Rudolf Klein, Merzig:
Einheit ohne Humor ist witzlos (frei nach F.B. Simon)
Als ich vom diesjährigen Motto des Adventskalenders las, dachte ich: „Das kenne ich doch irgendwoher.“ Und dann fiel mir ein, dass Tom vor genau 10 Jahren schon einmal dazu aufgerufen hatte, den Mauerfall thematisch zum Gegenstand des Adventskalenders zu machen. Ich las meinen damaligen, eher ernsthaften Text und dachte, dass ich nach 10 Jahren nicht viel mehr Neues schreiben und dies der erste Adventskalender sein würde, zu dem ich aus Mangel an Einfällen nichts beitragen könne.
Hinzu kam, dass ich keine Lust hatte, einen bierernsten Text zu schreiben. Die Vorweihnachtszeit und damit auch ein Adventskalender haben für mich eher etwas Leichtes, Lockeres, Beschwingtes. Warum nicht auch mal zum Thema Mauerfall und Einheit? Es wollte mir aber einfach nicht gelingen.
Ich fragte mich zum Beispiel, ob es in einem so komplexen Vorgang wie dem Zusammenwachsen zweier Staaten nicht vielleicht um noch langsamere Langsamkeit, um noch geduldigere Geduld gehen sollte statt um Beschleunigung oder das Lamentieren über die zu geringe Geschwindigkeit des Prozesses. Damit ausreichend Zeit und Muße für die Frage übrig bleibt, welche Ähnlichkeiten und Unterschiede existieren, wie sich diese entwickelt und erhalten haben, wie wir sie verstehen könnten und ob sie bestehen bleiben, sich stärker herauskristallisieren sollten oder eben nicht. Damit die „sanfte Revolution“ Zeit zur Entwicklung hat und nicht vorschnell als beendet erklärt wird. Denn wenn sie zu Ende wäre, was wäre dann „der Anfang“? Kürzlich las ich den Satz: „Eine gute Revolution ist nicht unter 800 Jahren zu haben.“ (Kluge 2017, S. 139).
Vielleicht sollte auch der Begriff „Einheit“ und die damit zusammenhängenden Assoziationen nicht so selbst-verständlich hingenommen werden. Was soll das eigentlich sein, „die“ Einheit? Woran merkt man, wenn sie erreicht ist? An einer Unterschiedslosigkeit etwa? Ich hoffe nicht.
Ich möchte vorhandene Konfliktfelder nicht ausblenden und kann nur ungläubig meinen Kopf über meine langjährige Haltung schütteln, die DDR als das interessantere System eingeschätzt und über menschenverachtende Stasi-Bespitzelungen hinweggesehen zu haben.
Ich möchte aber auch nicht in die Position verfallen, Einheit mit (Verteilungs-) Gerechtigkeit oder Gleichheit zu verwechseln und diese auch noch für herstellbar, machbar, kontrollierbar, gar produzierbar zu halten. Das wäre eine Hoffnung (oder: Aberglaube), die einem Machbarkeitswahn verfallen ist und notwendig Enttäuschungen gebiert.
Und es beschleicht mich noch ein ungewöhnlicher Gedanke. Vielleicht wird Einheit erst erlebt werden können, wenn vergessen wurde, dass es zwei Staaten gab. Erinnerung führt halt dazu, immer und immer wieder den Unterschied herauszukristallisieren, zu vergleichen und Differenzen zu bewerten. Oder anders formuliert: Eine Erinnerungskultur führt nicht nur zu Jubel – sie hat auch einen Preis.
Doch halt! Jetzt fallen mir doch tatsächlich Witze ein. Vielleicht täte etwas Lockerheit gut und sicher wäre der eine oder andere dieser Witze nicht schlecht. Aber wie das mit Witzen so ist – ob man über sie lachen kann, hängt zu einem nicht unbeträchtlichen Teil davon ab, wie hoch der Verbissenheitsquotient hinsichtlich der Thematik Einheit, Gleichheit und Gerechtigkeit einzuordnen ist. Ich lasse es lieber mit den Witzen.
Zum Glück drängt sich eine andere Geschichte auf. Weniger verfänglich – jedoch möglicherweise verwirrender:
Ein Zen-Meister und ein Meister im Bogenschießen verabreden sich zum gemeinsamen Bogenschießen. Sie platzieren die Zielscheibe an den Rand einer Klippe. Unmittelbar dahinter fällt der Felsen ca. 100 Meter tief ins Meer. Der Meister des Bogenschießens macht den Anfang. Er legt seinen Pfeil ein, spannt die Sehne bis sie seine Wange berührt, und am höchsten Punkt seiner Konzentration lässt er den Pfeil los. Dieser schießt los und trifft genau in die Mitte der Zielscheibe. Ein meisterhafter Schuss.
Dann nimmt der Zen-Meister seinen Pfeil und fädelt ihn in seinen Bogen. Er spannt die Sehne bis sie seine Wange berührt. Am höchsten Punkt seiner inneren Sammlung lässt er den Pfeil los. Der Pfeil fliegt los, hoch über die Zielscheibe hinweg, verfehlt diese um mehrere Meter und landet schließlich weit im Meer. Der Zen-Meister schaut, lächelt und sagt: „Volltreffer!“.
Literatur:
F. von Schirach u. A. Kluge: Die Herzlichkeit der Vernunft. München (Luchterhand)