systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

29. Januar 2016
von Tom Levold
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Warum das Wiener Jugendamt seinem Erziehungsberater nicht folgte

August Aichhorn (27 Juli 1878 – 13. Oktober 1949) war einer der bedeutendsten Pädagogen des  20. Jahrhunderts. Zunächst Volksschullehrer, entwickelte er nach dem Ersten Weltkrieg Konzepte zu einer Reform der sogenannten „Besserungsanstalten“, in denen verwahrloste Jugendliche einer gewalttätigen Zwangsbehandlung unterzogen wurden. In den zwanziger Jahren machte er eine psychoanalytische Ausbildung und wurde Leiter der Wiener städtischen Fürsorgeanstalten. er war nicht nur der Begründer der psychoanalytischen Pädagogik, sondern auch als Leiter der Wiener psychoanalytischen Erziehungsberatung einer der maßgeblichen Wegbereiter der Erziehungsberatung überhaupt. Sein Enkelsohn, der Wiener Psychoanalytiker Thomas Aichhorn, hat nun gemeinsam mit Kar Fallend, Professor für Sozialpsychologie in Graz, die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse für Erziehungsberatung und soziale Arbeit seines Großvaters erstmals veröffentlicht. In der Verlagsbeschreibung heißt es:

„Wien, Herbst 1945.  Die Stadt liegt nach der untergegangenen nationalsozialistischen Diktatur in Schutt und Asche. Ihre BewohnerInnen versuchen wieder einen Alltag zu leben, eine neue Zukunft aufzubauen und an historische Traditionen anzuknüpfen, die der Faschismus zerstört hatte. So auch der 68-jährige Freud-Schüler, August Aichhorn, der als einer der ganz wenigen Psychoanalytiker während der NS-Zeit in Wien verblieb und sich nun bemüht, die Wiener Psychoanalytische Vereinigung wieder zu beleben sowie die Ausbildung in der Erziehungsberatung und sozialen Fürsorge auf neue Beine zu stellen. In 13 Vorlesungen – von September bis Dezember 1945 – versucht er jungen Studierenden die Freud’sche Psychoanalyse für ihre zukünftige praktische Arbeit näherzubringen. Zwei Stenographinnen notieren seine Ausführungen, die transkribiert – von August Aichhorn selbst redigiert – bis heute im Aichhorn-Nachlass liegen.“

Reinhard Sieder (Foto: T .Levold)

Reinhard Sieder
(Foto: T .Levold)

Den Band beigefügt ist ein Essay des Wiener Historikers Reinhard Sieder, einem der wichtigsten deutschsprachigen Familien-, Sozial- und Kulturhistoriker, der sich schon seit längerem mit der Geschichte der Jugendhilfe und der Heimerziehung in Wien auseinandersetzt. Nachdem vor einigen Jahren – nach der Aufdeckung ähnlicher Zustände in deutschen Kinderheimen – die systematische Misshandlung von Kindern und Jugendlichen auch in Wiener Heimen von den 1950ern bis weit in die 1970er Jahre die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit fand, wurde Sieder von der Stadt Wien beauftragt, in einer großen Studie das Ausmaß der Gewalt an Kindern und Jugendlichen vor den Reformen des Erziehungswesens in den 1990 er Jahren zu untersuchen. Der umfangreiche Abschlussbericht dieser Untersuchung liegt seit 2012 vor und ist auch online zu lesen. Sein Essay über Aichhorn, den systemagazin mit freundlicher Genehmigung des Löcker-Verlages hier veröffentlicht, ist nicht nur von historischem Interesse, sondern überraschend aktuell. Schon in den 1920er Jahren zeichnete sich eine zunehmende Divergenz zwischen einer therapeutisch-psychoanalytischen Haltung, wie sie Aichhorn vertrat, und einer psychiatrisch-psychopathologischen Konzeption jugendlichen Problemverhaltens ab. Letztere wurde mit dem fortschreitenden Siegeszug des Nationalsozialismus in Österreich dominant und zur Grundlage bürokratisch organisierter Fürsorgepraxis: „Der Logik der Medikalisierung des Sozialen folgend, beauftragte der amtsführende Stadtrat und Mediziner Julius Tandler Heilpädagogen, Psychologen und Juristen, die Arbeit des Jugendamtes, insbesondere die „Kindesabnahmen“ und die Überstellungen von Kindern in Erziehungsheime und Pflegefamilien fachlich zu überwachen und zu legitimieren. Allerdings bildeten die Leiter und die Fürsorgerinnen der Bezirksjugendämter, die Psychiater der Heilpädagogischen Station an der Kinderklinik, die Psycholog/inn/en und Juristen in der Zentrale des Jugendamtes und der Kinderübernahmsstelle (KÜSt) offenbar sehr bald einen hermetischen Legitimationszirkel, der weder eine Kontrolle der psychiatrischen und psychologischen Diagnosen noch der fürsorgerischen Maßnahmen, noch der pflegschaftsgerichtlichen Bescheide entstehen ließ.“ Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn man hier nur das problematische Verhalten von Personen in den Vordergrund stellen wollte. Sieder schreibt weiter: „Dabei versteht Aichhorn früher als die politischen und professionellen Hauptakteure im Wiener Wohlfahrtsamt unter Tandler, dass dieses historisch konkrete Zuviel an Gewalt nicht bloß aus dem interpersonalen Geschehen zwischen nicht hinreichend erzogenen Kindern und nicht hinreichend ausgebildeten Erzieher/inne/n entsteht, sondern in bestimmten wissenschaftlichen Theorien grundgelegt ist. Diese waren seit den Anfängen der modernen Kinder- und Jugendfürsorge um 1910 rassenhygienisch und erbtheoretisch, im nationalsozialistischen Reich auch rassenanthropologisch. Gegen kritische Ansätze blieben sie weitgehend immun, solange eine Reihe von hochrangigen Berufen wie jene der Ärzte und Medizinwissenschaftler, der Psychologen und der Juristen in ihrem Namen agierten und materiell und sozial davon profitierten.“ Die diesen Strategien zugrundeliegenden Ideologien sind heute in der Jugendhilfe kaum mehr zu beobachten. Dennoch ist der Kampf um die Luft- und Deutungshoheit über „problematischem Verhalten“ von Kindern und Jugendlichen nicht vorbei. Die Medikalisierung psychischer und sozialer Problemlagen ist heute nicht weniger Gegenstand wissenschaftlicher, politischer und ökonomischer Diskurse. Der lesenswerte Essay Reinhard Sieders macht am historischen Beispiel die Gefahren einer bürokratisch-autoritären, strafenden Jugendhilfe im Verein mit einer pathologisierenden Behandlungsideologie deutlich. Aber lesen Sie selbst: Weiterlesen →

27. Januar 2016
von Tom Levold
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Filip Caby wird 60!

Filip Caby

Filip Caby

Heute feiert Filip Caby seinen 60. Geburtstag und systemagazin gratuliert ihm an dieser Stelle von Herzen. Geboren in Belgien, studierte er Humanmedizin in Kortrijk und Leuven und absolvierte seine Facharztausbildung in Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Marl und Dortmund. Seit 20 Jahren ist er Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Marienkrankenhauses in Papenburg, seit 2012 dort Ärztlicher Direktor. In dieser Funktion hat er mit seinem Team auf beeindruckende Weise systemische Konzepte in der stationären psychiatrischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen entwickelt. Seine Kreativität hat sich in zwei vielverkauften Büchern („Psychotherapeutischen Schatzkiste“ I und II) niedergeschlagen. Darüber hinaus war Filip Caby immer auch fachpolitisch aktiv, u.a. viele Jahre als Vorsitzender und Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Systemische Kinder- und Jugendpsychotherapie und Jugendpsychiatrie. 2013 wurde er in den DGSF-Vorstand gewählt, hier ist er Ansprechpartner für Belange der Ärztinnen und Ärzte. Er engagiert sich besonders für die Verankerung systemischen Arbeitens und Systemischer Therapie in medizinischen Behandlungsleitlinien sowie in den ärztlichen Weiterbildungsordnungen.

Lieber Filip, zum Geburtstag alles Gute, Gesundheit und eine gute Balance von anregenden und entspannten Schaffens- und Erholungsphasen, die man ab 60 gut gebrauchen kann!

Dein Tom

25. Januar 2016
von Tom Levold
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Wachsame Sorge – Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind

Von Haim Omer ist mittlerweile eine ganze Reihe von Büchern und Artikeln zum Thema „gewaltloser Widerstand von Eltern“ im Umgang mit ihren Kindern erschienen (z.T. in Co-Autorenschaft mit Arist von Schlippe). Nun ist im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht ein neuer Band erschienen, in dem Omer sein Konzept noch einmal erweitert. Ilke Crone hat das Buch gelesen und empfiehlt die Lektüre.

Ilke Crone, Bremen:

Das Modell des gewaltlosen Widerstandes in der Erziehung, der elterlichen und professionellen Präsenz und der Neuen Autorität gewinnt seit nunmehr 15 Jahren auch in Deutschland zunehmend an Bedeutung. Die „Stimme“ der Erwachsenen im Umgang mit besonders herausforderndem Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu stärken, scheint nicht nur im familiären Kontext wirksam, sondern erreicht auch andere Erziehungssysteme wie Kindergarten und Schule.

In „Wachsame Sorge“ widmet sich der Autor besonderen Problemstellungen in Familien, die sich in der Praxis bislang meist nur wenig überzeugend beantworten ließen und häufig ratlose Eltern – manchmal auch hilflose Elterncoaches – zurückließen. Wie sollen Eltern reagieren, wenn das Kind lügt? Wie können Eltern die Wahl der Freunde des Kindes beeinflussen? Wie begrenzen Eltern wirkungsvoll den übermäßigen Medienkonsum ihrer Kinder? Wie können Eltern ihre fast erwachsenen Kinder darin unterstützen, so etwas wie Selbstfürsorge zu entwickeln?

Anhand vieler anschaulicher Beispiele macht Haim Omer vor allem zwei Dinge deutlich: Eltern können ihre Kinder nicht kontrollieren – sie haben keinen direktiv steuernden Einfluss auf deren Verhalten – eher das Gegenteil ist der Fall: je massiver Eltern den „Gehorsam“ ihrer Kinder einfordern oder versuchen ihr Kind zu kontrollieren, desto größer wird die Gefahr, das Kind aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig ermutigt der Autor in sehr anschaulicher und überzeugender Weise Eltern dazu, ihre Werte zu vertreten. Die elterliche Sorge betrachtet Haim Omer als Verpflichtung und Berechtigung. Wie Eltern dies in deeskalierender Weise kommunizieren können, erfahren sie ebenfalls aus diesem Buch. Weiterlesen →

23. Januar 2016
von Tom Levold
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Kontext Leserbefragung 2016

Kontext-leserbefragung

Hier noch mal zur Erinnerung: Wenn Sie Mitglied der DGSF sind oder den Kontext abonniert haben (was in der Regel ja zusammenfällt), dann sind Sie Adressat für die Online-Leserbefragung, die die Herausgeber des Kontext gestartet haben, um Ihre Meinung von der auflagengrößten deutschsprachigen systemischen Zeitschrift zu erfahren. Wie Sie wahrscheinlich wissen, spreche ich hier neben meiner Herausgeberschaft des systemagazin auch als Mitherausgeber des Kontext. Als HerausgeberInnen des Kontext liegt uns daran, wie in den vergangenen Jahren auch in der Zukunft eine interessante, vielfältige, inhaltlich anspruchsvolle und professionell konzipierte Systemische Zeitschrift zu produzieren. Mit dieser Befragung möchten wir als HerausgeberInnen etwas über Sie als LeserInnen erfahren und Ihnen Gelegenheit geben, uns zu helfen, den Kontext noch besser zu machen. Wenn Sie daran teilnehmen möchten, klicken Sie bitte auf diesen Link. Die Befragung dauert nicht lange und ist anonym. Als Dank werden wir unter denen, die mitgemacht haben, drei Büchergutscheine des Verlags Vandenhoeck u. Ruprecht im Wert von 100, 50 und 50 Euro verlosen (Ihre email-Adresse wird in diesem Fall unabhängig von den Antworten gespeichert und verarbeitet). Die Befragung ist bis einschließlich 29. Februar 2016 zugänglich, wir freuen uns über eine möglichst große Beteiligung.

Hier geht es zur Umfrage…

20. Januar 2016
von Tom Levold
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systhema 2015

systhema 29(3) 2015

Der 29. Jahrgang der Mitgliederzeitschrift des Instituts für Familientherapie Weinheim systhema hat wieder einmal drei sehr bunte Hefte hervorgebracht. Anlässlich des 40jährigen Jubiläums des Institutes gab es ein volles erstes Heft mit Rückblicken und Personenporträts, die auch außenstehenden einen kleinen Einblick in die Geschichte und die Kultur des Institut vermitteln. Das zweite Heft hat einen eher theoretisch-konzeptuellen Schwerpunkt und das dritte Heft beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Thema Ausbildung, Schule und Pädagogik. Wie immer finden sich viele Rezensionen in den einzelnen Heften. Alle bibliografischen Angaben der Artikel (mit den Zusammenfassungen) und der Rezensionen finden sich hier…

18. Januar 2016
von Tom Levold
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Das Subjekt bei Niklas Luhmann

H.-G. Pott

Hans-Georg Pott (Foto: www.germanistik.hhu.de) ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und hatte einen Lehrstuhl an der Universität Düsseldorf inne. Für einen von Paul Geyer und Claudia Jühnke herausgegebenen Sammelband „Von Rousseau zum Hypertext“, der 2001 im Würzburger Verlag Königshausen & Neumann erschienen ist, hat er ein Kapitel zum Thema „Das Subjekt bei Niklas Luhmann“ beigesteuert, dessen Manuskript auch online zu lesen ist. Am Ende des Kapitels resümiert Pott: „Luhmann nimmt (…) nicht Abschied von der Idee selbstbestimmter Selbsttätigkeit. Ich halte Luhmanns Theorie für kompatibel mit einer materialen Hermeneutik sinnhaften Verstehens, bereichert um illusions- und ideologiekritische Aufklärung, insbesondere was den Standpunkt des Beobachters angeht. Das würde bedeuten (was ich hier nur skizzieren kann): Die Unterscheidung System/Umwelt beerbt die Unterscheidung Subjekt/Objekt. Sie ist sozusagen umweltfreundlicher. Der einzelne Mensch nimmt an den APS [autopoietischen Systemen; Tom Levold] nur vorübergehend und partiell teil, wobei er seine (selbstbestimmte) Einheit gerade deshalb behält, weil er von keinem System ganz verschluckt werden kann. (Hier ist auf den Grenzfall von totalitären Systemen und die Funktion der Folter zu verweisen; …) Wollte man den Menschen als System beobachten, so wäre er wohl als Trinitätssystem von biologischem, psychischem und sozialem Teilsystem zu konstruieren, deren strukturelle Kopplungen zu beschreiben wären. Vielleicht liegt das ja auch der Idee der heiligen Dreifaltigkeit zugrunde.“

Zum vollständigen Text geht es hier…

17. Januar 2016
von Tom Levold
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„Lug und Trug in Unternehmen“ – Nicht nur bei VW

Barbara Heitger, systemische Unternehmensberaterin und Gründerin der Beratungsfirma HeitgerConsulting, hat einen Youtube-Kanal, in dem immer wieder interessante Vorträge hochgeladen werden. In diesem Video äußert sich Thomas Giernalczyk, Honorarprofessor für psychologisch-therapeutische Interventionen an der Bundeswehr-Hochschule in München, über Lüge, Täuschung und Betrug in Unternehmen und ihre Thematisierung im Coaching. Thomas Giernalczyk ist Diplom-Psychologe, Psychoanalytiker (MAP, DGPT), Supervisor und Organisationsberater. Im beschreibenden Text heißt es: „Das Thema ,Lug und Trug in Unternehmen’ ist die dunkle Seite der viel bemühten Vertrauenskultur, die in aller Munde ist. Tatsache ist, dass sehr häufig gelogen wird und dass es eine Gratwanderung ist, wann eine Lüge hilfreich und wann sie destruktiv für die Primäraufgabe ist. Es wird aufgezeigt wie bei der Veränderung von Berichten, persönliche Karrierevorteile und kollektive Abwehr von Risiko, Hand in Hand gehen. Prof.Giernalczyk hat im Laufe seiner Arbeit Beispiele für Lug und Trug aus Coachings gesammelt und geordnet. So kann man die fusionäre von der anti-­fusionären Lüge unterscheiden. Erstere dient dazu um Nähe herzustellen, bei zweiterer wird aktiv gespalten um Distanz zu provozieren. Schließlich lässt sich auch noch analysieren, wie Lug und Trug zum Hochstapeln verwendet wird und welche Rolle sie für imaginäre Wunscherfüllung spielt. Den Alltag von Lug und Trug in Unternehmen erörtert Prof. Thomas Giernalczyk anhand folgender Fragen: Welche persönlichen und institutionellen Dynamiken führen zu Lügen und Täuschung? Gibt es noch Karrieren ohne „Bullshitting“? Wie wird Lügen zu einem alltäglichen Phänomen? Wann findet der Übergang zu einem destruktiven Geschehen statt, welches schließlich für die Menschen und für das Unternehmen insgesamt schädlich wird?“

15. Januar 2016
von Tom Levold
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Trauernde Jugendliche in der Familie

Trauernde Jugendliche in der Familie

„Jugendliche, die einen nahe stehenden Menschen durch den Tod verlieren, brauchen sensible Unterstützung. Sie sollten mit ihren Gefühlen, Gedanken und Sorgen nicht allein gelassen werden. Im Alltag finden Jugendliche häufig wenige Möglichkeiten zu trauern. Zudem fühlen sie sich von Gleichaltrigen oder in der Familie oft nicht richtig verstanden. Sie ziehen sich zurück, können oder möchten ihre Trauer nicht zeigen, obwohl sie sich Trost und Beistand wünschen. Eltern und andere Bezugspersonen sind hilflos, unsicher und überfordert im Umgang mit trauernden Jugendlichen. So gestaltet sich das Leben miteinander, zusätzlich zum erlebten Verlust, für beide Seiten schwierig“. Diese Sätze stehen im Klappentext zu einem Buch von Stephanie Witt-Loers, das 2014 im Vandenhoeck & Ruprecht Verlag erschienen ist und sich mit dem Thema von Verlust und Trauer bei Jugendlichen auseinandersetzt. Guido Moelders aus Köln hat das Buch gelesen und empfiehlt seine Lektüre.

Guido Moelders, Köln:

Thema des Buches ist das Umgehen miteinander in Familien mit lugendlichen und jungen Erwachsenen, die durch den Tod einen nahe stehenden Menschen verloren haben. Zielgruppe sind betroffene Familien. Die Autorin möchte „Grundhaltungen vorstellen, die eine Unterstützung von trauernden Jugendlichen erleichtern können“, und praxisorientiertes Wissen vermitteln. Sie möchte „im Umgang mit Trauer und Verlust Verständnis füreinander schaffen … und zur Kommunikation in der Familie anregen“. Und so Familien ermutigen, auf die ihnen angemessene, individuelle Weise mit dem schmerzhaften Verlust leben zu lernen. Denn ein Aspekt, der im Umgang mit Trauernden kaum genug hervorgehoben werden kann, ist, ein Patentrezept gibt es nicht: „Was Sie nicht im Buch finden, sind allgemein gültige Methoden …, denn jeder Mensch, … jede Familie ist anders.“
Witt-Loers stellt zunächst kompakt grundlegende Gedanken zum Thema Trauer und Verlust sowie zur Jugend als besonderem Lebensabschnitt vor. Dann nimmt sie mögliche Trauerreaktionen von Jugendlichen in den Blick und beschreibt, welchen Ausdruck und welche Orte die Trauer der Jugendlichen finden kann. Sie erweitert anschließend den Rahmen im Kapitel „Trauer in der Familie“ (u.a. mit den Unterkapiteln „Wichtige Trauerthemen in der Familie“ und „Rituale“) und geht ebenso auf die Trauer und den Schmerz der Eltern ein. Die Autorin lässt betroffene Jugendliche und Eltern zu Wort kommen. Mit einem Kapitel zu speziellen Trauersituationen (z. B. in getrennten Familien, alleinerziehend nach dem Tod des Partners) und hilfreichen Literatur- und Filmempfehlungen schließt das Buch. Weiterlesen →

13. Januar 2016
von Tom Levold
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Marokkanische Ambitionen

Girls & Boys

Christian Michelsen, Bremen: Marokkanische Ambitionen

Rückblicke

Hand aufs Herz: Letztlich geht es uns durchschnittlich karitativen, wohltätigen, humanitären Menschen bei unseren Ambitionen, d.h. erklärten Absichten zumindest teilweise um unseren Ehrgeiz, die andere Bedeutung von Ambition. Als ich mich 1970 als junger Mediziner von der staatlichen westdeutschen Entwicklungshilfe-Organisation, die damals noch in Klammern die Bezeichnung GAWI (Gesellschaft zur Abwicklung Wirtschaftlicher Interessen) trug, in ein westafrikanisches Land hatte entsenden lassen, geschah das in der Absicht, eine ehrenwerte Arbeit als Entwicklungs-Helfer zu leisten. Ich selbst war völlig unzureichend ausgebildet, kaum auf Afrika vorbereitet, sprach weder Wolof, noch Fulbe. Sondern nur die Sprache der (Neo-) Kolonisatoren, Französisch.

Zweierlei Ernüchterungen ließ mich – vertragsbrüchig – vorzeitig in die BRD zurückkehren. Die großzügig von Westdeutschland in das Buschhospital gepumpten Gelder waren ein Preis dafür, dass die senegalesische Regierung bei der Stange blieb, d.h. sich nicht etwa dazu verführen ließ, die DDR anzuerkennen. Ich diente also mittelbar noch der (1969 formal von der sozialliberalen Koalition unter Kanzler Willy Brandt aufgegebenen) Hallstein-Doktrin. Diese hatte mit ihrem Alleinvertretungsanspruch, d.h. der Auffassung, dass die Bundesrepublik die einzige legitime Vertretung des deutschen Volkes sei, den Zweck verfolgt, die DDR zu isolieren. Wir lebten im Kalten Krieg. Da musste man weltweit auf der richtigen Seite stehen. Da wurde man als junger Arzt, der sich dazu bekannte, auf die nächste Anti-Vietnamkriegs-Demo auf den Ku’Damm zu gehen, am nächsten Tag von den Stationsschwestern als „Kommunist“ bezeichnet, mit Jodtupfern rot angemalt und verteufelt („Euch müsste man vergasen!“).

Die andere Ernüchterung, vor Ort, in jenem westdeutschen Hospital, erlebte ich darin, dass ich von den angeblich drei angestellten einheimischen Ärzten während der knappen drei Wochen meiner Anwesenheit keinen zu sehen bekommen hatte. Es hieß, sie seien auf diesem oder jenem Kongress, in Frankreich oder anderswo. Hygiene, Leitungskompetenz, medizinische Geräte waren mangelhaft. Antibiotika vergammelten im Keller. Die beiden teuren Fahnenmasten zum partnerschaftlichen Hissen der Flaggen beider Länder waren niemals aufgerichtet worden.

Kurz, das vermeintliche Aushängeschild westlicher Überlegenheit nährten meine Zweifel an „Entwicklungshilfe“ und lehrten mich, meinen Ehrgeiz zu mäßigen. Unsere Dauergaben hatten von vorn herein statt Partnerschaft Bettlerschaft gemacht. Das Geschenkte wurde nicht geachtet, folglich nicht instandgehalten. Ich selbst, in meiner Doppelrolle als „Helfer“ und zugleich zunehmend skeptischer Teil des gesamten Hilfe-Systems, missachtete zunehmend ebenfalls meinen eigenen Beitrag an Gaben und Geschenken. Weiterlesen →

12. Januar 2016
von Tom Levold
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Paradoxien, Dilemmata, Unlösbarkeiten

Konfliktdynamik 2016-01

Als die Zeitschrift Konfliktdynamik 2012 erstmals erschien, war ich ein wenig skeptisch, ob eine Zeitschrift mit einem so begrenzten thematischen Rahmen bei vier Ausgaben im Jahr auf Dauer eine Zukunft haben kann. Diese Zweifel haben sich längst zerstreut. Nicht nur nehmen, wohin man auch blickt, Konflikte zu – sei es auf internationalem Parkett, in Organisationen oder privaten Beziehungen –, auch die Zeitschrift hat eine veritable inhaltliche Spannbreite entwickelt und bietet in fast jeder Ausgabe interessante und spannende Texte aus den unterschiedlichsten theoretischen und professionellen Kontexten. Der fünfte Jahrgang 2016 beginnt mit einem Themenheft mit dem Fokus „Paradoxien, Dilemmata, Unlösbarkeiten“. Torsten Groth und Arist von Schlippe, Günther Ortmann, Herbert Schober-Ehmer und Susanne Ehmer gehören u.a. zu den Autoren, darüber hinaus gibt es einen Gespräch mit Gunther Schmidt über Hypnosystemische Ansätze beim Umgang mit Konflikten. Interessant fand ich auch einen Beitrag von Eva Kiefer über Paradoxienbearbeitung in der Polizei: ein hochspannendes und unbedingt aktuelles Thema. In ihrer Zusammenfassung schreibt sie: „Im Bereich der Kriminalprävention in einem durch Migration geprägten Umfeld wird, so zeigt diese ethnomethodologische Studie einer Polizeieinheit, von der klassischen behördlichen Verfahrensweise der Schriftlichkeit auf Mündlichkeit – sowohl in der externen Arbeit wie in der internen Bearbeitung dessen – umgestellt. Auch wird weniger auf klassische Kontrolle, dafür mehr auf Beziehungen gesetzt. Damit wird die Paradoxie von Bürokratie und dynamischer Umwelt aufgelöst sowie diejenige von staatlichem Sicherheitsapparat und (kulturell) eigensinnigen Gruppierungen. Zugleich wird aber auch eine paradoxe Anforderung geschaffen: Nähe zu produzieren und Distanz zu wahren.“

Alle bibliografischen Angaben und Websites können Sie hier lesen…