Wolfgang Loth, Niederzissen:
The New England Journal of Medicine, neben dem britischen Lancet eine der international renommiertesten Journale der Medizin ermöglicht während der Corona-Zeit freien Zugang zu allen seinen Texten, die die Covid-19 Pandemie betreffen.
Neben spezifischen und medizinwissenschaftlichen Abhandlungen im engeren Sinn (z.B. zur Situation in Ländern weltweit, zu Forschung und Klinik) finden sich auch Texte, die Erhellendes und Anregendes zur psychosozialen Reflexion der Covid-19-Konstellation beisteuern können.
So schreibt z.B. Louise Aronson, M.D. in einer anschaulichen Einzelfallstudie zur Wechselwirkung von Alter, Komplexität und Krise. Sie sei sich bewusst über die perverse Schärfe, mit der die immensen Auswirkungen von Covid-19 auf ältere Menschen überkommene, häufig ineffektive oder schädliche medizinische Standards bloßlegten. Auf diesem Hintergrund berichtet sie über Sally, eine ihrer Patientinnen, deren häufige Behandlungen und Erkrankungen bisher. Ihre Aufmerksamkeit für Sally, schreibt Aronson, habe sich in die Befürchtung verwandelt, dass sie als Teil der Population mit dem höchsten Risiko in Lebensgefahr schwebe, entweder wegen Covid-19 oder irgendetwas anderem. Und dann stellt sie den herkömmlichen, fragmentierten und auf Diagnosen fokussierten Blick einem Blick auf Sally als eine Person entgegen, die mehr ist als eine kranke und gebrechliche Frau:
„Zunächst der Blick auf Sally, wie sie ÄrztInnen üblicherweise sehen: eine krankhaft übergewichtige, ältere Frau mit Herz-, Lungen- und Nierenproblemen, Herzflimmern, Schlafapnoe, Depression und Polyarthritis. Wenn Sie ausschließlich auf Ihre Krankenakte schauen, dann entsteht das vertraute Bild einer hochgefährdeten älteren Person mit multiplen Gesundheitsproblemen.
Doch dann gibt es auch ein anderes, ebenfalls zutreffendes Portrait von Sally: eine geistreiche, geschickte ältere Frau mit vielen FreundInnen, jemand, die kürzlich nach einer Karriere im Sozialen Dienst in Rente gegangen und nach Kalifornien umgezogen ist in die Nähe ihrer unterstützenden Kinder, ein Smartphone-Junkie, mit führender Position in ihrer Kirche, politische Aktivistin, Fan von Straßentheater, sowie Bewohnerin einer Pflegeeinrichtung, die sie sowohl wegen der niedrigen Kosten und sozialen Möglichkeiten als auch wegen deren Möglichkeiten ausgewählt hat, ihre zukünftigen Pflegebedürfnisse zu managen.“
Es geht dabei nicht um ein sich ausschließendes Gegeneinander, sondern darum, die Person in ihren umfassenderen Möglichkeiten und Ressourcen anzuerkennen. Auf diesem Hintergrund liegt es nahe, „dass das Erfassen von Risiken und eine hochqualifizierte Pflege nicht dadurch bewerkstelligt werden können, dass ausschließlich auf Alter und Diagnosen geschaut wird. Sally würde weiterhin ein lebhaftes, aktives Mitglied der Gesellschaft sein trotz der kürzlich notwendigen Behandlungen.“ [Aronson, L. (2020) Age, Complexity, and Crisis — A Prescription for Progress in Pandemic. The New England J of Medicine April 7, 2020. DOI: 10.1056/NEJMp2006115. Online.
In einem anderen Beitrag diskutieren Wendy E. Parmet and Michael S. Sinha die gesetzlichen Grundlagen und die Grenzen von Quarantäne. Sie geben u.a. einen Überblick über bisherige und grundsätzlich quarantäne-erfordernde Erkrankungen und stellen Überlegungen zu einem abgestuften Vorgehen an. Auch wenn der Fokus dieses Aufsatzes auf die medizinische und damit verbunden gesellschaftspolitische Situation in den Vereinigten Staaten verweist, regt er auch zu Überlegungen anderenorts an. Parmet und Sinha fassen pointiert zusammen: „Trotz des Umfangs und der Verlockung von Reisebeschränkungen und von angeordneter Quarantäne erfordert eine wirksame Reaktion auf Covid-19 neuere und kreativere gesetzliche Mittel. Mit Covid-19 in unseren Gesellschaften ist es an der Zeit, gesetzliche Bestimmungen für die öffentliche Gesundheit auszudenken und in Kraft zu setzen, die anstelle von Restriktionen Unterstützung in das Zentrum rücken.“ [Wendy E. Parmet and Michael S. Sinha (2020) Covid-19 – The Law and Limits of Quarantine. The New England J of Medicine April 9, 2020. N Engl J Med 2020; 382:e28. DOI: 10.1056/NEJMp2004211.
WL, 04/2019