich ist, nicht im Verantwortungsbereich der SPD bzw. der PDS und heutigen Linken, aber ein Sanierungskonzept zu beschließen, das 2005 mit über einem Drittel gekürzter Gelder die Haupteinsparung im Jugendhilfesektor und des weiteren im Sozialhilfesektor, den Brennpunktbereichen dieser Stadt neben dem Wohnungssektor, vorsieht, ist ein Einfall eines Senats gewesen, der angeblich von seiner politischen Ausrichtung für soziale Gerechtigkeit stehen möchte. Und die sich unter anderem daran ausrichtende neue/alte Kapitalismuskritik richtet sich somit nicht nur gegen die konservativen Parteien im Lande. Die Professorin für Sozialpädagogik, Frau Ulrike Urban-Stahl, erkennt in ihrem ZEIT-Interview ganz klar einen Zusammenhang zwischen solchen Sparvorgaben und einer zunehmenden Ohnmacht der Jugendhilfe, tatsächlich helfen zu können.
Die„Kultur des Hinsehens“ (Merkel) sollte sich die Kanzlerin mit ihrer Sparpolitikerriege in der Tat verordnen und zwar von ganz oben bis in die Gemeindeparlamente. Sie sollte die zunehmende Kinderarmut (hier und hier beobachten, das Absacken der kinderreichen Familien und der Alleinerziehenden unter die Armutsgrenze. Dieses Armutszeugnis verdanken wir unter anderem„Hartz IV“ und den vielen knapp bezuschussten Miniarbeitsplätzen, die unsere Arbeitslosenstatistik schönen aber gleichbedeutend mit Armut und Abwesenheit von Erziehungspersonen im Haushalt mit Kindern sind. Die psychosoziale Prävention sollte wie ein behütetes und nach allen Möglichkeiten gefördertes Aufwachsen der Kinder und Jugendlichen in diesem Land unser aller Anliegen sein und mit genügend Steuermitteln sicher gestellt werden.
Die Jugend ist unsere Zukunft. Langfristig muss die Zusammenarbeit der um Kinder und Jugendliche bemühten Einrichtungen möglichst mit einer gemeinsamen großzügigen Finanzierung institutionalisiert werden. Was spricht dagegen, vom Krankheitsbegriff (Diagnosen) weg zur interdisziplinären psychosozialen und medizinischen Prävention und Hilfestellung als Gemeinschaftsanliegen zu kommen und diese von null bis 25 Jahren als staatlich gewährleistete frei Heilsfürsorge kombiniert mit Jugendwohlfahrt zu etablieren? Geiz? (In diesem Zusammenhang sei noch mal auf eine ganz wichtige Fortbildung im April 2008 hin gewiesen, die als großes interdisziplinäres Symposion zur Zukunft des Gesundheitswesens geplant ist.
Es kann nicht darum gehen, Gelder für Kontrollen auszugeben, um sicher zu stellen, dass die immer spärlicheren Unterstützungsleistungen nicht von wenigen missbräuchlich angehoben werden. Die Sozialarbeiter haben anderes und besseres gelernt und werden mit knappen Mitteln und viel zu wenig Stellen ebenfalls„verheizt“, wenn sie die sozialen Missstände ungerechter Ressourcenverteilung korrigieren sollen. Hilfen müssen angeboten werden und angemessen sein. Sie zu nehmen, darf nicht beschämen. Von einer solchen Sozialpolitik sind wir weiter entfernt, als zuvor, denn die Jugendhilfe bekommt auch von den lokalen politischen Entscheidungsträgern immer weniger Mittel zur Verfügung gestellt.
Die toten Kinder klagen uns alle, die Wähler und die Politiker an, nicht nur irgendwelche vermeintlich direkt Verantwortlichen, die es vermutlich auch gibt. Aber das entlastet uns nicht. Es geht nicht um populistische Sprüche und Kontrolle. Die spektakulärsten Tragödien spielten sich unter den Augen der Kontrolleure ab. Um den Hilfebedarf zu ermitteln und das Vertrauen der Klienten zu gewinnen, benötig man viel Engagement, Zeit, Geld und einen Verzicht auf Besserwisserei, autoritäres Gehabe und auf bürokratische Hürden. Dann besteht die Chance, dass sich manche auch noch rechtzeitig für einen anderen Ausweg öffnen, als stumpfsinnige Wut oder brutale Verzweiflung. Doch selbst damit würde man vermutlich nicht jedes Unglück verhindern können.
Michael Schlicksbier-Hepp, Wilhelmshaven.
ANMERKUNG:
Weitere Veröffentlichungen im Forum Die Außer der Reihe-Reihe“.
VERANSTALTUNGSHINWEIS
MEDIZIN, PSYCHOLOGIE, THERAPIE, PSYCHOSOZIALE PRÄVENTION: Wenn Gesundheit als Ware auf dem Markt gehandelt wird, hat dies Auswirkungen. Welche Wirkungen und Chancen, aber auch Risiken und Nebenwirkungen das für die helfenden Beziehungen hat, diskutieren am 18. und 19.4.2008 im Kulturzentrum PFL Oldenburg (Oldb.) Wissenschaftler, Therapeuten, Anbieter und Nutzer des Gesundheitswesens. Es ist Ziel der Veranstalter, konkrete Visionen mit allen Anwesenden zu entwickeln. Infos im Internet unter der Veranstalterhomepage.