systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

21. Januar 2018
von Tom Levold
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Vielfalt von Systemen

Im letzten Heft des Kontext-Jahrganges 2017 geht es um unterschiedliche Beiträge zur theoretischen und praktischen Vielfalt systemischen Denkens und Handelns. Im Editorial heißt es: „Die ersten beiden Beiträge verknüpfen theoretische Überlegungen mit Anwendungsfragen, einmal bezüglich klinisch-psychiatrischer Praxis, zum anderen mit dem seit einigen Jahren auch hierzulande diskutierten Modell der Familienkonferenz. Walter Kornberger, Psychologe aus Wien mit dem Schwerpunkt klinisch-psychologischer Behandlung von psychotischen Symptomen und Psychotherapeut in eigener Praxis, befasst sich in seinem Artikel mit der Anwendung der Theorie dynamischer Systeme auf psychotische Phänomene wie Halluzinationen und Stimmenhören. (…) Heiko Kleve greift in seinem Text über die Bedeutung von Netzwerken und Vernetzung (befasst sich) ausgehend von der Luhmannschen Trias von Interaktion, Organisation und Gesellschaft als den grundlegenden Typen sozialer Systeme (…) mit der Frage, welchen Stellenwert in diesem Systemgefüge die Herausbildung von sozialen Netzwerken hat. Tom Levold, der seit 2011 im Rahmen eines Kooperationsprojektes (…) zwischen den Universitäten Freiburg und Isfahan im Iran als Dozent und Lehrtherapeut tätig ist, hat für die Reihe »Kontext im Gespräch« ein Interview mit Farzad Goli geführt, der als Arzt, Psychiater und Psychologe in Isfahan praktiziert und eines der ersten familientherapeutischen Weiterbildungsinstitute im Iran gegründet hat. (…) In einem persönlichen Erfahrungsbericht, der den Kontext-Lesern den Hintergrund des Interviews näher bringen soll, beschreibt Tom Levold seine Erlebnisse im Rahmen dieser Kooperation.“ Darüber hinaus gibt es wieder eine „genogrammatische Lektüre“ von Barbara Bräutigam, einen Tagungsbericht und viele Rezensionen.

Alle bibliografischen Angaben und abstracts finden Sie hier…

17. Januar 2018
von Tom Levold
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Alkoholabhängigkeit

Die Reihe „Störungen systemisch behandeln“ im Carl-Auer-Verlag umfasst mittlerweile 12 Bände. In Band 10 befassen sich Rudolf Klein und Gunther Schmidt mit dem Thema der Alkoholabhängigkeit. Arist von Schlippe hat das Buch rezensiert und empfiehlt die Lektüre: Die „Autoren [haben] ein ausgezeichnet lesbares, ja geradezu spannendes Buch geschrieben, das eine Fülle von grundlegenden und weiterführenden Informationen über die Arbeit im Kontext von Alkohol- und vergleichbaren Suchtdynamiken bietet, und damit über ein Phänomen, das auf vielen Ebenen menschlicher Existenz bedeutsam ist – und das oft vorschnell auf die Forderung nach Abstinenz reduziert wird“. Aber lesen Sie selbst:

Arist von Schlippe, Osnabrück

Der 10. Band der Reihe „Störungen systemisch behandeln“ im Carl Auer Verlag ist einer Sucht gewidmet, die in unserer Kultur weit verbreitet ist, die Grenzlinien zwischen sozialem Trinken und Abhängigkeit sind schwer zu bestimmen. Die Autoren sind als Spezialisten in dem Themenfeld bekannt, sie arbeiten zugleich schwerpunktmäßig in unterschiedlichen Kontexten (ambulant und stationär), eine Kombination, die Erwartungen erzeugt. Sie werden nicht enttäuscht: Das Buch informiert umfassend über das „Störungsbild“ (inklusive einer kritischen Reflexion), über die Historie, über klassische Behandlungskonzepte und über systemische Therapieformen der Kybernetik 1. und 2. Ordnung in verschiedenen Auftragskonstellationen. Weiterlesen →

15. Januar 2018
von Tom Levold
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Salvador Minuchin (13.10.1921-30.10.2017)

Salvador Minuchin

Mit Salvador Minuchin ist am 30. Oktober vergangenen Jahres ein weiterer großer Pionier der Familientherapie gestorben, der vor allem für die Begründung des strukturellen Ansatzes in der Familientherapie weltberühmt wurde. Andrea Brandl-Nebehay aus Wien hat einen Nachruf auf ihn verfasst.

Andrea Brandl-Nebehay, Wien:  Nachruf auf Salvador Minuchin

Salvador Minuchin, aus Argentinien stammender Kinderpsychiater und Begründer der strukturellen Familientherapie, ist am 30. Oktober 2017 kurz nach seinem 96. Geburtstag in Florida verstorben (Foto: Danielle Menuhin, 15.8.2004; Wikipedia).
Seine abenteuerliche Lebensgeschichte verbindet in eindrucksvoller Weise mehrere Länder, Kontinente und Kulturen. Seine jüdischen Großeltern waren auf der Flucht vor Pogromen Ende des 19. Jahrhunderts von einem russischen Schtetl nach Argentinien geflohen, wo Salvador in einer patriarchal strukturierten Großfamilie mit strengen Regelwerken aufwuchs. In seinen autobiografischen Erinnerungen beschreibt er seine Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach Anpassung an die hispanische Lebensweise und dem bedrohlichen Antisemitismus seiner Umgebung: „Ich bin als Jude in einer Stadt aufgewachsen, in der Graffiti an den Wänden standen wie ,Sei patriotisch, töte einen Juden’. Aber von der argentinischen Musik war ich begeistert… Ich lernte meine eigene jüdische Identität zu verachten, nur um ein guter Argentinier zu sein. Dafür habe ich mich gehasst“ (zitiert nach Stierlin 2011, S. 126). Als Medizinstudent engagierte er sich dann aktiv in der zionistischen Studentenbewegung, wurde 1943 für einige Monate inhaftiert, nachdem er an Protestaktionen gegen den Diktator Juan Perón teilgenommen hatte. Er verbrachte drei Monate in Einzelhaft und musste das Studium in Uruguay fortsetzten. Diese Erfahrungen prägten sein weiteres politisches und soziales Engagement  und trugen vermutlich zu der radikalen Entscheidung bei, kurz nach Eröffnung seiner kinderärztlichen Praxis in Buenos Aires 1948 nach Israel auszuwandern, um dem neu gegründeten Staat zunächst als Militärarzt zu dienen. Nach einem Zwischenspiel in New York, wo Minuchin eine zusätzliche Ausbildung zum Psychiater absolvierte und erste Erfahrungen in der Arbeit mit delinquenten Jugendlichen sammelte, kehrte er Anfang der 50er-Jahre als Kinderpsychiater nach Israel zurück und wurde Ko-Direktor von Youth Aliyah, einer Institution, zu der mehrere Heime für verhaltensgestörte und psychisch kranke Kinder gehörten – meist Waisenkinder aus Europa, die den Holocaust überlebt hatten. Weiterlesen →

10. Januar 2018
von Tom Levold
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Kein Abschied von der Elternschaft trotz immer späterer Familiengründung

WIESBADEN – Männer und Frauen werden in Deutschland tendenziell immer später Eltern. Dies bedeutet jedoch keinen generell abnehmenden Trend zur Familiengründung. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) anhand eines Vergleichs von zusammengefassten Geburtsjahrgängen mitteilt, ist es bei Frauen zu Beginn des fünften Lebensjahrzehnts nach wie vor die Regel, als Mutter in einer Familie zu leben. Der Anteil der 40-jährigen Frauen der zusammengefassten Geburtsjahrgänge 1970 – 1974, welche als Mutter in einer Familie leben, ist mit 75 % ähnlich hoch wie rund 15 Jahre zuvor. Damals hatte der Wert bei 78 % (Geburtsjahrgänge 1955 – 1959) gelegen.

Die Ergebnisse basieren auf dem Mikrozensus, welcher ausschließlich Personen als Eltern erfasst, die im gemeinsamen Haushalt mit ihren ledigen Kindern leben. Verlässt ein Elternteil (in der Regel der Vater) nach einer Trennung den gemeinsamen Haushalt, wird er nicht länger als Elternteil erfasst. Dies führt dazu, dass es bei den Männern eine andere Entwicklung gibt als bei den Frauen: 66 % der 40-jährigen Männer der zusammengefassten Geburtsjahrgänge 1955 – 1959 hatten als Väter in einer Familie gelebt. Mit dem gestiegenen Anteil der alleinerziehenden Mütter ist dieser Wert in den vergangenen Jahren auf 55 % gesunken (Geburtsjahrgänge 1970 – 1974).

Detaillierte Analysen zur Partnerschaft, Elternschaft und Familiengröße finden sich im Beitrag „Familiengründung und -erweiterung im Kohortenvergleich“, der in der Zeitschrift Wirtschaft und Statistik (Heft 6/2017) erschienen ist.

Quelle: Pressemitteilungen – Kein Abschied von der Elternschaft trotz immer späterer Familiengründung – Statistisches Bundesamt (Destatis)

9. Januar 2018
von Tom Levold
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Der Mensch als „Störgröße“

Jürgen Kriz, Osnabrück: Der Mensch als „Störgröße“

Macht es einen Unterschied, ob man zwei Maschinen, die Blechknöpfe ausstanzen, hinsichtlich ihres Ausschusses untersucht, ob man zwei Medikamente hinsichtlich ihrer Wirkung vergleicht oder ob man zwei Psychotherapie­ansätze auf ihre Wirksamkeit hin überprüft?

Jürgen Kriz

Diese Frage wird wohl von der überwiegenden Mehrheit mit „ja“ beantwortet – allerdings aus unterschiedlichen Grün­den. So könnte man anführen, dass die Untersuchungsberei­che von „Maschinen“ über „Wirkstoffe“ hin zu „Psycho­therapie“ zunehmend komplexer werden. Dies würde für die Wirksamkeit von Psychotherapie gegenüber der einer Maschine eine grundlegend andere Prüfmethodik erfordern, die beispielsweise die Erkenntnisse über Rückkopplungen und nichtlineare Entwicklungen berücksichtigt. Doch diese Aspekte berührt den Mainstream wenig. Stattdessen wird der Unterschied am Erreichen eines Ideal festgemacht, das methodisch einfach und damit „sauber“ untersucht werden kann. Das Ausstanzen von Blechknöpfen wird zum Grund­modell erhoben, demgegenüber die Prüfung von Wirkstof­fen am Menschen „Verzerrungspotential“ hat, weil Unter­sucher als auch Patienten von ihren Vorannahmen, Interes­sen, usw. beeinflusst sein könnten. Um diese „Störgrößen“ hinreichend auszuschalten, ist man auf die Idee gekommen, eine „doppelte Verblindung“ zu fordern: Weder Patient noch Untersucher wissen, wer welches Medikament (oder ein Placebo) bekommt.

Noch größer ist dann das „Verzerrungspotential“ in der Psychotherapieforschung, weil es dort nicht einmal mehr den „objektiven“ Wirkstoff gibt, sondern Therapeut und Patient denkende Menschen sind. Wer nun aber meint, auf die Idee mit der „doppelte Verblindung“ könne ernsthaft niemand kommen, sollte sich den Bericht des IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesund­heitswesen) zur systemischen Therapie ansehen (1). Das IQWiG wurde vom G-BA (Gemeinsamer Bundesausschuss) beauftragt, die „Bewertung der systemischen Therapie bei Erwachsenen“ durchzuführen (2). In dem 860-seitigen Ab­schlussbericht wurde bei den Therapiestudien durchgängig die fehlende Verblindung als Manko gewertet. Auf die Kritik daran durch die Antragsteller schreibt das IQWIG:

„Das Institut teilt die Einschätzung der Stellungnehmenden, dass eine Verblindung der Therapeuten wie auch der Patienten im Bereich von Psychotherapiestudien regelhaft nicht möglich ist. Jedoch kann eine fehlende Verblindung das Verzerrungspotenzial beeinflussen, ungeachtet dessen, ob es möglich ist, eine Studie verblindet durchzuführen. Der Aspekt der Verblindung muss also berücksichtigt werden.“ (S. 523)

Was sind nun diese „Störgrößen“ die man für eine saubere, „verzerrungsfreie“ Forschung nach diesem Modell möglichst eliminieren will? Auf den Punkt gebracht könnte man sagen: Alle jene Einflüsse, die im Wesentlichen den Kern von Psychotherapie ausmachen – allem voran die therapeuti­sche Beziehung. Denn diese und weitere sog. „unspezifische Faktoren“ machen den allergrößten Teil des Erfolges einer Psychotherapie aus, wie praktisch die gesamte Forschung international in den letzten Jahrzehnten immer wieder ge­zeigt hat. Während das, was in den RCT—Studien als spezi­fische Wirkung geprüft wird, einen vergleichsweise sehr kleinen Anteil ausmacht. Dieses ist zwar, je nach thera­peutischem Ansatz, unterschiedlich hoch. Allerdings ist sonst noch niemand auf die Idee gekommen, doppelte Verblindung hier als Qualitätsmerkmal anzusehen.

Schon im medizinischen Bereich ist das Problem aber keineswegs so einfach, wie man es sich am Schreibtisch ausdenkt. Denn nur auf den ersten (theoretischen) Blick lässt sich das Wissen des Arztes darüber, ob sein Patient das Medikament A oder B oder ein Placebo bekommt, als „Verzerrungspotential“ deuten, sofern man allein am Einfluss der Wirkstoffe interessiert ist. Und es sei nicht bestritten, dass der Einfluss von Wirkstoffen für die For­schung (auch!) eine interessante Frage ist. Jenseits der Forschung aber geht es nicht allein um Wirkstoffe, über deren prinzipielle Wirkung an verblindeten Probanden in abstrakten medizinischen Papers Berechnungen angestellt werden. Sondern es geht um ärztliche Heilkunst beim Men­schen. Und dies ist weitaus komplexer, als das Verab­reichen von Wirkstoffen. So kann man sich durchaus vorstellen, dass sehr viele Wirkaspekte relevant sind, wenn ein bestimmter Arzt das Medikament A in einer spezifischen Situation ei­nem bestimmten Patienten verordnet: So ist beispielsweise seine persönliche ärztliche langjährige Erfahrung im Zusam­menhang mit Medikament A bedeutsam, welche ihn befähi­gen, auf Nuancen im Krankheitsverlauf seines spezifischen Patienten zu achten, zu reagieren und ggf. mit weiteren Maßnahmen zu ergänzen. Daher kann er auch bei einem anderen Patienten trotz identischer diagnostischer Katego­risierung – aber deutlich anderen spezifischen und situati­ven Bedingungen – aus guten Gründen Medikament B be­vorzugen.

Um beliebten Missverständnissen vorzubeugen sei betont, dass es hier nicht darum geht, Befunde einer „objektiven medizinischen Wissenschaft“ gegen „subjektive Erfahrung“ auszuspielen oder gar erstere durch letztere zu ersetzen. Beides ist wichtig. Aber wer behauptet, dass die ausgeblen­deten „Störeinflüsse“ der „verzerrungsfreien“ Designs in der objektiven medizinischen Forschung für die Heilverläufe in der ärztlichen Praxis allesamt irrelevant wären – oder aber, anders herum, die notwendig reduzierten und standardi­sierten Forschungsroutinen vollständig die ärztliche Praxis abbilden würden – verzerrt seinerseits die Komplexität menschlicher Heilungsprozesse und ärztlichen Handelns zu einer vergleichsweise simplen Laborrealität.

Das ganze Procedere ist vergleichbar mit der Untersuchung des Nutzens von Fallschirmen durch ein dafür zuständiges Gremium, das sich dadurch auszeichnet, dass es gewöhnlich sehr sorgfältig „fallende Körper“, wie Kugeln, Steine etc., untersucht. Bekanntlich gib es auch bei Fall-Experimenten etliche „Störgrößen“ – besonders den Einfluss der Luft – weshalb man solche Untersuchungen in möglichst weitge­hend luftleer gepumpten Zylindern durchführt. Wenn man nun mit dieser Logik und diesem Argument an die Überprü­fung der Wirksamkeit von Fallschirmen herangeht, wird man unschwer finden, dass sich keine Bremswirkung nach­weisen lässt: Das, worauf es ankommt, wurde eben als „Störgröße“ eliminiert, um das „Verzerrungspotential“ gering zu halten.

Ein Gremium, das so verfahren würde, wäre vermutlich auch gegenüber dem Argument immun, dass viele Jahr­zehnte sehr erfolgreich Menschen mit Fallschirmen aus Flugzeugen und dergleichen gesprungen sind – ja, dass damit sogar viele Leben gerettet wurden. Denn als „Gegen­argument“ könnte angeführt werden, dass es keine Kon­trollgruppe gibt – also eine größere Gruppe Menschen, die ohne Fallschirm aus dem Flugzeug gesprungen sind. Kon­trollgruppen sind aber nun einmal für sorgfältige wissen­schaftliche Wirkstudien unumgänglich.

Das Ideal von Forschung, die sich an Blechknöpfe stanzen­den Maschinen orientiert, kann Psychotherapieforschung aufgrund der Störgröße „Mensch“ nicht erreichen. Nicht einmal das Ideal doppelverblindeter Pharmaforschung. Die Frage ist daher: Macht es Sinn, sich an einem Spiel nach solchen Regeln weiter zu beteiligen?

Anmerkungen:

(1) Systemische Therapie bei Erwachsenen als Psychotherapieverfahren. IQWiG-Berichte – Nr. 513.

(2) Mit der Systemischen Therapie bei Kindern- und Jugendlichen hat der G-BA bisher noch nicht einmal angefangen, eine Prüfung einzuleiten, obwohl (oder weil?) die Wirksamkeit bei der Prüfung durch den „Wissenschaftlichen Beirat“ (WBP) besonders eindrucksvoll war. Offensichtlich fehlt bei den mächtigen Interessengruppen in Deutschland der Wille, dieses sehr wirksame Psychotherapieverfahren den Patienten in diesem Lande zu Verfügung zu stellen.

(Erweiterte Fassung von Der Mensch als „Störgröße“ in: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 4/2017, S. 220)

7. Januar 2018
von Tom Levold
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Systemische Therapie – Qualität und Wirtschaftlichkeit. Notizen zu einer praxisgerechten psychotherapeutischen Wissenschaft

Klaus G. Deissler und Ahmet Kaya, Marburg: Systemische Therapie – Qualität und Wirtschaftlichkeit. Notizen zu einer praxisgerechten psychotherapeutischen Wissenschaft

Zusammenfassung: Auslöser für die folgende Stellungnahme zur Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen systemischer Praxis und Wissenschaft war die Veröffentlichung des Abschlussberichts des IQWIG zur Vorbereitung der G-BA3-Entscheidung über die Systemische Therapie als Kassenverfahren im Jahr 2017. Zu diesem Bericht liegen bereits

Klaus G. Deissler

verschiedene Stellungnahmen vor – unter anderem von systemischen Therapieverbänden als auch von systemisch orientierten Wissenschaftlern. Im Folgenden werden wir auf einige Punkte dieses Abschlussberichts kritisch-würdigend eingehen, indem wir die vom IQWIG vertretene Wissenschaftlichkeit zur systemischen Psychotherapiepraxis in Beziehung setzen.

Aus unserer Perspektive hat das IQWIG dem Auftrag des G-BA folgend die Standards und Prinzipien pharmakologisch-empirischer Forschung bei der Beurteilung der Forschungsergebnisse der Systemischen Therapie angewandt und dabei sowohl Hinweise als auch Anhaltspunkte für die Wirksamkeit der Systemischen Therapie festgestellt. Dabei lässt der Abschlussbericht des IQWIG jedoch einige wichtige Punkte bei der Beurteilung der Systemischen Therapie außer Betracht, die gerade ihre besonderen Qualitätsmerkmale ausmachen. Diese Qualitätsmerkmale sind:

  • Psychotherapie mit eigenständigem Forschungsbereich und eigenem Vokabular
  • Mehrpersonenperspektive und Kürze der Therapie als Faktor der Kostenreduktion
  • Offenheit für Nicht-Vorhersehbarkeit: Therapeutische Zusammenarbeit als Erzeugung von Erstmaligkeit
  • Kundenzufriedenheit als notwendige Voraussetzung für Therapieerfolg
  • Therapeutische Zusammenarbeit als Vorbereitung zukünftiger Möglichkeiten

Den vollständigen Text können Sie hier lesen…

3. Januar 2018
von Tom Levold
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Konfliktberatung und Konfliktcoaching

Das letzte Heft der Zeitschrift „Konfliktdynamik“ des Jahrgangs 2017 beschäftigt sich mit der Rolle, die Coaching als Ansatz für die Bearbeitung von Konflikten in Organisationen einnehmen kann. Die Herausgeber schreiben in ihrem Editorial: „viele Konflikte in Organisationen und am Arbeitsplatz könnten zum Lernen im Unternehmen und zu persönlicher Entwicklung beitragen, wenn sie nicht dysfunktional verliefen, z. B. weil sie eskalieren, auf der zwischenmenschlichen Ebene zu tiefen Verletzungen führen oder zu dauerhaften, kalten Konflikten, die die Freude an der Arbeit und das Engagement ersticken. Wenn Streitparteien diese Dynamik vermeiden wollen, brauchen sie oft eine veränderte Haltung zum anderen und zum Geschehen. Und sie müssen eigene Verhaltens- und Reaktionsmuster ggf. ändern. Das erfordert bewusste Reflexion und die Aktivierung von Ressourcen, eigener und solcher, die in der Organisation genutzt werden können. Solche Prozesse sind im Coaching oft intensiver möglich als in der unmittelbaren Auseinandersetzung im Beisein des Konfliktpartners. Natürlich ist Coaching in Unternehmen längst etabliert. Konfliktcoaching allerdings ist wesentlich weniger selbstverständlich als beispielsweise fachliches Coaching, Karrierecoaching oder allgemeines Führungscoaching. In diesem Heft geht es IM FOKUS daher um Coaching als Ansatz bei Konflikten in Organisationen.“ Die Beiträge hierzu stammen von Martina Scheinecker & Markus Troja, Sascha Weigel, Peter Röhrig, Elisabeth Ferrari und Astrid Schreyögg. Außerdem gibt es noch u.a. einen Beitrag von Heiko Kleve über Konfliktprävention in Familienunternehmen und ein Interview mit Jürgen Kriz zur Personzentrierten Systemtheorie für Führungskräfte und Berater.

Alle bibliografischen Angaben und abstracts finden Sie hier…

24. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Zwischen Engagement und Distanzierung

Tom Levold, Köln: Zwischen Engagement und Distanzierung

Dass der Adventskalender auch in diesem Jahr 24 Türchen voll bekommen würde, habe ich bis vor wenigen Tagen noch nicht so richtig geglaubt – der Vorrat reichte immer nur für wenige Tage. Umso erfreuter bin ich, dass es wie in den vergangenen Jahren am Schluss doch ein spannender und auch gelegentlich spannungsgeladener Kalender geworden ist. Dafür möchte ich mich schon jetzt bei allen bedanken, die zu diesem Kalender mit ihren Texten beigetragen haben.

Mit meiner Einladung, über „systemisches Engagement“ nachzudenken, habe ich mir nicht wirklich klargemacht, welchen Raum für unterschiedliche Bedeutungen ich damit eröffnet habe. Aber irgendwie war dieser Begriff  irreführend und produktiv zugleich. Mein persönlicher Ausgangspunkt war die Beschäftigung mit der Frage, wofür ich mich engagiere und engagieren will – oder eben auch nicht – und welche Rolle systemisches Denken und Handeln hierfür spielen kann. Die inhaltliche Fülle und Breite der Beiträge hat deutlich gemacht, dass unter Engagement sehr viel Unterschiedliches verstanden werden kann. Weiterlesen →

23. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender: Zwischen Allparteilichkeit und engagiertem Partei Ergreifen – Gedanken aus einem engagierten Kontext

Cornelia Tsirigotis, Aachen: Zwischen Allparteilichkeit und engagiertem Partei Ergreifen – Gedanken aus einem engagierten Kontext

Systemisches Engagement oder Engagement von systemisch denkenden und handelnden  Menschen? Seit dem Erscheinen des diesjährigen Themas „systemisches Engagement“ druckse ich herum am Widerspruch oder der Gratwanderung zwischen Systemischen Haltungen wie Neutralität, Allparteilichkeit oder Multiperspektivität und Engagement. Aus meiner Sicht entspringt das sich Engagieren eher aus einer Haltung der Parteilichkeit: sich für etwas oder jemanden einzusetzen, sich über Missstände aufregen zu können und an ihrer Beseitigung arbeiten, sein Herz für jemanden zu erwärmen, der in Not ist, sich zugunsten von jemand, der das nicht so gut kann, einzumischen… Auch Engagement braucht eine Haltung, es entspringt aus den Fähigkeiten, sich über Missstände aufregen zu  können, benachteiligungssensibel wahrzunehmen, sprungbereit zu sein und vieles mehr.  Weiterlesen →

22. Dezember 2017
von Tom Levold
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Lynn Hoffman (10.9.1924-22.12.2017)

Gestern morgen ist Lynn Hoffman im Alter von 93 Jahren an den Folgen einer schweren Lungenentzündung gestorben. Sie gehörte zu den wichtigen PionierInnen der Familientherapie und darunter zu denen, die in den 80er Jahren und danach am entschiedensten die Wende zu konstruktivistischen und dann zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen vollzogen haben.

Sie wurde am 10.9.1924 in Paris geboren, ihre Mutter (Ruth Reeves (1892–1966) war Malerin und Textilgestalterin. Lynn Hoffman schloss 1946 ein Studium der Englischen Literatur mit Auszeichnung ab und kam über die professionelle Arbeit u.a. mit psychiatrischen Texten in Verbindung mit der familientherapeutischen Szene jener Jahre. 1967 brachte sie gemeinsam mit Jay Haley das Buch „Techniques of Family Therapy“ heraus, in dem verschiedene Familientherapeuten zu ihrer Arbeit anhand von Transkripten von Therapiesitzungen interviewt wurden. 1969 begann sie ein Studium der Sozialarbeit und spezialisierte sich in Familientherapie. Aus ihrer Zusammenarbeit mit Haley resultierte auch ihre zunächst strategische Therapieorientierung – das änderte sich in den 80er Jahren, seit dieser Zeit vertrat sie einen post-systemisch/post-modernen/kollaborativen Ansatz.

In Deutschland wurde sie in den 80er Jahren durch den Band „Grundlagen der Familientherapie“ bekannt, der trotz seiner grauenvollen Druckqualität als echtes Grundlagenwerk zum Renner in der systemischen Szene hierzulande wurde. 1987 erschien ein Diskussionsband mit Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin und Peggy Penn über den Mailänder Ansatz, der 1997 auch in deutsch herauskam. 2002 schrieb sie ihre „intimate history“ der Familientherapie, in der sie ihre eigene und die Geschichte des familientherapeutischen Ansatzes (und darüber hinaus) reflektiert, ein spannender Band, der seiner Übersetzung noch harrt.

Lynn war aber nicht nur als Autorin, sondern auch als Herausgeberin erfolgreich, die sie u.a. für die Family Process und das Journal of Marital & Family Therapy war. Bis sie sich 2000 zur Ruhe setzte, lehrte sie viele Jahre als Lehrtherapeutin am Ackerman Institute und an der Smith College School of Social Work in New York.

Ich lernte Lynn Hoffman 1981 in Zürich kennen, wo sie im September auf dem 7. Internationalen Symposium für Familientherapie einen Hauptvortrag hielt, der aber durch den Rummel um Mara Selvini und Paul Dell ein bisschen ins Hintertreffen geriet. Ich erinnere mich noch, dass sie auf einer Overheadfolie ein Schaubild präsentierte, das sie „cosmic salami“ nannte. Das habe ich fleißig abgemalt, konnte es aber heute in meinen Unterlagen nicht mehr finden. Ihre Lust an der Darstellung von theoretischen in Verbindung mit praktischen Problemen ist mir aber lebhaft in Erinnerung. Zum Kongressfest mussten wir mit der Bahn fahren und ich kam – als blutjunger Novize – ihr gegenüber zu sitzen. Sofort verwickelte sie mich in ein intensives Gespräch über Köln, meine Arbeit und andere Dinge, die sie von mir wissen wollte. Eine wunderbare spontante Begegnung, die mir schon damals zeigte, mit wie viel Neugier, Interesse und Respekt Lynn durchs Leben ging.

Auf Youtube gibt es ein sehr schönes Filmportrait von Lynn Hoffman zu sehen, Autor ist Christopher Kinman, selbst Familientherapeut aus Vancouver. Der Titel lautet „All Manner of Poetic Disobedience“ und zeigt nicht nur Lynn Hoffman, sondern auch viele ihrer Bekannten und Weggenossen im Interview.

Wir werden Lynn vermissen – es gibt nicht mehr viele ihrer Generation in unserem Feld.

22. Dezember 2017
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender – „Wundern mit Luhmann“

Torsten Groth, Münster: „Wundern mit Luhmann“

Zum 90. Geburtstag von Niklas Luhmann sind kürzlich zwei Tagungen organisiert worden und zwei Bücher erschienen. Eines zur „Systemtheorie der Gesellschaft“, das auf einem Manuskript aus den 70er Jahren basiert, und eines zur „Kontrolle von Intransparenz“, das – herausgegeben von Dirk Baecker – einige seiner letztveröffentlichten Aufsätze zusammenführt. Ich nehme all dies zum Anlass, die Diskussion um „Systemisches Engagement“ mit einigen soziologisch-systemtheoretischen Ideen zur Gesellschaftsberatung zu verknüpfen.

Zunächst mag diese Verknüpfung verwundern. Luhmann ist sicher nicht hervorgetreten als Prediger eines gesellschaftlichen Engagements. Vielmehr nahm er die Rolle des Mahners vor zu viel gut gemeintem Engagement (und zu viel Veränderungseuphorie) ein. Mit seiner skeptischen Haltung positionierte er sich in der noch fühlbar aufgeheizten Post-68er Zeit gegen eine Vielzahl emanzipatorischer Ansätze. Diese Haltung wurde Luhmann oftmals charakterlich zugeschrieben, obgleich er seine nüchterne Einschätzung stringent aus seiner Theorie abgeleitet hat. Eine Theorie, die sich auch fast 20 Jahre nach dem Tod Luhmanns ironischerweise gerade bei all jenen Ansätzen einer großen Beliebtheit erfreut, die sich professionell mit Veränderungsbemühungen beschäftigen, v.a. der systemischen Organisationsberatung. Weiterlesen →