systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

6. Oktober 2014
von Tom Levold
1 Kommentar

Aufgewachsen in „eiserner Zeit“

Barbara Stambolis (2014): Aufgewachsen in „eiserner Zeit“

Barbara Stambolis (2014):
Aufgewachsen in „eiserner Zeit“

In den letzten Jahren ist das Schicksal von Kindern, die vor dem oder im letzten Weltkrieg geboren worden sind, stärker in das Licht der Öffentlichkeit getreten. Interessant ist diese Perspektive nicht nur, um die Bedeutung des Erfahrenen für die Betroffenen selbst besser zu verstehen, sondern auch vor dem Hintergrund einer mehrgenerationalen Betrachtung. Welche Konsequenzen für den Aufbau und die Erhaltung von Beziehungen sowie für die Gründung von Familien und Erziehung der eigenen Kinder haben belastende oder gar traumatische Erfahrungen im eigenen (frühen) Kindesalter? Was davon ist erinner- und bearbeitbar, was wirkt im Dunkeln, ohne dass die damit verbundene Dynamik erkennbar würde? Das in diesem Jahr im psychosozial-Verlag erschienene Buch der Historikerin Barbara Stambolis (Professorin in Neuerer und Neuester Geschichte, Universität Paderborn) behandelt die Situation der Kriegskinder zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise. Das liegt angesichts des 100jährigen Jahrestages des Ausbruch des 1. Weltkrieges und der damit verbundenen Publikationswelle nahe, eröffnet aber vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten „Kriegskinder-Literatur“ auch neue Blickwinkel. Barbara Stambolis macht in ihrer Einleitung darauf aufmerksam, dass es neben vielen Ähnlichkeiten zwischen den Kriegskindern des ersten und zweiten Weltkrieges eben auch Unterschiede gibt: „Zahlreiche Angehörige der Kriegskindergeneration des Zweiten Weltkriegs stellen heute im Alter fest, dass ihre Eltern – zwischen

Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise aufgewachsen – vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie später ihre Kinder in und nach dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Spurensuche in privaten Unterlagen ist oft wenig ergiebig und auch in geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen finden sie nur wenige Anhaltspunkte. Diesem ›blinden Fleck‹ gilt in der vorliegenden Publikation die Aufmerksamkeit. Manche Leserinnen und Leser – zwischen 1930 und 1945 geboren – werden sich in den Kindern des Ersten Weltkriegs teilweise wiedererkennen, sie werden aber auch feststellen, dass sie in vielerlei Hinsicht unter anderen Bedingungen aufgewachsen sind und dass ihre Lebensperspektiven sich von denen Heranwachsender nach 1918 grundlegend unterscheiden. Jüngere, nach 1945 Geborene, werden zum einen gängigen Perspektiven auf das 20. Jahrhundert einige neue Facetten hinzufügen und sich der Frage nach der Dauer mentaler und psychohistorischer Erbschaften zuwenden können. Es handelt sich im Folgenden um einen vorsichtigen historischen Brückenschlag zwischen Kindheits- und Jugenderfahrungen im bzw. nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, dem hoffentlich weitere, vor allem detailliertere Untersuchungen folgen werden.“ Hier ein auf Autorenwunsch anonym bleibende Rezension des Buches für systemagazin: Weiterlesen →

5. Oktober 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

Der Beitrag der Kinder- und Jugendpsychiatrie zum Kinderschutz

Wilhelm Rotthaus

Wilhelm Rotthaus

Vor kurzem habe ich an dieser Stelle das aktuelle Heft des Kontext vorgestellt, das dem Thema Kinderschutz gewidmet ist. Der Beitrag der Kinder- und Jugendpsychiatrie zum Kinderschutz ist Thema eines Artikels von Wilhelm Rotthaus, der von 1983 bis 2004 die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinischen Kliniken in Viersen geleitet hat. Der frühere Vorsitzende der DGSF hat in zahlreichen Veröffentlichungen wichtige Grundlagen für eine systemischen Kinder- und Jugendpsychiatrie geschaffen. Im abstract seines aktuellen Textes, der auch im Wissensportal der DGSF zu finden ist, heißt es: „Die Kinder- und Jugendpsychiatrie kann – sei es ambulant oder stationär – einen wesentlichen Beitrag zum Kinderschutz leisten, wenn sie ihre Aufgabe darin sieht, Eltern dabei zu helfen, ihre Elternfunktion (wieder) erfolgreich wahrzunehmen, und Kinder sowie Jugendliche dabei unterstützt, in diesem Rahmen die eigenen Entwicklungsaufgaben nach ihren Möglichkeiten möglichst gut zu bewältigen. Dazu ist es gegebenenfalls notwendig, dass in Kooperation mit dem Jugendamt ein Zwangskontext gestaltet wird, der eine solche Arbeit erst möglich macht. Ein besonderer Nutzen von kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnosen für den Kinderschutz in den Systemen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie erscheint nicht erkennbar. Der Beitrag ist aus der Sicht des Autors geschrieben, der über lange Zeit ärztlicher Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie Viersen war.“

Der vollständige Text ist hier zu finden…

4. Oktober 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

Zitat des Tages: Niklas Luhmann über Macht

„In der Theorie wird man aber nicht auf die Dauer ignorieren können, daß Macht nicht nur in den Händen einzelner Teilnehmer, sondern auch auf der Ebene des Systems selbst eine Variable ist, die mit anderen Variablen – zum Beispiel Kommunikationsdichte, Ausmaß des Konsenses, Ausmaß der Interdependenz des Handelns – zusammenhängt. Eine Steigerung der wechselseitigen Interdependenzen kann dazu führen, daß die Macht aller Teilnehmer aufeinander zunimmt, jeder einzelne also mächtiger und abhängiger zugleich wird. Und bei einer solchen Systementwicklung wird es vermutlich notwendig werden, Macht in Formen zu generalisieren, die nicht mehr allein am mutmaßlichen Kampfausgang orientiert sind, also auch in dieser Hinsicht mit Prämissen der klassischen Machttheorie zu brechen“

(aus „Macht im System“, Berlin 2012 [Suhrkamp], S. 38)

3. Oktober 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

Luhmanns Spaziergang in den brasilianischen Favelas

M. Grizelj u. D. Kirschstein (Hrsg.) (2104) Riskante Kontakte Postkoloniale Theorien und Systemtheorie

M. Grizelj u. D. Kirschstein (Hrsg.) (2104)
Riskante Kontakte
Postkoloniale Theorien und Systemtheorie

Unter diesem Titel hat Linda Maeding, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen imFachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften, eine Rezension zum Sammelband „Riskante Kontakte. Postkoloniale Theorien und Systemtheorie?“ verfasst, der von Mario Grizelj und Daniela Kirschstein herausgegeben wurde und 2014 im Kulturverlag Kadmos erschienen ist. Darin schreibt sie: „Das systemtheoretische Konzept einer Weltgesellschaft ohne Außen ist wie geschaffen für eine postkoloniale Kritik. Niklas Luhmann gelangte in seinen späteren Schriften selbst zu einer Modifizierung systemtheoretischer Globalitätsannahmen, die sich insbesondere an dem Begriff der – in der Weltgesellschaft eigentlich nicht vorgesehenen – Exklusion festmachte: „Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muß man feststellen, daß es doch Exklusion gibt, und zwar so massenhaft und in einer Art von Elend, die sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebendig wieder herauskommt, kann davon berichten“, schreibt Luhmann in „Jenseits von Barbarei“ nach einer Brasilienreise. Unabhängig von den exotistischen Elementen seiner Beschreibung hat sich der Systemtheoretiker hier ganz offensichtlich ein Stück weit von seinem Theoriegebäude entfernt und von unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen affizieren lassen.

Sucht man nach theoretischen Verbündeten der postkolonialen Studien, so denkt man an erster Stelle wohl an Poststrukturalismus und Dekonstruktion – kaum aber an die Systemtheorie. Dass es lohnend sein kann, beide ins Verhältnis zueinander zu setzen, zeigen Mario Grizelj und Daniela Kirschstein in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband „Riskante Kontakte. Postkoloniale Theorien und Systemtheorie?“. Das umfangreiche Buch begründet die Begegnung zwischen beiden Theorieansätzen nicht nur programmatisch, sondern spielt sie zugleich auch in mehreren Fallstudien und an Beispielen aus Gesellschaft und Literatur durch.“

Die vollständige Rezension lesen Sie hier…, das Inhaltsverzeichnis und die Einleitung gibt es als PDF hier…

 

2. Oktober 2014
von Tom Levold
1 Kommentar

Dirk Baecker über die Idee der Universität

Dirk Baecker

Dirk Baecker

Wie vor kurzem zu lesen war, ist Stephan Jansen, der immer noch junge (43) und sowohl als Wissenschaftler wie als Unternehmer überzeugende Gründungspräsident der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen, vorzeitig zurückgetreten. Obwohl er dafür in der Öffentlichkeit persönliche Gründe geltend gemacht hat, stehen Vorwürfe im Raum, die etwas mit der Verwendung von Sponsorengeldern und Bonuszahlungen an Professoren bei der Einwerbung von Drittmitteln zu tun haben (hier und hier) . Ohne zu diesen Vorwürfen Stellung zu nehmen, hat Dirk Baecker, seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und -analyse, in seinem Blog ein leidenschaftliches und sehr lesenswertes Plädoyer für die Idee der Zeppelin-Universität gehalten, die sich eben mit der Zersplitterung von Disziplinen nicht zufrieden gibt, sondern einen Komplexitätsbegriff verfolgt, der sich nachhaltig von traditionellen Vorstellungen von Wissenschaft unterscheidet: Weiterlesen →

1. Oktober 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

Systemische Impulse für die erzieherische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die durch sexuell übergriffiges Verhalten auffällig wurden

Frank Natho und Simone Bebermeyer vom Institut für Fortbildung, Supervision und Familientherapie in Halberstadt haben 2013 in der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung einen beachtenswerten Aufsatz über die Arbeit mit Jugendlichen veröffentlicht, die durch sexuell übergriffiges Verhalten auffällig wurden. Dabei unterziehen sie die auf einer Kontrolle und Defizitorientierung beruhenden „Täter-Orientierung“ einer kritischen Betrachtung und plädieren für einen Ansatz, der die Entwicklungsdynamik der Jugendlichen angemessen berücksichtigt, ihre Selbstwirksamkeitskonzepte fördert und Vertrauen und pädagogische Aufmerksamkeit an die Stelle von Misstrauen und Überwachung setzt. Weiterlesen →

30. September 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

M. = Max = Marianne = Mann?

1989 erschien in der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung eine Kampfansage von Marianne Krüll gegen eine bestimmte Verlagspraxis, nämlich die Geschlechtszugehörigkeit von AutorInnen bei Literaturangaben durch die bloße Nennung von Initialen der Vornamen unsichtbar zu machen. Hinter dieser Praxis vermutete sie eine systematisch gegen schreibende Frauen gerichtete sexistische Kampagne – die Beiträge von Frauen würden damit (da der Wissenschaftsbetrieb überwiegend durch Männer in Gang gehalten werde) gewissermaßen enteignet und u.U. als Produkte männlicher Erkenntnis dargestellt. Auch wenn ich die feministische Emphase dieser Darstellung nie geteilt habe (Frauenfeinde könnten Texte womöglich auch negativer bewerten, wenn sie geschlechtsspezifisch ausgeflaggt sind), war ich von diesem Text begeistert, weil er etwas thematisierte, was mich immer schon gestört hat: dass ich mir nämlich keine Vorstellungen von der Person machen konnte, die diesen Text verfasst hat, weil der Name dann nur noch eine Chiffre für die Autorenschaft ist, aber keine hinter dem Text stehende Person. Der Anteil der weiblichen Autoren im Wissenschaftsbetrieb dürfte seit 1989 deutlich zugenommen haben. Das Argument, dass Frauen mit der inkrimierten Praxis marginalisiert werden sollen, scheint mir daher mittlerweile an Überzeugungskraft verloren zu haben. Gleichzeitig ist aber deutlich zu sehen, dass es mittlerweile kaum noch Ausnahmen von der Regel gibt, d.h. wir finden nur noch selten die vollständigen Namen in Literaturverzeichnissen (ja: wir können uns noch glücklich schätzen, wenn wir überhaupt noch ein vollständiges Literaturverzeichnis in einer Zeitschrift finden dürfen). Gerade als Systemiker sind uns aber die Angaben zu den AutorInnen (Geschlecht, Nationalität, Herkunft, Arbeitsfeld) doch wichtige Kontextinformationen, weil Texte nicht für sich selbst sprechen, sondern beobachterabhängig sind. Im Kontext, der Zeitschrift, die ich selbst mit herausgebe, ist die Reduzierung auf das Initial des Vornamens genauso Praxis wie in der Zeitschrift, in der dieser Text 1989 erschienen ist. Für mich ein Grund, diese Praxis noch einmal mit dem Verlag zu diskutieren. Insofern danke ich Jürgen Hargens für die Anregung, diesen Beitrag im systemagazin nach 25 Jahren wieder zu veröffentlichen und Marianne Krüll für die Zustimmung. Weiterlesen →

29. September 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

Das Netz

https://www.youtube.com/watch?v=fHxRuLT4FIE

Auf Youtube ist einer der interessantesten Dokumentarfilme über die Kybernetik und das Internet aus dem Jahre 2004 zu sehen: Lutz Dammbecks Das Netz. In Wikipedia heißt es dazu: „Ausgangspunkt ist die kybernetische Betrachtung des Internets und die Parallelen zur modernen Kunstszene. Das erste Interview wird mit dem amerikanischen Literaturagenten John Brockman geführt, dessen Autor David Gelernter, ein Informatiker, von einer Bombe des Unabombers verletzt wurde. Brockman beschreibt seine persönlichen Anfänge in der Kunst und der erfolgreichen Verbindung mit moderner Informatik. Kultur der Kopie – daraufhin begibt sich die Dokumentation auf die Spur des Unabombers und dessen Manifest. Im folgenden Interview wird der Autor Stewart Brand befragt, der in den 1970er Jahren an LSD-Tests teilnahm und das Computernetz WELL initiierte.

Weiterhin geht es um das Manifest des Unabombers und diesen selbst.

Es erfolgt eine Darstellung der Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Militär. Dabei wird auf das wissenschaftliche Angebot Norbert Wieners eingegangen, der im Zweiten Weltkrieg für die Regierung der USA arbeitete. Wiener ist der Begründer der Kybernetik. Die theoretische Darstellung der Kybernetik beginnt mit einer Abhandlung über SAGE und das ARPANET. Die kybernetische Theorie wird im Folgenden hauptsächlich in Interviews mit dem Kybernetiker und Sozialkonstruktivisten Heinz von Foerster dargestellt.

Die soziologischen Ansätze der Macy-Konferenzen, über Kybernetik, die Ansätze der Frankfurter Schule, eine Faschismusskala zu entwickeln, werden als Einflüsse für die Entwicklung des Internets skizziert.“

28. September 2014
von Tom Levold
2 Kommentare

Rudolf Welter: Zeitverwalter

Rudolf Welter (Foto: T. Levold)

Rudolf Welter
(Foto: T. Levold)

Zum heutigen Sonntag gibt es den sechsten und letzten Text der Serie von literarischen Texten von Rudolf Welter (siehe hier) im systemagazin-Salon:

Rudolf Welter: Zeitverwalter

Am Tag, an dem ich lernte, dass es die Zeit gibt, hat meine Kindheit aufgehört zu existieren. Ich lebte bis anhin zeitlos, ohne Uhr, weil mir meine Eltern keine Uhr schenken wollten, wie das Eltern von Spielkameraden taten. Sie wollten mir eine Kindheit ohne Zeit gönnen, obwohl mein Vater vom Zeitgabegeschäft lebte (siehe unten). So waren meine Tage und Nächte strukturiert nach einem natürlichen Rhythmus, der aus Essen, Spielen, Aufstehen, Ausziehen, Schlafen, Träumen, Hundespazieren und mit Katzenspielen bestand.
Dann begann auch für mich das Zeitalter des Nachfragens: Wie viel Uhr ist es? Haben wir noch die Zeit? Ist die Zeit schon abgelaufen? Was zeigt deine Uhr? Wo könnte ich meine reparieren lassen? Letztere Frage hatte für meinen Vater eine spezielle Bedeutung, er war Uhrmacher. Sein Geschäft hing damals voller Uhren. Ich höre es noch, das Uhrenschlagen. Jede Viertelstunde fing ein lautes Schlagen der Zeit an, ich meinte, dass jede Uhr die Erste und Lauteste sein wollte im Anschlagen.
Zuhause ging es weiter mit dem Thema Zeit. Als es die Eltern als unausweichlich einsahen, uns Kindern die Zeit beizubringen, sorgte sich Vater darum. Er baute extra eine Lernuhr. Auf einer großen Kartonunterlage waren große Ziffern von eins bis zwölf gemalt. Die großen Zeiger konnten einfach verstellt werden.
Sonntags gab es häufig eine Torte zum Nachtisch. Auch die nutzte Vater, uns die Einteilung der Uhrzeit zu lehren. Es gab Viertelstücktorten, Halbstücktorten, Dreiviertelstücktorten und ganze Torten. Jetzt sollten wir die verschiedenen Stücke auf dem Ziffernblatt nachstellen, indem wir Zeiger bewegten. Wenn richtig übertragen, kriegten wir als Belohnung ein Stück Torte.
Während meine früheste Jugend eine zeitlose Lebensphase war, begann ich mich später immer mehr mit der Uhrzeit zu beschäftigen. Ich wurde auch Uhrmacher. Neben den mechanischen Belangen von Uhren, denen ich beim Reparieren begegnete, interessierte mich zunehmend die Beobachtung, dass viele Menschen Mühe bekundeten, mit der Handhabung von Zeit zurecht zu kommen. Zum Beispiel vergaßen Kunden, ihre reparierte Uhr abzuholen, obwohl sie sehr abhängig waren, ihre Uhr am Arm zu tragen. Schlimmer noch, wie ich aus den Medien vernahm, soll es Manager von Firmen geben, die viel Zeit in ihre Arbeit investierten ohne zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen. Sie sagten, sie hätten zu wenig Zeit, um ihre Aufgaben zu erledigen, wo sie doch ihre Zeit nicht einteilen können, sagten andere. Es soll gar vorgekommen sein, dass Manager versuchten, anderen Personen in ihren Unternehmen Zeit zu stehlen! Und andere glaubten die Zeit expandieren zu können, um zu mehr Zeit zu kommen! Andere klagten, zuviel Zeit zu haben, sie wüssten nicht, was mit der unausgefüllten Zeit anzufangen.
Ich machte etwas aus meinen Beobachtungen: Ich wurde Zeitverwalter, Zeitverwalter um Manager zu beraten. Ich führte dazu Seminare durch. Diese hielt ich weit ab vom geschäftigen Leben der Teilnehmenden. Am Eingang des Seminarraumes mussten sie ihre Uhren, Agenden, Mobiltelefone abgeben und versuchen, nicht an die Zeit nach dem Seminar zu denken.
Als Einführung las ich den Teilnehmenden Aphorismen vor, die anschließend diskutiert wurden:
Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten (Georg Christoph Lichtenberg).
Manche halten einen ausgefüllten Terminkalender für ein ausgefülltes Leben (Gerhard Uhlenbruck)
Man muss nicht immer überall dabei sein, meistens kommt man sowieso zu spät (Dieter Hüsch).
Die Zeit kann man nicht entschleunigen, aber man kann das Leben enthetzen (Karl Geissler)
Die Reaktionen der Teilnehmenden während der Durchführung der Seminare waren sehr unterschiedlich. Die einen kamen zur Einsicht, eigentlich genug Zeit zu haben, sie aber die Arbeit zeitlos planten, das hieße, die Arbeit ohne den Aspekt Zeit zu planen. Andere waren leise zornig auf mich, weil sie während dem Seminar zu wenig Zeit zum Essen hätten. Andere kritisierten meinen Umgang mit der Zeit im Seminar, nämlich, dass ich die Zeit nicht gut genutzt hätte, es wäre langweilig gewesen, ich müsste selber ein Zeitseminar besuchen. Und einige schieden vor Abschluss des Seminars ohne Angaben der Gründe aus.
Bald gab ich die Seminartätigkeit auf. Ich konnte keinen Sinn mehr darin sehen, ich wollte positive Rückmeldungen für mein Tun bekommen und so kehrte ich zurück in meinen Uhrenladen, nahm mich nebenbei der Halbwertszeit von Herbstzeitlosen an.
Ich bin jetzt achtzig Jahre alt. Abschließend halte ich zu meinem Umgang mit Zeit aus heutiger Sicht einige persönliche Gedanken fest. Die Jugendjahre: Die Zeit konnte nicht schnell genug fortschreiten. Es war ein harziges, klebriges, pappiges Schleichen, wie beim Träumer, der von einem Verfolger fliehen muss und auf einer Leimschicht nicht richtig vorwärts kommt. Im Mittelalter: Da war ich in meine Tätigkeiten so sehr vertieft, dass ich Zeit gar nicht wahrnahm. Mir kommt dazu das chinesische Sprichwort vom Fisch in den Sinn, der das Wasser nicht (mehr) spürt, weil er sich dauernd darin aufhält. Nur wenn eine Tätigkeit stockte, spürte ich eine Veränderung im Fluss der Zeit. Und nun im Alter: Die Zeit geht immer schneller voran, sie ist nicht zu bremsen. Der Wunsch, den Verlauf zu verlangsamen geht kaum in Erfüllung, ist nicht machbar. Die Zeit rollt einen Abhang hinunter, wird gelegentlich von einem Hindernis abgehoben, wirbelt unkontrolliert durch die Luft, wird dann wieder in geordnete Bahnen gelenkt, aber kein Prellbock ist vorhanden, der die Zeit stoppen würde. Ich stelle fest: Ich habe das Ausmaß eines Zeitraums von achtzig Jahren durchschritten und dafür achtzig Jahre benötigt.

27. September 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

Teenager und misshandelte Eltern

Gewalt in Familien bedeutet längst nicht immer die Misshandlung von Kindern und Partnern, zunehmend werden auch Eltern Opfer der Gewalttätigkeit ihrer Kinder. Barbara Cottrell aus Halifax in Kanada hat dieses Thema schon früh erforscht und 2001 einen ausführlichen Bericht für die kanadische Öffentlichtkeit erstellt. In Heft 3/2002 von systhema ist ein Artikel von ihr auch in Deutsch erschienen. Cottrell schreibt: „1995 begann Diane Kays, klinische Therapeutin in Halifax, Neuschottland, Kanada, im Freundes- und Kollegenkreis nach Informationen zum Thema Elternmisshandlung zu suchen. Klienten hatten Diane von Gewalt berichtet, die sie durch ihre eigenen Kinder erfahren hatten – eine Form von Gewalt in der Familie, die der Therapeutin neu war. Es wurde sehr bald deutlich, dass es zu diesem Thema kaum Informationen gab. Drei Organisationen vor Ort (Captain William Spry Community Centre, Committee Against Woman Abuse und die Family Service Association of the Halifax Regional Municipality) gründeten daraufhin das „Elternmisshandlungsprojekt“ (Parent Abuse Project Committee), um Formen und Entstehung von Elternmisshandlung zu erforschen. Weiterlesen →

26. September 2014
von Tom Levold
Keine Kommentare

Kommunikation als Lebenskunst

B. Poerksen & F. Schulz von Thun (2014): Kommunikation als Lebenskunst

B. Poerksen & F. Schulz von Thun (2014):
Kommunikation als Lebenskunst

Zieht man die schnelle Resonanz der Massenmedien auf den gerade erschienenen Gesprächsband Kommunikation als Lebenskunst in Betracht, darf man davon ausgehen, dass dem Carl-Auer-Verlag wieder einmal ein echter Verkaufserfolg gelungen ist. Das dürfte nicht nur mit der Bekanntheit von Friedemann Schulz von Thun zu tun haben, sondern auch mit der außerordentlichen Begabung von Bernhard Pörksen, seine Gesprächspartner in spannende und tiefgründige Diskussionen zu führen, die fernab von Selbstdarstellungen bzw. -inszenierungen immer inhaltlichen Gewinn für das lesende Publikum bieten. Das hat er schon in seinen ebenfalls bei Carl-Auer erschienenen Gesprächsbänden mit Humberto Maturana und Heinz von Foerster eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Den aktuellen Band,  in dem er Friedemann Schulz von Thun über seinen professionellen Werdegang und sein Kommunikationsmodell befragt, hat Jürgen Hargens für systemagazin gelesen. Auch wenn er dem Sender-Empfänger-Modell Schulz von Thuns als Konstruktivist skeptisch gegenüber steht, kann er dem Buch vieles Positives abgewinnen. Weiterlesen →