Kurt Ludewig, Münster: Fremd im Mutter- und Vaterland – Vor- oder Nachteil?
Das Thema des diesjährigen Adventskalenders ist sicherlich von den aktuellen Verhältnissen inspiriert. Da geht es um die Folgen von Globalisierung, Nationalismus, Fremdenhass, Migration usw. Darüber ist bereits viel geschrieben worden und ich nehme an, dass viele Beiträge sich damit befassen werden. Ich möchte jedoch einen anderen Weg gehen und dieses Thema als Anlass nutzen, um über mein eigenes Fremdsein nachzudenken.
Kurt Ludewig
Als Sohn eines Hamburgers und einer Chilenin in Chile geboren und aufgewachsen, bin ich von früh auf mit dem »Fremden« konfrontiert worden. Meine Mutter war eine ausgesprochen anglophile Frau. Deshalb verbrachte ich meine Schulzeit in einer von britischen Lehrern geführten Schule, in der es außer in bestimmten Unterrichtsstunden verboten war, Spanisch zu sprechen. Unter britischen Lehrern lernte ich also zu heucheln, das heißt, schnell auf Englisch umzuwechseln, wenn Lehrer oder »prefects« – Schüler der letzten Klasse mit der Befugnis ausgestattet, Mitschüler zu bestrafen – in meine Nähe kamen. Man spielte Rugby, feierte den Geburtstag der Queen, sang bei Festlichkeiten »God save the Queen« und trank nach dem Sport Gin. Ich lebte zwar in Chile und fühlte mich als Chilene, gebärdete mich aber zuweilen unwillkürlich als Ausländer im eigenen Land. Das war allerdings in einem von Europäern kolonisierten Land keine auffällige Besonderheit. Außerhalb dieser pseudo-britischen Umgebung hörte ich manchmal, wie mein Vater mit Landsleuten auf Deutsch sprach, also in einer damals für mich unverständlichen Sprache. Dass er Spanisch mit hartklingendem deutschem Akzent sprach, habe ich als Kind nicht wahrgenommen. An manchen Sonntagnachmittagen im Winter hörte ich zusammen mit Freunden meinem Vater gern zu, wie er von seinen Erfahrungen als junger Mann in Deutschland und später in Spanien erzählte, wohin er in seinen Zwanzigern ausgewandert war. Seine Geschichten waren so eindrucksvoll, dass ich natürlich ein starkes Fernweh entwickelte. Das dürfte eines der Motive gewesen sein, die mich als Zwanzigjährigen dazu bewegten, das kleine Land am Ende der Welt zu verlassen und in die große Welt zu ziehen.
1963 wanderte ich nach den USA aus. Eine meiner ersten, mich dort prägenden Erfahrungen machte ich an einer Tankstelle in Texas, wo ich als Fahrer eines fremden Autos auf dem Weg von Florida nach Los Angeles haltmachte. Gegenüber der Tankstelle war ein Café, in dem eine schöne blonde Frau servierte. Ich wollte dahin, wurde aber vom mexikanischen Tankstellenwärter, mit dem ich ein paar Worte auf Spanisch gewechselt hatte, daran gehindert. Er warnte mich eindringlich davor, dahin zu gehen, denn die dortigen Cowboys würden keine Latinos mögen. Als ich brüskiert konterte, dass ich Halbdeutscher sei, ergänzte er, dass das noch schlimmer sei. Ich ließ es also sein. Ich hatte schnell gelernt, dass Lateinamerikaner zu sein, ein Grund sein könnte, diskriminiert zu werden. Also griff ich auf meine schulischen Vorerfahrungen zurück und war ab dann bemüht, Englisch mit betont britischem Akzent zu sprechen. Damit habe ich manchen Kunden der Bank, in der ich in Los Angeles als Kassierer arbeitete, irritiert; das war aber weniger schlimm, als für einen »Chicano« (in den USA lebende Mexikaner) gehalten zu werden.
Dann kam ich 1965 nach Deutschland. Meine allererste Erfahrung am Münchner Hauptbahnhof war arg enttäuschend. In Chile musste ich meinen Nachnamen immer buchstabieren, denn keiner verstand ihn. In den USA war dies nicht viel besser. Nun würde ich aber im Geburtsland meines Vaters meinen Nachnamen bloß auszusprechen brauchen und er würde verstanden werden. So glaubte ich das. Bei der Zimmervermittlung antwortete ich auf die entsprechende Frage mit »Ludewig« – von meinem Vater hatte ich gelernt, dass im Deutschen die Endung IG wie ICH ausgesprochen wird. Die bayerische Frau am Tresen schrieb aber »Ludewich«. Erstaunt darüber korrigierte ich, dass mein Name mit IG ende. Sie schaute mich erbost an und sagte, dass ich dann »Ludewick« hätte sagen sollen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass in Deutschland Deutsch nicht gleich Deutsch ist.
Es war der 1. Oktober, also ging ich gleich am ersten Abend zum Oktoberfest. Ich betrat ein großes Zelt, in dem große kräftige Männer in Lederhosen – für mich also in Verkleidung – im Rhythmus einer Marschmusik lauthals »Erika« schrien und im Anschluss mit riesigen Gläsern dreimal kräftig auf den Tisch hauten. Mir gefror fast das Blut. Langsam gewöhnte ich mich an dieses seltsame Spektakel, als plötzlich hinter mir eine kräftige weibliche Stimme »Vorsicht« schrie. Ich drehte mich um, sah eine Art Panzer auf mich zurollen und konnte der Frau, die eine Menge riesiger Biergläser vor sich trug, mit einem Sprung zur Seite nur knapp ausweichen. Bei dieser ersten allzu heftigen Begegnung mit deutschen Gebräuchen kamen mir unwillkürlich beängstigende Assoziationen zu dem Wenigen, was ich über Deutschland aus der Ära bis 1945 wusste. Ob ich in einem mir so arg fremden Land würde bleiben können und wollen?
Im Frühjahr 1966 ging ich dann nach Hamburg. Mit den Ergebnissen von sechsmonatigen Intensivkursen in der deutschen Sprache am Goethe-Institut in Oberbayern gerüstet, begann ich dort ein Studium der Psychologie. Als Hafenstadt war Hamburg kosmopolitischer als das, was ich bis dahin in Deutschland erlebt hatte, und ich konnte mich dort wesentlich leichter einleben. Als aus dem modernen Amerika Gekommener hatte ich dennoch das Gefühl, mich in der Zeit zurückversetzt zu haben. Das Leben in Deutschland, ob in der Kleidung, der Musik oder den Kinofilmen, fand ich äußerst altmodisch und altbacken. Ganz erstaunlich fand ich zum Beispiel, wie unglaublich förmlich die jungen Menschen an der Universität miteinander umgingen. Viele Studenten trugen Jackett und Krawatte, viele Studentinnen Pferdeschwänze und Schottenrock. Man siezte sich und sprach sich mit Herr Kommilitone bzw. Frau Kommilitonin an. Aus dem jungen Amerika gekommen, war ich gewöhnt, gleichaltrige Menschen in Chile zu duzen und sie in den USA per Vornamen anzusprechen. Wollte man sich aber in Hamburg duzen, musste man auf umständliche Weise »Brüderschaft« trinken. Ich musste mich ein paar Jahre lang ziemlich umstellen.
Dann kamen aber die 1968er Jahre und alles änderte sich. Ich erlebte diese Veränderung hautnah. Das Institut für Psychologie an der Uni Hamburg wurde als eines der ersten in Deutschland von Studenten besetzt und in Wilhelm-Reich-Institut umbenannt. Obwohl die Polizei mit großem Aufgebot das Institut zurückeroberte, fielen die Studenten nicht in den früheren Alltag zurück. Das gesellschaftliche Leben hatte sich im Nu nachhaltig verändert. An der Universität wuchsen bei den Jungs die Bärte und die Haare, die Jacketts landeten im Verlies; bei den Mädchen waren die Pferdeschwänze und die Schottenröcken auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Urplötzlich duzte man sich, nicht nur unter den Studenten, sondern sogar die Assistenten und manche Professoren wurden per Vornamen angesprochen und geduzt.
Mein Deutschland – ich betone »mein Deutschland«, denn sicherlich hat dieser Prozess an anderen Orten des Landes länger gedauert – war innerhalb kürzester Zeit auf erfreuliche Weise modern geworden. Einige Jahre später, als Willy Brandt sich aus der Politik zurückzog, dankte ich ihm in einem Brief, dass Deutschland während seiner Regierungszeit ein »normales« Land geworden sei, in dem meine Kinder unbedenklich aufwachsen können.
Diese sind einige der Gedanken und Assoziationen, die mir auf Tom Levolds Aufforderung gekommen sind, mich über meine Begegnungen mit dem Fremden zu äußern. Beim Rückblick musste ich mir noch bewusster als sonst werden, dass ich mein ganzes Leben lang fremd im fremden Kontext verbracht habe. In meinem Mutterland Chile war ich ein britisch erzogener Halbdeutscher, der sich für einen Chilenen gehalten hat, in den USA war ich ein Halblatino, der sich britisch gab, und in meinem »Vaterland« Deutschland bin ich ein Halbchilene, der erfolgreich integriert und doch fremd geblieben ist.
Ziehe ich darüber Bilanz, glaube ich behaupten zu können, dass ein Großteil dessen, was mir in Deutschland möglich war, nicht zuletzt dadurch erklärbar ist, dass ich den Vorteil des Fremdseins habe nutzen können. Vor allem in meinen Tätigkeiten als Therapeut, Lehrer und Autor bin ich als »Integrierter« durchaus in der Lage, mich innerhalb deutscher Verhältnisse sicher zu bewegen, als gebliebener Fremder bin ich aber nicht verpflichtet, die Einschränkungen, die jede Kultur ihren Mitgliedern abverlangt, einzuhalten, um dazu zu gehören. Als »integrierter Fremder« bleibt man auf Dauer eine Art »bunter Hund«, der über die Freiheit des Außenstehenden verfügt, zugleich aber mit tiefen Rissen im Identitätsgefühl auskommen muss. Fremdsein hat eben wie alles andere im menschlichen Leben Vor- und Nachteile.