„Die Erklärungswelt der Substanz
kann keine Unterschiede und keine Ideen
anführen, sondern nur Kräfte und Einflüsse.
Und umgekehrt führt die Welt der Form
und der Kommunikation keine Dinge, Kräfte
oder Einflüsse an, sondern nur
Unterschiede und Ideen. Ein Unterschied,
der einen Unterschied macht, ist eine Idee“
(Ökologie des Geistes, Suhrkamp 1981, stw 571, S. 353).
Der Akkusativ, der Dativ und die geistige Ökologie der Ökologie des Geistes
Unterschiede?
Weder in meinem persönlichen noch in meinem professionellen Erleben haben Unterschiede einen herausgehobenen Platz. Da gibt es Bindung oder Ungebundensein, da gibt es Freiheit oder Unfreiheit, da gibt es Wohlbefinden oder Missbehagen, Bedürfnisse, Gefühle wie Freude, Liebe, Trauer, Ärger, Angst oder Wut. Es gibt Licht und Dunkel, Schwere und Leichtigkeit. Und es gibt das Leben, be-seelte Existenz. Kein Stein ist wirklich tot, er ist Teil zyklischer Abläufe.
Da gibt es Jahreszeiten, expandierende oder zusammenziehende Kräfte, die auf die Seele wirken. Therapeutisch sind für mich Kategorien wie Bedürfnis, Mangel oder Fülle, Ladung und Entladung, Angst oder Sehnsucht, Kontraktion oder Extension bedeutsam.
Menschen sind für mich Bindungswesen, die v.a. in ihren ersten Lebensjahren ein grundlegendes Bedürfnis nach Halt, Geborgenheit, körperlicher Nähe und Resonanz haben.
Eine Theorie, die sich darauf nicht wesentlich bezieht, hat für mich wenig Anziehungskraft und Erklärungswert.
Überhaupt: Theorie. Mehr als 99% ihres Existierens auf dieser Welt ist die Tierart Homo sapiens sapiens ohne Theorien in unserem heutigen Sinn ausgekommen. Theoria ist in der Antike eigentlich die Schau auf die Dinge. Der Beherrschungswille, der sich in der frühen Renaissance in Europa Bahn bricht, macht aus der kontemplativen Schau ein Instrumentarium der technischen Beherrschung. Die Ergebnisse dieses Wandels – Zerstörung der Natur und der Lebensgrundlagen des Menschen einschließlich seiner seelischen Integrität – bringen mich zu dem Gedanken, dass der theoriefreie Teil der Evolution wohl der bei weitem erfolgreichere (und womöglich glücklichere) war.
Das kann einem zu denken geben. Vielleicht als Anregung zu einer kontemplativen Schau. Verbunden mit dem Impuls, das kontemplative Sinnen wieder mit der Lebenskunst zu verbinden, wie wir es sowohl aus der europäischen als auch aus der asiatischen Antike kennen.
Der Akkusativ überwuchert den Dativ – vom andauernden Gemache
Genau genommen ist der Satz vom „Unterschied, der einen Unterschied macht“ kein Deutsch. Er übernimmt den englischen, v.a. amerikanischen Sprachduktus des making a difference.
Weder Goethe noch Schiller, weder Kant oder Hegel noch Schopenhauer hätten wahrscheinlich von einem „Unterschied“, der etwas „macht“ gesprochen.
In meiner persönlichen Unterscheidung gibt es den Akkusativ- und den Dativmodus. Dieser Unterschied, der tat-sächlich einen Unterschied ausmacht, beruht nicht auf einer Idee, sondern auf der Tatsache der Polarität des vegetativen Nervensystems.
Die heutige Welt präferiert den Akkusativmodus, in dem wir mit den Dingen, der Welt, mit uns und anderen etwas machen. Das entspricht dem sympathischen Aspekt des Vegetativums. Der andere Pol, der parasympathische, also der Ruhenerv Vagus, steht für Passivität, Ruhe, Verdauung, Immunsystem, Sexualität und Regeneration. Um in diesen Modus zu gelangen, muss das Gemache, also der Akkusativmodus aufhören- Eine Welt, in der wir ständig etwas zu tun haben, in welcher selbst Freizeit[1] zum Stress wird, in der man sich stets in-formieren und auf dem Laufenden sein muss, macht uns sympathikuslastig.
Deshalb sind stressbedingte Erkrankungen in der westlichen ZUVIELisation so dominant, angefangen beim erhöhten Blutdruck bis hin zu Krebs.
Der Akkusativmodus hat Ziele, er denkt entlang der Linie, er will fort schreiten (und kommt nie an). Der Dativmodus weiß um die Wiederholung, die Wiederkehr, das Zyklische. Er folgt dem „Wohin wir gehen? Immer nach Hause!“ von Novalis.
Auf der sprachlichen Ebene korrespondiert dies mit einem Ge-mache, wo einst Er-fahrung oder Wider-fahrnis stand. Unterschiede ergeben sich in unserer Sprache ebenso wie Sinn. Die verdeutschten Sprachneophyten making a difference oder making sense machen aus einer Erfahrung etwas, das gemacht wird. Sinn also ergibt sich nicht mehr, z.B. aus der Kontemplation, dem Innehalten, dem Verweilen, dem Poetischen, er wird in die Welt des
Her-gestellten verwiesen und geht damit verloren.
Das ist ein Verlust. Denn die Schönheit, die aus dem Betrachten entstehen und zur inneren Ruhe führen kann, entsteht aus dem Verweilen, nicht aus dem Machen und Tun. Sie ist vagal, nicht sympathisch. Byung-Chul Han nennt diesen inneren Modus ein „Verweilen am Schönen“.
Die geistige Ökologie der Ökologie des Geistes
Für die Naturvölker der Jungsteinzeit war die Natur be-seelt, sie war durchzogen von Geist. Dies findet sich auch im antiken Denken. Geist und Atem teilen sich ein Wort – spiritus, gr. pneuma. Wer in-spiriert ist, ist zugleich be-atmetund be-geistert.
Zwar finden sich in der antiken Philosophie kategoriale Unterscheidungen von Geist, Seele, Wirkprinzipien und Lebenskraft, aber letztlich ist der antike Kosmos be-atmet, be-seelt, durch-geistigt. Im Gegensatz zu heute hatten die Menschen der europäischen Antike, so Peter Sloterdijk, nicht ihre Gefühle, sondern Gefühle hatten ihre Menschen. Wut, Zorn, Freude, Liebe waren Kräfte, die im Menschen und durch ihn hindurch wirkten; seine Aufgabe war es, diese Kräfte, die sowohl innen als auch außen waren, zu kultivieren.
Ähnliches lässt sich von den Naturvölkern Nordeuropas sagen, den Kelten und Germanen. Weder Kelten noch Germanen kannten Tempel. Ihre heiligen Stätten waren Wälder, heilige Orte und Bäume. Letztlich war die Natur und war alles Tempel, war durchzogen von Heiligem.
Die sog. Christianisierung, die eigentlich eine Kirchianisierung war (weil sie mit der von Jesus gepredigten Liebe nichts gemein hatte), setzte dem eine Ende. Karl der Große rottete im 8. Jahrhundert durch Mord, Folter und Verschleppung v.a. die naturreligiösen Sachsen aus und bereitete der ursprünglichen Spiritualität und damit einem ganzen Weltbild ein blutiges Ende. Die heiligen Stätten wurden zerstört, es gab Zwangstaufen und Tod für diejenigen, welche die alten Rituale pflegten. Diejenigen, die sich Christen nannten, nutzten die alten Kraftplätze, um ihre Kirchengebäude darauf zu errichten und definierten die keltischen und germanischen Feste als christlich um[2].
Fortan gibt es eine Trennung von Seele/Geist und Natur/Materie. Der Geist wohnt im Gotteshaus und „draußen“ ist die unbeseelte Natur. Erst diese radikale Dichotomie macht Descartes und die mit der Industrialisierung einsetzende Naturzerstörung möglich. Denn das Un-heilige (die Natur) darf ge- und benutzt und rücksichtslos ausgebeutet werden.
Über Bateson ist zu lesen, er habe sich strikt gegen die Leib/Seele-Dichotomie Descartes gewandt. Betrachtet man aber das Eingangszitat, so findet man mE, dass er zumindest darin die kirchianische und cartesianische Spaltung fortschreibt: er attestiert der Welt der Substanz, dass sie nur (!) Kräfte und Einflüsse aufweise. Allein die Welt der „Form“ und der „Kommunikation“ beinhalte Geistiges (Ideen).
Was würde ein Kelte oder Germane, für den es keine Dichotomie von Beseeltem und Unbeseeltem gab, darauf antworten? Ich vermute, er würde Batesons Worte garnicht verstehen, sie würden für ihn keinen Sinn ergeben.
Ich fand Wolfgang Loths fiktiven Dialog von Bateson und Heraklit sehr in-spirierend (https://systemagazin.com/systemagazin-adventskalender-2023-wolfgang-loth/). Denn er gibt dem Batesonschen Denkgebäude eben das, was ihm mE fehlt: Rhythmus, Fluss und Atem. Er stellt damit für meine Begriffe Batesons Denken vom Kopf auf die Füße.
Im Atmen entsteht Leben. Im Atmen entsteht Rhythmus, das Pulsieren jeder Körperzelle findet im Kosmos seine Entsprechung. Im Atmen entsteht Erkenntnis. Eine von der Sorte, die uns mit der Welt verbindet und uns und die Welt als Einheit erleben lässt. Das ist eine andere Art Erkenntnis als die diskursive. Womöglich die bessere.
So müsste der cartesianische Satz „cogito ergo sum“ eigentlich lauten:
Spiro ergo sum
Ich atme also bin ich
[1] Frei-Zeit? Was ist die andere Seite, die Gefangenen-Zeit?
[2] Die Wintersonnwende wurde zu Weihnachten, Imbolc zu Mariä Lichtmess, Samhain zu Allerheiligen etc.