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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Präfaktisches Verständnis Dialogischer Zusammenarbeit – Schwimmen gegen die Zeitgeistströmung postfaktischen Wissens[1]

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In der 12. Ausgabe des International Journal of Collaborative-Dialogic Practices, das u.a. von Harlene Anderson herausgegeben wird, erschien im Februar vergangenen Jahres ein Artikel von Klaus Deissler, Ingo Wolf und Ahmet Kaya, in dem sie ihr sozialkonstruktionistisches Konzept von Psychotherapie als dialogischen Prozess der Zusammenarbeit vorstellen, den sie von einem expertenorientierten Psychotherapie-Verständnis abgrenzen. systemagazin dankt den Autoren für die Zurverfügungstellung ihres Textes in einer deutschen Übersetzung.

Klaus G. Deissler, Ingo Wolf, Ahmet Kaya 

Sprache existiert nur im Gespräch. 
Hans-Georg Gadamer

Zusammenfassung

Bis heute konzentrieren sich Forschung und Praxis der Psychotherapie auf Expert:innenwissen aus vergangenen therapeutischen Prozessen, d.h. auf empirisch ermittelte Regeln oder vergangene persönliche Erfahrung mit Klient:innen. Unter Verwendung dieser Ableitungen versuchen Expert:innen hauptsächlich Lösungen für die Probleme ihrer Klient:innen bereitzustellen, indem sie die Komplexität, Mehrdeutigkeit und Offenheit der gegenwärtigen dialogischen Zusammenarbeit auf postfaktische Prinzipien reduzieren. Im Einklang mit John Shotter, 2016, kann man sie auch als solche Prinzipien bezeichnen‚ die von vollendeten Fakten[2] abgeleitet wurden. 

Dabei neigt man dazu, die aktuelle Entfaltung dialogischer Beziehungsgeflechte – gegenwärtige äußere Dialoge, gegenwärtige innere Dialoge, Erwartungen und Wünsche für die Gegenwart und Zukunft – außer Acht zu lassen und die aktuellen und zukünftigen lokalen Kontexte zu vernachlässigen. Dies bringt es mit sich, dass in fachlichen Überlegungen präfaktische Sensibilität und Verwunderung für die Diskontinuitäten, unvorhersehbare Tatsachen und die gemeinsame Schaffung neuer Bedeutungen selten beachtet und wertgeschätzt werden. In unserem Verständnis von Psychotherapie als dialogische Zusammenarbeit plädieren wir für eine «philosophische Haltung» (Anderson, 1999), die die präsente dialogische Sensibilität (Deissler, 2016) betont, um die präfaktischen therapeutischen Prozesse besser zu erfassen. Klient:innen und Fachleute gewinnen ein sensibleres und responsiveres Verständnis für die einzigartigen dialogischen Momente der gegenwärtigen Zusammenarbeit zwischen Therapeut:in und Klient:in. Durch das gemeinsame Fokussieren präfaktischer Prozesse konstruieren Klient:in und Therapeut:in durch dialogische Zusammenarbeit Neues und eröffnen so Möglichkeiten für das Noch-Nicht-Gesagte, Noch-Nicht-Gemachte und Noch-Nicht-Bekannte. 

Schlüsselwörter: präfaktisch; dialogische Zusammenarbeit; präsente dialogische Sensibilität; handlungsleitende Antizipation; Nichtwissen

Einleitung

Angeregt durch John Shotters präpositionalem Begriff «before the fact» (2016) haben wir das präfaktische Verständnis der dialogischen Zusammenarbeit entwickelt. Im folgenden Artikel richten wir unser Augenmerk also auf die aktuelle bzw. gegenwärtige therapeutische Zusammenarbeit in der Praxis der Psychotherapie. Indem wir den gegenwärtigen dialogischen Prozess der Zusammenarbeit betonen, können wir Psychotherapie anders verstehen.

Dadurch, dass wir ein präfaktisches Verständnis für die therapeutischen Prozesse vorschlagen, möchten wir dazu beitragen, eine verbesserte Qualität der dialogischen Zusammenarbeit zu erreichen. Dabei können Fragen auftauchen, auf wen oder was wir unsere Aufmerksamkeit richten oder was wir in der aktuellen Tendenz der therapeutischen Zusammenarbeit beachten sollten. Um diese Fragen aus einer sozialkonstruktionistischen Position zu beantworten, schlagen wir vor, dass sich Therapeutinnen und Therapeuten ethisch dem widmen sollten, was sich im gegenwärtigen Prozess der therapeutischen Zusammenarbeit abspielt. Dies sollte auf eine Weise geschehen, dass es zur Zusammenarbeit und zur Konstruktion von Sinn und Verständnis gemeinsam mit den Klientinnen und Klienten beitragen kann. Wir verwenden den Begriff «ethisch» in diesem Zusammenhang, um eine relational verantwortliche Haltung gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Klient:innen und Therapeut:innen zu bezeichnen (McNamee & Gergen, 1998). Dementsprechend, wie McNamee und Gergen sagen könnten, achten Therapeut:innen in einer beziehungsverantwortlichen Ethik auf den Prozess der Eröffnung realisierbarer Möglichkeiten, auf die Potenziale für die Klient:innen und auf das gegenwärtig einzigartige interaktive Moment des therapeutischen Gesprächs (siehe unten Fallbeispiel «Gegenwärtige dialogische Zusammenarbeit»). 

Darüber hinaus reflektieren wir, wie diese Formen der dialogischen Zusammenarbeit zu den gegenwärtigen und zukünftigen Möglichkeiten der Klient:innen beitragen und für sie nützlich sein können und wie wir besser verstehen, was sie wollen und erwarten. Wir schlagen vor, dass sich Psychotherapeut:innen eher an aktueller therapeutischer Zusammenarbeit als an postfaktischem Wissen und daraus abgeleiteten Konzepten orientieren sollten. Unter postfaktischem Wissen verstehen wir die Haltung von Expert:innen, die sich auf vergangene Erfahrungen bezieht und daraus Schlüsse für die Gegenwart und Zukunft zieht. Mit anderen Worten, durch die Nutzung von postfaktischem Wissen werden Tatsachen, die im Nachhinein als bewiesen gelten, als «Grundlagen» zur Erklärung des gegenwärtigen Verhaltens von Klient:innen und als wirksame therapeutische Richtlinien verwendet. Beispielsweise würde sich die traditionelle postfaktische Expert:innenposition Klient:innen, die sich depressiv fühlen, in erster Linie auf wissenschaftliche Ergebnisse aus früheren Forschungen beziehen. Therapeutische Handbücher und persönliche Erfahrungen der Therapeut:innen in der Therapie depressiver Klient:innen würden aus diesem aus vergangenen Erfahrungen abgeleiteten Expert:innenwissen in angewandten Interventionen resultieren. 

Eine präfaktische Haltung dagegen würde eher die gegenwärtige dialogische Zusammenarbeit mit Klient:innen betonen, sensibel darauf reagieren, wie sich die Lebenswelt der Klient:innen im Dialog entfaltet, und versuchen, durch responsive Akzentuierung der gemeinsamen Präsenz zu verstehen und zu untersuchen, wodurch aktuelle und zukünftige Möglichkeiten gemeinsam eröffnet werden können. 

Wir nennen dieses traditionelle Wissen postfaktisch, weil es sich auf Erkenntnisse beruft, die in der Vergangenheit gemacht wurden, und damit in gewissem Gegensatz zum gegenwärtigen therapeutischen Gespräch steht. Gerade weil diese Erkenntnisse in der Vergangenheit gewonnen wurden, erheben sie im postfaktischen Denken den Anspruch, die Grundlage des gegenwärtigen Handelns zu sein und das Handeln für die Zukunft vorzubereiten. 

Wenn möglich, sollte man sich stärker von den Konzepten des postfaktischen Wissens lösen und stattdessen die Sensibilität für gegenwärtige relationale therapeutische Prozesse bevorzugen und die Erwartungen für die Zukunft berücksichtigen. 

Metaphern

Metaphorisch gesprochen, indem man sich postfaktisches Wissen zu eigen macht, geht man rückwärts in die Zukunft – mit festem Blick auf die Tatsachen der Vergangenheit; oder man fährt ein Auto in Vorwärtsrichtung mit verblendeter Windschutzscheibe und schaut ausschließlich in den Rückspiegel. Mit dieser Haltung im gegenwärtigen therapeutischen Prozess könnten die Teilnehmer:innen das Wichtigste in der Gegenwart des Gesprächs verlieren – nämlich die sich entfaltenden dialogischen Beziehungsnetze, die gegenwärtigen inneren Dialoge der Teilnehmer:innen und ihre Erwartungen und Wünsche für die Gegenwart und die Zukunft sowie die aktuellen und zukünftigen lokalen Beziehungskontexte. 

Um den zu veranschaulichen, was wir zu sagen versuchen, werden wir drei therapeutische Metaphern verwenden:

Zeiten 

Vor einigen Jahren besuchte mich (Klaus Deissler) eine Lehrerin Ende 40 in meiner psychotherapeutischen Praxis und fragte mich, ob ich ihr helfen könne. Sie sagte, sie sei in ständiger Trauer um ihre fast 80-jährige Mutter. Insbesondere war sie besorgt darüber, dass ihre Mutter wegen ihres Lebens deprimiert war. Als ich sie fragte, ob sie mir mehr über ihre Sorgen erzählen könnte, sagte sie, sie frage sich, welche Traumata ihre Mutter in ihrer Kindheit erlitten habe, die sie heute depressiv machten. Ich hörte ihr erstaunt zu, während sie mir weiter ihre Sorgen erklärte und sich fragte, was wir gegen das Trauma ihrer Mutter tun könnten. Am Ende der Sitzung fragte ich sie, ob sie sich vorstellen könne, das nächste Mal mit ihrer Mutter zusammen zu kommen. Sie stimmte zu und wir vereinbarten einen neuen Termin für ein paar Wochen später. 

Das nächste Mal kamen Mutter und Tochter zusammen. Die Mutter erzählte mir, dass sie mit ihrer Tochter über die Sitzung gesprochen hatte, bevor sie kam, und dass sie zustimmte, dass sie depressiv sei – nämlich, dass sie im Haus ihrer älteren Tochter lebte und dass sie ständig über alles stritten. Außerdem sagte sie, dass ihr Leben für sie keinen Sinn mehr mache, weil sie erwarte, noch maximal 10 Jahre zu leben, und sie keine sinnvollen Aktivitäten habe, die sie für den Rest ihres Lebens beschäftigen würde. Wir sprachen weiter über diese Themen, und mein Eindruck war, dass die beiden Frauen und ich – jede auf ihre Art – erstaunt waren über den konstruktiven Verlauf des Gesprächs. Die Sitzung endete mit einer Erleichterung für die Teilnehmerinnen. Mutter und Tochter schienen sich mit ihrer Sichtweise auf die Problematik versöhnt zu haben und sagten, sie hätten den Verlauf des Gesprächs genossen. 

In meinen inneren Dialogen nach dem Gespräch kristallisierten sich drei verschiedene Zeitperspektiven heraus: Die Tochter machte sich Sorgen über die Traumata, die die Mutter in ihrer Kindheit hatte und wie diese vergangenen Traumata ihre Depression heute beeinflussten, während die Mutter die gegenwärtigen Streitereien mit ihrer älteren Tochter durchlitt und deprimiert darüber war, was sie für den Rest ihres Lebens (Zukunft) erwartete.

Rückwärts in die Zukunft 

Während meiner (Klaus Deissler) Tätigkeit als therapeutischer Supervisor in einer psychiatrischen Klinik in Langenfeld (bei Köln, Deutschland) fragte mich eine Psychiaterin aus Bolivien, die in der Klinik arbeitete, ob sie ihren Sohn einladen könnte, der sie in einigen Wochen zu unserem Supervisionsseminar besuchen würde und ob er einen kleinen Vortrag über Bolivien aus Sicht eines Sozialwissenschaftlers halten könnte. Die Seminarteilnehmer:innen stimmten zu. Also luden wir ihren Sohn zum nächsten Seminar ein, und er hielt, wie angekündigt, seinen Vortrag. Ich muss zugeben, dass ich mich kaum an den Inhalt dessen erinnere, was er uns erzählte – außer einer Sache: Er sagte, dass die bolivianischen Indianer:innen ein Sprichwort über die Zeit hätten, nämlich dass «die Zukunft hinter uns liege». 

Die Teilnehmer:innen des Seminars wunderten sich über die Bedeutung dieses Spruches. Die Reflexionen im Seminar stellten vor allem das europäische Denken gegenüber, dass die Zukunft vor uns liegt und dass dieser Spruch Sinn macht, wenn wir davon ausgehen, dass man die Zukunft nicht vorhersehen kann – also könnte man sagen, dass die Zukunft hinter uns liegt. 

Als ich weiter über diesen Spruch nachdachte, ergab er für mich immer mehr Sinn. Insbesondere könnte man meinen, dass wir, während wir uns (in die Zukunft) bewegen, rückwärts gehen, so dass wir nicht sehen können, was in der Zukunft als nächstes kommt (weil es hinter uns liegt), aber was wir klar vor uns sehen können (beim Rückwärtsgehen) sind die «Fakten», die in der Vergangenheit erfunden wurden.

Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass der Begriff «Tatsache» vom lateinischen Verb «facere» (machen, bauen, handeln, produzieren …) herrührt. «Factum» (Tatsache) ist etwas Gemachtes. «Postfaktisch» ist also ein Zustand, nachdem etwas gemacht wurde, während sich «präfaktisch» auf den Zustand bezieht, bevor es gemacht wird, so dass es scheint, dass wir uns immer in dem Zustand des Überschreiten der Grenze zwischen den beiden befinden.

Schließlich hat das lateinische Verb «facere» eine ähnliche Bedeutung wie das lateinische Verb «construere» (konstruieren), wobei letzteres mehr das gemeinsame «Tun» betont. Da die Zukunft hinter uns liegt, können wir die noch nicht konstruierten Tatsachen nicht als zukünftige Tatsachen sehen. Wir veranschaulichen dies mit der folgenden Metapher. 

Fahren auf Sicht 

Hier kommt die Metapher des Autofahrens ins Spiel – nämlich dass man kein Auto fahren kann, indem man ausschließlich in den Rückspiegel schaut. Um diese Metapher etwas weiter auszudehnen, stellen Sie sich vor, dass die Windschutzscheibe Ihres Autos völlig verblendet ist und die einzige Möglichkeit, vorwärts zu fahren, darin besteht, Ihre Rückspiegel zu benutzen – wie können Sie dann vorwärts fahren? Das kann dazu führen, dass Sie sehr, sehr langsam fahren, das Fenster öffnen müssen, um zu hören, was draußen passiert, und ab und zu aus dem Auto steigen und in die Richtung schauen, wohin Sie fahren möchten, und diese Prozedur immer wieder wiederholen. 

Beim normalen Autofahren sieht man aber zumindest die erweiterte Gegenwart, wohin die Straße führt, ob vor und hinter einem Verkehr ist und wenn man das Ziel ansteuert, wohin man will. Was sich nach der Passage der Ziele der erweiterten Gegenwart wie der nächsten Kurve oder Ampel ereignet, kann man sowieso noch nicht wissen. Mit anderen Worten, man kann die nächsten Ereignisse der erweiterten Gegenwart «sehen»; man kann planen oder antizipieren, was in der Zukunft passieren wird, kann sie aber nicht sehen, vorhersagen oder sich ihrer sicher sein. 

Kombinieren der Metaphern 

Wenn wir diese drei Metaphern – Zeiten, Rückwärts in die Zukunft, Fahren auf Sicht – zusammenbringen, betreten wir die Mitte eines Streits, den Shotter (2016) provoziert hat, indem er einen erkenntnistheoretischen Unterschied zwischen Ereignissen «nach dem Faktum» und «vor dem Faktum» gemacht hat. 

Seine Kritik am vorherrschenden wissenschaftlichen Diskurs fasst er zusammen, indem er sagt, dass empirische Wissenschaften, die gesammelten Daten aus vergangenen Fakten analysieren, versuchen, Muster dieser vergangenen Fakten zu finden und sie zu verallgemeinern, um Vorhersagen für die Gegenwart und Zukunft abzuleiten. Auf diese Weise sind Gegenwart und Zukunft lineare Fortsetzungen der Vergangenheit. Wenn wir diese postfaktischen Analysen anwenden, verlieren wir das Verständnis der Prozesse, von dem, was passiert, wenn wir neue relationale Reaktionen in der Gegenwart generieren, oder wir verlieren unsere Sensibilität für das, was vor und im Moment der Schaffung neuer und unvorhersehbarer Ereignissen passiert. Mit anderen Worten, John Shotter sensibilisiert uns für das, was im Moment der Kreation passiert, und dafür, in welche Richtung wir gehen wollen bzw. was wir von unserer dialogischen Zukunft erwarten. 

Gegenwärtige dialogische Zusammenarbeit

Indem wir Shotters Prämissen als nützliche Orientierung für die Psychotherapie annehmen, schlagen wir vor, dass wir nicht nur die gegenwärtige dialogische Zusammenarbeit in ihrem sich entfaltenden Prozess betonen, sondern auch dazu einladen, offen zu sein für das Neue, das Überraschende, das Unerwartete und die Diskontinuitäten in den dialogischen Prozessen. Da Offenheit für Neues und dialogische Zusammenarbeit wie Schwestern und Brüder zu sein scheinen, die sich gegenseitig fördern und einander bedürfen, sollte ein Therapeut stets aufmerksam und sensibel für beide sein.

Die gegenwärtige dialogische Zusammenarbeit kann als kontextgebunden betrachtet werden. Diese Kontextualisierungen können auf Personen und ihre Beziehungen, Orte und Zeiten bezogen oder markiert werden. Sie können beispielsweise in mehreren Kontexten stattfinden, darunter: 

  • innerhalb bestimmter Beziehungen (Arbeit, Familie, Freizeit) 
  • an bestimmten Orten (Firma, Zuhause, Ferienort) und 
  • in der Gegenwart (Zeit), sie können auch vergangene Ereignisse reflektieren, etwas über die Gegenwart sagen oder zukünftige Ideen oder Handlungen projizieren. 

Die Inhalte, Themen oder Gegenstände gegenwärtiger Dialoge können sowohl sehr spezifisch als auch allgemein, gemischt und chaotisch sein und sie können mehr oder weniger strukturiert sein. Zum Beispiel können eine Therapeut:in und eine Familie über aktuelle Gefühle sprechen, Gefühle bezüglich abwesender Familienmitglieder in der alltäglichen Beziehung, beides vermischt, vom Thema abgelenkt im ursprünglichen Fokus und sich unterhalten, um auf die Fragen eine:r Therapeut:in zu antworten. 

Aus einer postfaktischen Rezeption mag dies so klingen, als seien gegenwärtige Dialoge von bestimmten (postfaktischen) Ordnungsprinzipien bestimmt – unabhängig von der Person, die sie realisiert oder beschreibt. Darüber hinaus könnte man sie sich sogar so vorstellen, dass sie sich auf eine Weise organisieren, die für jede teilnehmende Zuhörer:in oder Sprecher:in gleichermaßen selbstverständlich ist und dass sich alle auf die gleichen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen einigen würden. 

Im Gegensatz zu dieser Position möchten wir hier betonen, dass wir dies nicht suggerieren wollen, sondern dass es unbegrenzte gegenwärtige Möglichkeiten gibt, etwas zu beschreiben – abhängig von den polyphon aufeinander abgestimmten Interessen, Gefühlen, Einstellungen und dem Kontext, an welchen die Gesprächsteilnehmer:innen teilnehmen dürfen. 

Wir wollen hier betonen, dass die dialogische Zusammenarbeit immer in der Gegenwart stattfindet und über sich selbst hinaus auf etwas Noch-Nicht-Faktisches verweist – «before the fact», wie es John Shotter nennt. Das Noch-Nicht-Faktische könnte man in komplementärem Gegensatz zur postfaktischen Perspektive «präfaktisch» nennen. Der Begriff der «Perspektive» ist eher visuell und postfaktisch auf das Getane der Beobachter:in orientiert (Rückblick auf die Fakten der Vergangenheit). Das Zuhören und Dialogisieren bezieht sich jedoch eher auf den gegenwärtigen Gesprächskontext sowie auf Antizipationen zukünftiger Prozesse, das Noch-Nicht-Gesagte, Noch-Nicht-Gehörte und das Noch-Nicht-Getane – das Präfaktische also.

Davon ausgehend gelangen wir von der postfaktischen Wissensnutzung aus der «Beobachterperspektive» zum präfaktischen Verstehen, indem wir am Gespräch teilnehmen und zuhören. Diese Sensibilisierung für den gegenwärtigen Dialog kann im gegenwärtigen therapeutischen Kontext nutzbringend eingesetzt werden (siehe unten «Gegenwärtige dialogische Sensibilität»). 

Zur Veranschaulichung kann ein kleiner Exkurs darüber hilfreich sein, wie John Shotter (2016) Alltagssprache beschreiben würde. Zusammenfassend lässt sich die Alltagssprache als eine dichte, reichhaltige und konstruierende Beschreibung der Wirklichkeit betrachten – die vor allem zukunftsoffene und mit hoher Bedeutungsvielfalt ausgestattete Ausdrücke und Wendungen bereitstellt und Vorschläge zum Verständnis und Zukunftsoptionen für die Möglichkeiten und Handlungsabsichten konstruiert.

Viele Therapieformen versuchen den Reichtum und die Komplexität der gegenwärtigen Alltagssprache, die von unseren Klient:innen in der Therapie verwendet wird, zu reduzieren, indem sie ihre offene und präfaktische Mehrdeutigkeit in singuläre, reale Bedeutungen umwandeln, die sie aus der Vergangenheit und ihren abgeleiteten Prinzipien gewinnen. 

Sie kontextualisieren das gegenwärtig und «prozesshaft» Gesagte im Rückblick auf vergangene Sachverhalte und leiten rückwärtsgerichtete Prinzipien zur Erklärung gegenwärtiger dialogischer Prozesse und dessen, was vor uns liegt, ab – nämlich das, was wir noch nicht wissen und was wir noch nicht konstruiert haben. Folglich versuchen sie, mit Hilfe der Fakten der Vergangenheit genau zu konstruieren, was in unserer Zukunft liegt und leiten Regeln ab, wie die Fakten der Vergangenheit in der Gegenwart verwendet werden können, um die Fakten der Vergangenheit zu rekonstruieren und sie sozusagen zu verewigen. Eine solche Wiederholung der Vergangenheit kann die Schaffung von Neuem hemmen und zu einem endgültigen Zusammenbruch führen. Und wie die «Kollapsologie» (die Untersuchung der Risiken des Zusammenbruchs der industriellen Zivilisation) genau diese lineare Haltung demonstriert – mehr von den Tatsachen zu produzieren, die in der Vergangenheit erfolgreich waren – kann dies kontraproduktiv sein, was schließlich zum Zusammenbruch des «mehr Desselben» führt. 

Was jedoch verloren geht, ist die Offenheit für neue, überraschende Wendungen, die von keiner postfaktischen Methode oder keinem Prinzip vorhergesagt werden können. Wie bereits erwähnt, schlagen wir stattdessen ein präfaktisches Verständnis des gegenwärtigen Dialogs vor, das andere Formen des Zuhörens und Miteinander-Sprechens zulässt. Dieses Verständnis therapeutischer Prozesse eröffnet Möglichkeiten für Neues im Bereich des Noch-Nicht-Bekannten und des Noch-Nicht-Erschaffenen. 

Was wir zu sagen versuchen, möchten wir durch ein therapeutisches Beispiel veranschaulichen. 

Ein etwa 30-jähriger junger Mann kam mit folgendem Problem in die Therapie: Er hatte eine intensive Liebesbeziehung; nach einigen Monaten wurde seine Freundin schwanger. Aus unterschiedlichen Gründen entschied sich das Paar für eine Abtreibung. In den folgenden Monaten nach der Abtreibung jedoch fühlten sich beide schuldig, beschuldigten sich gegenseitig und diese Prozesse entluden sich in ständigen Streitigkeiten. Nach etwa einem Jahr eskalierender Konflikte beschloss das Paar, sich zu trennen. 

Einige Jahre später erkannte der männliche Partner, dass er keine neuen Beziehungen mehr führen konnte, geschweige denn Sex mit einer Frau haben konnte. Er fühlte sich durch die Geschichte der vergangenen Beziehung so stark belastet und traumatisiert, dass er schließlich therapeutische Hilfe suchte, um sein Trauma aufzulösen. 

Seine Geschichte erzählen zu können und Verständnis beim Therapeuten zu finden, war für ihn entlastend, und er fühlte sich ermutigt, über seine Probleme und Blockaden gegenüber Frauen zu sprechen, so dass es ihm nach einigen Sitzungen besser ging.

Danach berichtete er, eine Frau kennengelernt zu haben, zu der er eine vertrauensvolle und nicht bedrohliche Beziehung aufbauen konnte, weil sie lesbisch war, weshalb Sex zwischen den beiden für beide – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – nicht in Frage kam. 

Anschließend sprach der Klient über verschiedene Probleme in seinem Leben und erwähnte zusätzlich, dass die Beziehung zu seiner neuen Freundin immer vertrauensvoller wurde – sie konnten über fast alles reden, außer über seine traumatisierende Beziehung zu seiner Ex-Freundin. Er brachte es nicht übers Herz, ihr davon zu erzählen, obwohl er es ihr sagen wollte.

In einer anderen Sitzung war der Wunsch, ihr seine Geschichte zu erzählen, das Hauptthema. Der Klient fühlte sich zwischen dem Wunsch, es ihr zu sagen und dem fehlenden Mut dazu, gefangen. Der Therapeut schlug dann vor, dass der Klient alles, was er seiner lesbischen Freundin mitteilen wollte, in einem Brief aufzuschreiben, aber ihr den Brief nicht zu geben. Der Brief könnte als Vorbereitung für die nächste Sitzung dienen und das Thema könnte zu diesem Zeitpunkt weiter reflektiert werden (Penn, 2009). 

In der folgenden Sitzung berichtete der Klient, dass er den Brief nicht geschrieben, aber mit seiner lesbischen Freundin über das Trauma gesprochen habe. Zu seinem Erstaunen hatte das Gespräch mit seiner Freundin ihre vertrauensvolle Beziehung noch mehr gestärkt. Er bestätigte diese Tendenz in den nächsten Sitzungen. 

Einige Sitzungen später berichtete er schließlich, dass beide eine intime Beziehung begonnen hätten, in der auch ihre Sexualität zu wachsen begann, aber er wisse nicht, wie ihre Beziehung weitergehen würde. Schließlich stellte er überraschend fest, dass sich das frühere Problem, das seinen Wunsch zur Teilnahme an einer Psychotherapie ausgelöst hatte, aufgelöst hatte. 

Wie können also Therapeut:innen zur gegenwärtigen dialogischen Zusammenarbeit beitragen? Auf diese Frage werden wir uns im nächsten Abschnitt konzentrieren.

Präsente dialogische Sensibilität

Wie von Harlene Anderson und Harry Goolishian (1992) vorgeschlagen, sollten Therapeut:innen eine Position des «Nicht-Wissens» oder des «Lernens» einnehmen, um bei ihren Klient:innen eine Offenheit für das gegenwärtige Werden und zukünftige Möglichkeiten zu schaffen. Dies impliziert, dass Therapeut:innen keine höhere Position postfaktischen Wissens besitzen als Klient:innen oder einen privilegierten Zugang einer höheren Einsicht besitzen. Expert:innen werden durch eine «wissende» Position definiert, die sie ausüben, indem sie ihr Wissen anwenden. Die Negation dieser Art des Wissens ist folglich Nicht-Wissen; man kann auch sagen, dass das Einnehmen der Position des Nicht-Wissens nahelegt, mit ihren Klient:innen als Nicht-Expert:in zusammenzuarbeiten. Was Harlene Anderson und Harry Goolishian getan haben, war, das ganze paternalistische Expert:innendenken und -verhalten auf den Kopf zu stellen und ihre Klient:innen stattdessen als Expert:innen zu betrachten. Die Therapeut:innen (einschließlich ihrer selbst) werden so in eine Lernposition versetzt. Das Ergebnis war das geteilte Expertentum, oder genauer gesagt, die gleichberechtigte therapeutische Zusammenarbeit (Anderson, 1999). Es war der Ausweg aus dem Sackgassentanz gegenläufiger Haltungen von klientenzentrierten Expert:innen und expertenzentrierten Klient:innen. 

Sobald Therapeut:innen ihre Position als Lernende (Nicht-Wissende) zugeben, werden sie ihre Klient:innen eher zu einer gleichberechtigten Beziehung einladen; dies ermöglicht offene und kreative Formen der dialogischen Zusammenarbeit. Dadurch wird Wissen in Beziehungen also sozial konstruiert. Dazu müssen Therapeut:innen ihre bequeme Position verlassen, die Prinzipien des postfaktischen Expert:innenwissens anzuwenden und beginnen, ihren Teil der Zusammenarbeit aus dem unsicheren und unvorhersehbaren Bereich des gegenwärtigen, präfaktischen und relationalen Lernens beizutragen. Metaphorisch gesprochen müssen Therapeut:innen in den Fluten der sich ständig verändernden Präsenz von Dialogen schwimmen und – abstrakter ausgedrückt – die Präsenz des Präfaktischen – des Noch-nicht-Gesagten, des Noch-Nicht-Getanen und des Noch-Nicht-Gewussten betonen. 

Die Betonung präfaktischer Prozesse impliziert eine Sensibilisierung für den gegenwärtigen Moment des Klient:in-Therapeut:in-Dialogs, die kulturellen und relationalen Kontexte des gegenwärtigen Dialogs und die gegenwärtigen inneren Dialoge von Klient:innen und Therapeut:innen, die aus ihren Gedanken und Gefühlen und der Antizipation von Konsequenzen bestehen. Wir tun dies, indem wir «in uns beiden einzigartige Antizipationen hervorrufen, was als nächstes passieren könnte, zusammen mit sozusagen ‚handlungsleitenden Ratschlägen‘ darüber, was wir als nächstes tun könnten» (Shotter, 2016, S. 76). 

Es impliziert, dass die Therapeut:in keinen vordefinierten «Plan» im Sinne eines Konzepts für das Ergebnis des gegenwärtigen Dialogs hat und die «richtigen» Entscheidungen für die Klient:innen nicht kennt. Eine präfaktische Haltung impliziert Offenheit für aufkommende, unkontrollierbare und unvorhersehbare Ereignisse. Da es auch eine anhaltende Sensibilität und gegenseitiges Verständnis gibt, hat es mit Liebe zu tun (Shotter, 2016). Dies geschieht Schritt für Schritt durch das Verständnis der Details der Umgebung der Klient:innen. Indem wir ein präfaktisches Verständnis annehmen, können wir den Klient:innen helfen, sich zu fragen, «wie es weitergehen soll» (Wittgenstein, 2003, Nr. 151). 

Tom Andersen (1997) trug zu dieser Bewegung bei, indem er unsere Aufmerksamkeit als Therapeut:innen auf die Sensibilität für Gespräche und Dialoge lenkte. Er war einer der wenigen Therapeuten, die eine höhere Sensibilität einer Therapeuten:in als förderlich für die dialogische Zusammenarbeit zwischen Klient:in und Therapeut:in ansahen. Dementsprechend betrachtete Anders Lindseth (2005), ein norwegischer Philosoph und Tom Andersens Kollege in Tromsœ, Norwegen, diese therapeutische Haltung als «berührtes Nicht-Wissen». Man könnte hinzufügen, dass die Fähigkeit, berührt zu werden, die herausragende Qualität der Sensibilität ist. Shotter nennt diese Gefühle «spezifisch vage» – ähnlich wie «partizipatives» oder «Verbundenheits-Denken», die auf Beziehungen reagierende Art des Denkens und Sprechens, die wir spontan in unseren alltäglichen Gesprächen machen, im Gegensatz zu der Art des «Darüber-Denkens», das wir im referentiell-repräsentativen Denken tun, wenn wir philosophisch oder theoretisch sprechen (Shotter, 2016, S. 24). Er betont, dass der Aspekt des Denkens in Verbindung mit Sensibilität zu einem Spüren von Öffnungen und einem Verstehen von Übergängen zum Neuen führt. Was wir präsente dialogische Sensibilität nennen, impliziert dann die Reaktionsfähigkeit der Therapeuten:in auf die dichte, prospektive, gesunde Menschenverstands-Sprache von Klient:innen und Therapeut:innen (Shotter, 2016). 

Andererseits wäre eine distanzierte, «kalte» Experte:in auf dem Gebiet der Psychotherapie das andere Extrem. Indem man auf vergangene Fakten zurückblickt, feiert man dann die postfaktische Haltung des Wissens. So würde eine nicht wissende, berührte Person die relationalen dialogischen Prozesse in der Gegenwart spüren, die die präfaktischen und zukünftigen relationalen Prozesse in der gegenwärtigen dialogischen Zusammenarbeit vorbereiten. 

All dies würde natürlich nichts bedeuten, wenn es in einer monologischen, nicht wertschätzenden, das heißt einseitigen Kommunikation praktiziert würde. Wie Anderson (1999), Gergen, McNamee & Barrett (2003), Seikkula (2007) und Shotter (2016) bei verschiedenen Gelegenheiten vorgeschlagen haben, ist eine dialogische Ausrichtung notwendig, um mit Klient:innen zu lernen – bewegt und berührt und offen zu sein für die neuen Möglichkeiten. Wie Bakhtin (1971) andeutet, befinden wir uns immer in Prozessen verwobener innerer, äußerer und offener Dialoge, und die Erschaffung von Wirklichkeit ist eher ein polyphones Unterfangen als eine monologische, einseitige Beschreibung (siehe auch Deissler, 2016). 

Was wollen wir also ausdrücken, wenn wir den Begriff der präsenten dialogischen Sensibilität für die Zusammenarbeit im Kontext der Therapie verwenden? Natürlich können wir uns fragen, was das Wort Dialog im Altgriechischen bedeutete, bestehend aus zwei Wörtern – dia – bedeutet so viel wie durch – und logos – bedeutet sprechen/reden. Dialog im Therapiekontext bedeutet also, so könnte man sagen, aus therapeutischen Gründen miteinander «durch und durch» zu reden und dafür sollte man als Therapeut sensibel sein. Das Schreiben dieses Artikels wäre jedoch nicht erforderlich, wenn dies selbstverständlich wäre. Also um mehr als nur postfaktischen Aussagen über die Bedeutung des Dialogs zu machen, wollen wir unsere Intentionen etwas weiter ausführen und der dialogischen Zusammenarbeit neue Bereiche eröffnen: 

(1) Die dialogische Zusammenarbeit befindet sich immer im Wandel. Es scheint uns die zentrale menschliche Aktivität zu sein, die immer dann passiert, wenn zwei und mehr Menschen zusammenkommen, z.B. in der Therapie. Und es wird auch passieren, wenn Sie es nicht planen oder gar versuchen sollten, es zu verhindern.

(2) Im Prozess der dialogischen Zusammenarbeit sollten wir präfaktisch orientiert sein, das heißt, wir sind auf dem Weg, durch gemeinsames Reden und Handeln Neues zu generieren, zu planen oder zu antizipieren.

(3) Durch mehrfaches (polyphones) Beschreiben und gegenseitigem Zuhören, was der andere sagt, sind wir auf dem Weg, gegenseitiges «responsives Verstehen» (Shotter, 2016) zu schaffen, insbesondere für die Absichten und Ziele, die wir ansteuern.

(4) Indem wir uns auf diese Prozesse einlassen, schaffen wir einen relationalen, dialogischen Raum, der eine Art dritter Bereich ist. In diesem Raum werden diese laufenden Prozesse gefördert, gebunden und aufgelöst – und neue Möglichkeiten und Zuversicht für die Zukunft geschaffen.

(5) Sie resultieren schließlich in etwas spezifisch Neuem – man kann es als neue Formen des miteinander Redens, des anderen Zuhörens und gemeinsamen Reflektierens betrachten – also neue Formen der dialogischen Zusammenarbeit. Die Ergebnisse können auch eine neue Sprache beinhalten, die mit einem neuen Vokabular für alte Konflikte (als Beispiel) neue Möglichkeiten eröffnet. Diese Prozesse sind immer unterwegs und nie abgeschlossen – so oft sie ein beabsichtigtes Produkt sein können, können sie zufällig und ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt sein.

Indem wir diese Teile zusammenfügen, erhöhen wir unsere präsente dialogische Sensibilität für die präfaktischen Prozesse. Abschließend wollen wir mit einem paradigmatischen psychotherapeutischen Beispiel unserer Praxis schließen: 

Ein frisch verheiratetes Paar – die Frau war 68 Jahre alt, der Mann 72 Jahre alt – kam verzweifelt in ständigem Streit verstrickt in die Therapie. Sie erklärten, wenn sie so weitermachen und eine Therapie ihnen nicht helfen würde, würden sie sich scheiden lassen. Der Therapeut war von der Intensität ihrer Kämpfe überwältigt, und Kolleg:innen, die er um Unterstützung in der Therapie bat, lehnten ihre Unterstützung wegen der Ausweglosigkeit ihrer Situation ab.

Da sie noch nicht lange verheiratet waren, fragte sich der Therapeut, ob vielleicht etwas passiert war, das sie so verzweifelt streiten ließ. Als der Therapeut Fragen dazu stellte, schien das Paar nicht bereit zu sein, darüber zu sprechen, und es schien einige weitere unausgesprochene Probleme zwischen dem Paar zu geben. Die nächsten Sitzungen verliefen also sehr zaghaft und langsam. 

Schließlich sagte sie in einer Einzelsitzung nach einer Weile des Schweigens, dass es etwas gab, was sie und ihr Ehemann in den vorherigen Sitzungen nicht gesagt hatten. Als ich sie fragte, ob sie bereit sei, darüber zu sprechen, stimmte sie schließlich zu und erzählte, dass sie und ihr Mann einen Spaziergang auf einem Friedhof gemacht hätten und während dieses Spaziergangs sagte sie zu ihm, dass sie neben ihm begraben werden wolle. Sie sagte verärgert, dass der Ehemann reagierte, indem er verächtlich prustete. Als sie gefragt wurde, was das für sie bedeutete, regte sie sich auf und behauptete, ein Therapeut sollte es nach all seinem Studium wissen. Der Therapeut stellte in Frage, inwiefern es eine Frage des Wissens, als eher eine des Verstehens ihrer Interpretation der Situation sei. Also sagte sie schließlich, dass ihr Wunsch, neben ihm begraben zu werden, eine Liebeserklärung an ihren Ehemann sei und seine negative Reaktion sie zutiefst verletzt habe und sie sich fragte, ob er neben seiner ersten Frau begraben werden wolle. 

In der nächsten Sitzung kam der Mann alleine, und es schien, als hätte das Paar allein über die letzte Sitzung mit der Frau gesprochen. Er sagte, er sei Atheist und es sei ihm egal, wo er begraben und verrotten werde, aber seine Frau könne seine Überzeugungen nicht verstehen. Er gab jedoch zu, dass er verstehen könne, dass sie durch seine Reaktion verletzt sein könnte. In den folgenden Sitzungen kamen sich sowohl die Ehefrau als auch der Ehemann näher und bestätigten, dass sie weiterhin über ihre unterschiedlichen Standpunkte stritten. 

Der Therapeut hatte das Gefühl, dass sie unterschiedliche philosophische Sprachen sprechen – über das Leben, den Tod, die Liebe und ihre gemeinsame Zukunft und die Trennung durch den Tod. Die Frau schien davon überzeugt zu sein, dass es ein Leben nach dem Tod gab und dass die Liebe nach dem Tod weitergehen würde; deshalb wollte sie neben ihm begraben werden, um ihre Beziehung nach dem Tod fortzusetzen. Der Ehemann hielt an seinem atheistischen Standpunkt fest, überzeugt davon, dass Leben und Liebe mit dem Tod enden würden.

Der Therapeut versuchte, mit ihnen sensibel zu sprechen, mit dem Ziel, beide Sichtweisen miteinander in Einklang zu bringen oder zumindest eine sensiblere Art zu entwickeln, über diese Themen zu sprechen, oder vielleicht gemeinsam mit ihnen eine neue Sprache zu entwickeln. Der Therapeut versuchte auch, ein subtileres (philosophisches) Vokabular für ihre beiden Überzeugungen bereitzustellen, indem sie gegenseitig sensibler für die Gefühle des anderen waren. Im Laufe der nächsten Sitzungen schienen sie sich mehr für ihre individuellen Gefühle zu interessieren und blieben sehr kritisch gegenüber den Überzeugungen des jeweils anderen. Sie behaupteten, dass eine gemeinsame Sprache nicht entwickelt oder ihre Hauptunterschiede aufgelöst werden könnten. Schließlich teilten sie dem Therapeuten mit, dass beide übereinstimmen würden, dass die Therapie ihnen nicht weiter helfen könne, ihre Probleme zu bewältigen, und dass sie sich daher darauf geeinigt hätten, die Therapie abzubrechen. 

Der Therapeut bedauerte, dass er ihnen nicht mehr nützlich sein konnte und erklärte sich bereit, die Therapie unter den gegebenen Umständen zu beenden – mit dem Angebot, dass sie jederzeit wiederkommen könnten, wenn sie ihre Meinung ändern würden. Ein paar Monate später spazierte der Therapeut durch Marburg (Deutschland) und sah zufällig das Paar, das Arm in Arm ging und sehr glücklich miteinander aussah. Der Therapeut fragte sich, ob ihre therapeutische Zusammenarbeit erfolgreich gewesen sei, obwohl das Paar am Ende der Therapie unzufrieden zu sein schien. Könnte es sein, dass eine neue Art, über sensible existenzielle Probleme zu sprechen, für sie hilfreich war und vielleicht sogar neue Ideen einer philosophischen Sprache für sie geschaffen hat, die mögliche neue Wege der dialogischen Zusammenarbeit zur Auflösung ihrer Widersprüche bietet? 

Dialogische Praxis kontextualisieren 

In unserem letzten Beispiel des frisch vermählten älteren Ehepaares könnte man aus fachmännischem postfaktischen Wissen schließen, dass das Therapieziel nicht erreicht wurde, also nicht erfolgreich war und die Therapie daher ohne die angestrebten Ergebnisse beendet wurde. Eine Weiterentwicklung der Paarbeziehung in Form von Diskontinuitäten, unvorhersehbaren Prozessen und sich entwickelnden neuen Bedeutungen nach der Therapie würde weder als explizites Ziel noch als inhärentes Ergebnis innerhalb und nach dem gegenwärtigen therapeutischen Prozess betrachtet. Infolgedessen könnte das Ergebnis in der postfaktischen Sichtweise als Zufall angesehen werden und wird nicht als möglicherweise durch den präfaktischen Therapieprozess hervorgerufen angesehen.

Innerhalb unseres Therapieverständnisses entfalten sich jedoch die Transformationsprozesse des kollaborativen Dialogs immer noch und werden von Beginn, während und nach der Therapie geschätzt. Sensibel für präfaktische Prozesse im gegenwärtigen therapeutischen Dialog bleibt eine Therapeut:in offen für die Weiterentwicklung innerhalb und nach dem gegenwärtigen Dialog, indem sie an einer gegenwärtigen dialogischen Sensibilität festhält, immer offen für das Unvorhersehbare, die Diskontinuität und das Staunen über das Neue. 

Die Sensibilisierung für präfaktische Beziehungsprozesse wie unvorhergesehene Ergebnisse, nämlich ein glückliches Paar, das nach einem scheinbar erfolglosen therapeutischen Ende durch die Stadt spaziert, hält eine Therapeuten:in aufmerksam für neue Entwicklungen außerhalb des Bereichs eines beabsichtigten Standardergebnisses der Zusammenarbeit zwischen Therapeut:innen und Klient:innen. 

Dialogische Zusammenarbeit findet in der Gegenwart statt und weist über sich hinaus auf etwas, das noch nicht getan, also präfaktisch ist. Es ist das Ergebnis eines präfaktischen kollaborativen Dialogs zwischen Klient und Therapeut und ihrer gemeinsamen Expertise im Bereich des noch Unbekannten. Solche Ergebnisse können als aus dem Bereich eines dichten, prospektiven Sinns hervorgehend verstanden werden, der unter allen Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft als intuitiv erlebte Tendenz existiert, die aus unseren dialogisch strukturierten Aktivitäten hervorgeht (Shotter, 2016).

In unserem ersten Beispiel traute sich der junge Mann nicht, mit seiner neuen lesbischen Freundin über seine frühere Beziehung zu sprechen. Der Vorschlag des jungen Mannes, seiner neuen Freundin einen Brief zu schreiben und dann ein Gespräch zwischen Klient und Therapeut darüber zu führen, eröffnete dem Klienten andere Möglichkeiten, nämlich den Brief nicht zu schreiben und stattdessen mit seiner Freundin zu sprechen. Dies wiederum eröffnete eine befriedigende und völlig neue Art von Beziehung und verwandelte die beiden ehemaligen Freunde in Liebende – ein erstaunlicher, zuvor unvorhersehbarer oder zumindest unbeabsichtigter Beziehungsfluss. 

Sensibel bleibend für präfaktische Prozesse können Klient:in und Therapeut:in gemeinsam darüber sprechen, wie man die Beziehung versteht – eine vertrauensvolle – und was die Klient:in tun könnte – einen Brief schreiben oder nicht – und etwas Unerwartetes tun. Ein solcher kollaborativer Dialog kann in den Bereich des Neuen und in Richtung eines solchen möglichen Ergebnisses fließen, indem «handlungsleitende Antizipationen … eine Verschiebung von einer Beschäftigung mit dem Inhalt von Mustern bereits gesprochener Wörter (als Wortformen) hin zu einer Sorge mit der Erregung von Gefühlsbewegungen durch unsere Worte in ihrem Sprechen» (Shotter, 2016, S. 58). Auf diese Weise ermöglichen die präfaktischen Prozesse im Dialog zwischen Klient:innen und Therapeut:innen die kollaborative Konstruktion von Neuem, Möglichkeiten für Noch-Nicht-Gesagtes, Bekanntes und Getanes. 

Präfaktische Reflexionen

Woher stammen all diese Ideen? Hauptsächlich denken wir, dass sie von unserer Priorisierung der Praxis vor der Theorie herrühren. Unsere Ausführungen implizieren, dass manche Ideen besser zu unseren Praxisformen passen als andere. Im Allgemeinen ziehen wir sozialkonstruktionistische, präfaktische Ideen denen des linearen, postfaktischen Denkens vor. 

Unser Dank gilt auch unseren Klient:innen, mit denen wir ausführlich über die Probleme sprechen, die sie zur Therapie führen, und ihre Erwartungen an die Therapieinhalte sowie die Formen und Ziele, die sie sich durch die Therapie erfüllen wollen. Da wir die Praxis als unseren Leitfaden für Therapie betrachten, erscheint uns die dialogische Arbeit mit Klient:innen und die Sensibilisierung für deren aktuellen Beziehungen am fruchtbarsten. 

Wir danken insbesondere Harlene Anderson ganz herzlich dafür, dass sie uns eingeladen und inspiriert hat, diesen Artikel zu schreiben. Des Weiteren danken wir Diane Gehart für ihre bilingualen Kommentare und Anmerkungen zum englischen Entwurf dieses Artikels. Unser Dank gilt darüber hinaus auch unseren Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir unsere therapeutische Arbeit seit vielen Jahren tagtäglich reflektieren. Ihre wertschätzende Art, uns zu unterstützen und zu ermutigen, hat uns geholfen, an der Arbeit festzuhalten, die wir vor vielen Jahren begonnen haben. 

Viele der in unserer Referenzliste genannten Kolleginnen und Kollegen betrachten wir nicht nur als fachliche, sondern auch als persönliche Freunde (einige von ihnen sind nicht mehr bei uns). Mit ihren anregenden, genialen und brillanten Beiträgen zum Feld der Psychotherapie bereiteten sie den Kontext für unser Beziehungsfeld vor, in dem wir uns zu Hause fühlen und wo wir unsere Quelle der Inspiration finden.

Literatur

Andersen, T. (1997). Die Steigerung der Sensitivität des Therapeuten durch einen gemeinsamen Forschungsprozess von Klienten und Therapeuten. Zeitschrift für Systemische Therapie, 15, 160-167.

Anderson, H., (1999). Das therapeutische Gespräch. Der gleichberechtigte Dialog als  Perspektive der Veränderung. Klett-Cotta, Stuttgart.

Anderson, H. & Goolishian, H., (1992). Der Klient ist Experte. Ein therapeutischer Ansatz des Nicht-Wissens. Zeitschrift für Systemische Therapie, 10(3): 176-189. 

Bakhtin, M. M., (1971). Probleme der Poetik Dostoevskijs. Ullstein, Frankfurt/Main.

Deissler, K. G., (2007). Der sanfte dialogische Wandel – Nachruf auf Tom Andersen. Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung, 25, 185-189.

Deissler, K. G., (2016). Sozialer Konstruktionismus – Wandel durch dialogische Zusammenarbeit. In: Levold, T. & Wirsching, M. (ed). Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch. Carl-Auer, Heidelberg (2. Auflage).

Gergen, K. J., McNamee, S. & Barrett, F., (2003). Transformativer dialog. Zeitschrift für Systemische Therapie, 21, 69-89.

Lindseth, A., (2005). Zur Sache der Philosophischen Praxis. Philosophieren in Gesprächen mit ratsuchenden Menschen. Karl Alber, München.

McNamee, S. & Gergen, K., (1998). Relational Responsibility: Resources for Sustainable Dialog. London: Sage Publications.

Penn, P., (2009). Joined imaginations. Writing and language in therapy. The Taos Institute Publications. New Mexico: Taos.

Seikkula, J.& Arnkil, T. E., (2007). Dialoge im Netzwerk. Neue Beratungskonzepte für die psychosoziale Praxis. Paranus, Neumünster.

Shotter, J., (2016). Speaking, actually: Towards a new ‚fluid‘ common-sense understanding of relational becomings. Everything is connected Press. Farnhill, UK.

Wittgenstein, Ludwig, (2003). Philosophische Untersuchungen. Suhrkamp, Berlin. 

Autoren

Dr. Klaus G. Deissler, Marburg Institute, praxis+@deissler.org
Dr. Ingo Wolf, ingo_a_wolf@gmx.de
Ahmet Kaya, Marburg Institute, kaya1@mics.de


[1] Überarbeitete Version der englischen Originalfassung 2022, in: https://collaborative-practices.com/; mit freundlicher Genehmigung der Herausgeberin Harlene Anderson.

[2] «After the fact», Shotter (2016).

Ein Kommentar

  1. Martin Rufer sagt:

    Lieber Tom, liebe KollegInnen
    Habt Dank für den interessanten und v.a. auch diskussionswürdigen Text. Vieles spricht wohl nicht nur mir, sondern vielen dialogisch TherapeutInnen „schulenübergreifend“ aus dem Herzen. Trotzdem stellen sich Fragen im Umgang mit dem „Prä-Faktischem“, das den Prozess, ob wir es wollen oder wahrnehmen mit bestimmt. Vielleicht nicht ganz zufällig sind die Praxisbeispiele Beispiele aus nicht-klinischen Kontexten (i.e.S). Lassen sich Fakten (z.B. PTSD, Autismus Spektrum Störung, dissoziative Persönlichkeitsstörung) soweit „ausblenden“, dass der Prozess/Dialog „nur“ noch von Post-Faktischen (mit-)gesteuert wird und Linderung des Leidens auch dann gerade eintritt, wenn ich mich als TherapeutIn mitfühlend entlang des „Prä-Faktischen“ bewege? Und was würden die KollegInnen aus der somatischen Medizin dazu sagen?

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