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Mikroskopische Unterschiede
Es ist März 2023, eine der letzten Prüfungen zu meiner Lehrveranstaltung „Konflikt und Konfliktmanagement“. Ein Student besteht sie mit einer einigermaßen akzeptablen Note, die ihm im Nachgespräch mitgeteilt wird. „Jetzt zum Schluss,“ sagt er, „möchte ich Ihnen aber doch noch ein Feedback zu Ihrem Buch[1] geben!“ – „Ja, gern!“, ich bin gespannt. „Sie haben dort zweimal das Wort ‚Farbiger‘ erwähnt! Das ist nicht in Ordnung!“ – „Oh,“ sage ich etwas verwirrt, ich kann mich auch gar nicht daran erinnern, dass das Thema kultureller Differenzen im Buch einen größeren Raum eingenommen hat, „was ist denn da das Problem?“ – „Nun,“ antwortet er, „ich habe zum Beispiel schwarze Freunde, die sagen: ‚Warum nennt Ihr uns farbig, wir sind doch nicht farbig, wir sind schwarz!‘“ – „Ach so,“ antworte ich, „dann sollte man also richtigerweise ‚Schwarze ’schreiben? Aber das würde dann doch wieder eine ganze Reihe anderer Gruppen ausgrenzen, die mit dem Wort ‚farbig‘ bezeichnet sind.“ – „Genau, ‚Schwarze‘ geht auch nicht!“
Ich bin verwirrt, es ist mir wichtig und ich bemühe mich auch, so zu schreiben, dass keine Gruppe von Menschen mit entwertenden Begriffen belegt wird, ich gebe aber zu, manchmal auch überfordert und genervt zu sein von den Feinheiten, die da zu beachten sind. Immer wieder bin ich auch erstaunt und frage mich, wie es eigentlich kommt, dass heute so laut, zum Teil auch so aggressiv Mikrounterscheidungen eingefordert werden, wo wir doch in einer Kultur leben, in der es so viele Möglichkeiten gibt wie wohl nie zuvor, sich individuell für Lebensentwürfe zu entscheiden. Im Vergleich zu früheren Stadien unserer Gesellschaft versperren Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung o.ä. in viel geringerem Maß die Entscheidung für Lebenswege. Dass es genug Baustellen gibt, an denen noch zu arbeiten ist, ist mir natürlich bewusst, aber die sind ja auch intensiv Thema in der gesellschaftlichen Debatte, und ich bin mir ziemlich sicher: sie werden nicht durch eine immer feinere Wortwahl korrigiert. Wie viele Möglichkeiten gibt es heute, „Fehler“ der politischen Korrektheit zu machen! Offenbar habe ich jetzt gerade solch ein Fettnäpfchen erwischt.
„Was würden Sie denn vorschlagen?“ – „Sie sollten schreiben: ‚PoC‘!“ – „Hmmm, aber das heißt doch ‚People of colour‘, oder?“ – „Ja, genau!“ – „Ist das dann nicht dasselbe wie ‚Farbiger‘?“ – „Nein, PoC ist der Terminus, der korrekte Begriff!“
Plötzlich fühle ich mich alt. Zu Hause schaue ich nach: an zwei Stellen taucht das Wort auf, jeweils mit einem Verweis auf andere Literatur verbunden. Einfacher macht es das nicht. Die Geschichte lässt mich nicht los, bis heute.
[1] Es war Grundlage der Veranstaltung: Schlippe, A.v. (2022). Das Karussell der Empörung. Konflikteskalation verstehen und begrenzen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht