systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

9. September 2021
von Tom Levold
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Ideengeschichte der Psychotherapieverfahren

Im Kohlhammer-Verlag ist dieses Jahr ein Gemeinschaftswerk zur Ideengeschichte der Psychotherapie erschienen, das von Bernhard Strauß, Mark Galliker, Michael Linden und Jochen Schweitzer als Vertreter der bekanntesten und verbreitetsten Therapieschulen herausgegeben worden ist und Beiträge von über 50 renommierten Autorinnen und Autoren aufweist. Mit Spannung habe ich das Buch in die Hand genommen, mich aber bei der ersten Durchsicht zunehmend gewundert, dass im Buch keine Literaturangaben zu den in den Texten erwähnten Quellenangaben zu finden sind – stattdessen enden die einzelnen Texte mit ein paar spärlichen Lesetipps zur ,Vertiefung’. Schließlich wurde ich durch die Rezension von Stefan Beher darauf aufmerksam, dass die Literaturverzeichnisse sämtlich nur im Internet zu finden sind. Dort kann man dann eine zip-Datei herunterladen und bekommt damit 44 PDF-Dateien auf den Rechner gespielt. Dass Verlage auf diese Weise Kosten reduzieren wollen, scheint Mode zu werden (immerhin eine Praxis, die der Thieme-Verlag mit der Zeitschrift PiD schon seit Jahren betreibt), billigen kann man das nicht. Unfassbar vor allem aber, dass sich die Herausgeber auf diese Verfahrensweise eingelassen haben, handelt es sich doch dabei um eine weitgehende Amputation eines wissenschaftlichen Werkes, dessen Rezeption in hohem Maße auf die Zugänglichkeit von Quellen angewiesen ist – wer möchte schon ein Buch mit daneben gelegten 44 ausgedruckten PDF-Dateien oder vor dem eingeschalteten Rechner lesen? Ich halte es für die Verantwortung von Autoren und Herausgebern aller Geschlechter, sich nicht auf solche Verstümmelungen einzulassen.

Stefan Beher und Barbara Bräutigam haben das Buch rezensiert – ihre Besprechungen können Sie hier lesen.

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7. September 2021
von Tom Levold
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Francisco Varela (7.9.1946-28.5.2001)

Foto: Joan Halifax (cc 2.0 Wikicommons)

Heute würde Francisco Varela 75 Jahre alt. Er wurde in Talcahuano (Concepción) geboren, studierte an der dortigen Universität Biologie, wo auch seine Zusammenarbeit mit Humberto Maturana begründet wurde, und erwarb 1970 an der Harvard-Universität seinen Doktor (Ph.D.) in Biologie. Drei Jahre nach seiner Rückkehr nach Santiago fand der Militärputsch in Chile statt und Varela reiste zurück in die USA, wo er von 1974 bis 1978 forschte. Ab 1984 war er nur noch in Europa tätig, zunächst als Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt/M., danach bis zu seinem Tode in Paris, wo er als Forschungsdirektor der Abteilung für Neurodynamik des CNRS in Paris sowie als Leiter der Neurodynamik-Einheit am Hôpital de la Salpêtrière tätig war. Seinen letzten wissenschaftlichen Vortrag hielt Varela am 24. März 2000 auf der 8. Mind-and-Life-Konferenz, die unter Leitung von Daniel Goleman in Dharamsala stattfand. Das Thema des Vortrags lautete Wissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins. 2001 starb Varela an seinem Krebsleiden.

In Deutschland bekannt wurde er vor allem für seine gemeinsamen Arbeiten mit Humberto Maturana zur Autopoiese-Theorie und durch seine buddhistisch inspirierten Arbeiten zum Thema Bewusstsein. In John Brockmans Buch The Third Culture: Beyond the Scientific Revolution, das 1995 bei Simon & Schuster erschien und in dem die Arbeit verschiedener Theoretiker der Lebenswissenschaften vorgestellt und diskutiert wurden, ist ein Kapitel über Varela erschienen, in dem er seine eigene wissenschaftliche Agenda zusammenfasst, (mehr oder auch weniger wohlwollend) kommentiert von verschiedenen wissenschaftlichen Fachkollegen. Der Text dieses Kapitels kann hier gelesen werden…

3. September 2021
von Tom Levold
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Kinder sind keine Tyrannen. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) zur WDR-Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind“

Vor kurzem hat die Ausstrahlung einer Dokumentation über die Praktiken des Bonner Kinder- und Jugendlichenpsychiaters und prominenten Autors Michael Winterhoff am 9.8.2021 im WDR Aufsehen erregt. Von der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) liegt folgende Stellungnahme vom 3.9.2021 vor:

Stellungnahme der DGSF zur WDR-Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind“

Der TV-Beitrag „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ von Nicole Rosenbach (Die Story, Erstausstrahlung am 9. August 2021, WDR-Fernsehen) befasst sich mit der Arbeit des auch als Bestsellerautor bekannten Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. Michael Winterhoff. Der Bonner Facharzt arbeitet mit Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen zusammen und behandelt Kinder aus stationären Einrichtungen. Seine Behandlungsmethoden werden in der Dokumentation heftig kritisiert. Als Autor wurde Winterhoff vor allem mit dem Sachbuch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ bekannt, ein Bestseller aus dem Jahr 2008.

Als größte systemische Fachgesellschaft mit über 8000 Mitgliedern (u. a. systemisch- therapeutisch/-beraterisch arbeitende Sozialarbeiter*innen, Pädagog*innen, Sozialwissenschaftler*innen, Erzieher*innen, Psycholog*innen, Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen) sehen wir uns zu einer Stellungnahme veranlasst, da wir gerade an der Schnittstelle Psychiatrie, Psychotherapie und Jugendhilfe Kinder und deren (Familien-)Systeme im Blick haben und das im Film gezeigte Material systemischen Grundannahmen und -haltungen eklatant widerspricht.

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1. September 2021
von Tom Levold
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Autopoietische Systeme und sympoietische Gefüge. Niklas Luhmann meets Donna Haraway.

In einem Beitrag zur Ad-Hoc-Gruppe »Symbiose als Begriff und Gegenstand der Soziologie. Zur
Komplexität biosozialer Dynamiken zwischen Lokalem und Globalem« auf dem 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, der 2018 in Göttingen stattfand, präsentierte die Frankfurter Soziologin Katharina Hoppe ein Paper, in dem sie das Autopoiese-Konzept Niklas Luhmanns mit dem Sympoiese-Konzept der Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway in Verbindung setzt.

In ihrer Einleitung heißt es: „Es liegt vielleicht nicht unmittelbar auf der Hand so unterschiedliche theoretische Positionen, wie die Donna Haraways und jene Niklas Luhmanns in ein Gespräch zu bringen. Auf der einen Seite Haraway, die sich als Biologin und feministische Theoretikerin darum bemüht, eine narrative, häufig mit Figurationen und Beispielen operierende Theoriebildung zu befördern (…). Eine Theoriebildung, die dabei jeder Großtheorie eine Absage erteilt und demgegenüber partiale Perspektiven (Haraway …) fordert. Auf der anderen Seite Luhmanns Systemtheorie – vielleicht die Großtheorie schlechthin –, die mit dem Vorwurf des Szientismus ebenso konfrontiert wurde wie demjenigen des Konservatismus (vgl. etwa Habermas …). Während es also zunächst kontraintuitiv erscheint, diese Perspektiven gemeinsam zu diskutieren, finden sich bei näherer Beschäftigung eine ganze Reihe von Parallelen. Einer dieser Konvergenzen möchte ich im Folgenden nachgehen: dem beiden gemeinsamen Interesse an einer post-anthropozentrischen Theorie und der Beschäftigung mit ökologischen Gefährdungen aus Perspektive der soziologischen Theoriebildung. Denn nicht nur werden Haraways Arbeiten jenen Denkbewegungen zugeordnet, die seit einigen Jahren nicht-menschliche Wirkmächtigkeit in die soziologische Theorie einzubeziehen versuchen, wie die Akteur-Netzwerk-Theorie (Law, Hassard; Belliger, Krieger) oder sogenannte Neue Materialismen (Coole, Frost; Hoppe, Lipp; Löw et al.); auch Luhmann (…) begründet seine Faszination für die Kybernetik zweiter Ordnung mit einer Begeisterung für deren post-anthropozentrische Stoßrichtung, nämlich damit, „daß man von verschiedenen emergenten Ebenen des Ordnungsaufbaus der Realität ausgehen muß, die den Menschen sozusagen durchschneiden.“ Beide Ansätze haben diese theoretische Orientierung auch an die Annahme gekoppelt, dass es sozio- logisch relevant ist, sich mit Umwelt und Ökologie zu beschäftigen, ohne eine starre Unterscheidung von Natur und Sozialem vorauszusetzen: Diese Grenzziehung muss vielmehr selbst Gegenstand der Analyse werden. Und überzeugt sind sie beide – schon seit den 1980er Jahren –, dass ein naiver Anth- ropozentrismus keine soziologische Antwort auf das sein kann, was in den letzten Jahren häufig als „Anthropozän“ (Crutzen, Stoermer) bezeichnet wird.

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25. August 2021
von Tom Levold
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Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) zum Heilpraktikerrecht

Das Bundesgesundheitsministerium hat im Juli Verbände zu Einschätzungen zum Rechtgutachten zum Heilpraktikerrecht aufgefordert. Die DGSF hat eine Stellungnahme abgegeben, in der sie vor allem für den Erhalt der „Heilpraktikererlaubnis für Psychotherapie“ eintritt. Hier die Stellungnahme der DGDF im Wortlaut:

Vorbemerkung

Die DGSF ist ein gemeinnütziger Fachverband mit mehr als 8.000 Mitgliedern, von denen zahlreiche psychotherapeutisch tätig sind – einerseits mit Approbation, andererseits auf der Grundlage einer Heilpraktikererlaubnis (eingeschränkt auf den Bereich der Psychotherapie). Deshalb sind die Entwicklungen des Heilpraktikerrechts für unsere Mitgliedschaft von hoher Relevanz.
Die Initiative des Bundesgesundheitsministeriums, ein Rechtsgutachten zum Heilpraktikerrecht erstellen zu lassen und dazu eine ergebnisoffene Diskussion anzuregen, wird von uns begrüßt. Veränderungen und Klarstellungen im Bereich des Heilpraktikerrechts sind nach unserer Einschätzung sinnvoll, bedürfen aber einer breiten gesellschaftlichen Diskussion unter Beteiligung der relevanten Verbände.
Da nicht alle Fragen des Fragenkatalogs im Schreiben des Ministeriums an Fachverbände vom 8. Juli 2021 für die Mitglieder der DGSF relevant sind, möchten wir im Wesentlichen zu den allgemeinen Fragen sowie zur sektoralen Heilpraktikererlaubnis Stellung nehmen.

Stellungnahme

In Deutschland ist der Bereich der Psychotherapie im Hinblick auf die Zulassung der Behandler*innen und die Erstattung von Leistungen durch die gesetzlichen Krankenkassen stark geregelt. Solange die sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie fehlte, mussten Patient*innen, die im ambulanten Bereich keine psychodynamische oder verhaltenstherapeutische, sondern eine systemisch ausgerichtete Psychotherapie wollten, auf die Psychotherapeut*innen zurückgreifen, die eine Erlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz hatten. Inzwischen ist eine Approbation als Psychologische Psychotherapeut*in bzw. als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*in mit dem Vertiefungsgebiet Systemische Therapie möglich. Erste Ausbildungen starteten 2011 [Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie] und 2014 [Ausbildung zur/zum Psychologischen Psychotherapeut*in] und seit Sommer vergangenen Jahres ist Systemische Therapie für Erwachsene auch Leistung der gesetzlichen Krankenkassen, im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie allerdings bisher nicht (der Beschluss zum Beginn des entsprechenden Prüfverfahrens steht aktuell auf der Tagesordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses).

Wir schätzen die Lage so ein, dass auf längere Sicht nicht ausreichend approbierte systemische Therapeut*innen zur Verfügung stehen werden, um eine gute Versorgung sicherzustellen. Daher halten wir es für dringend angebracht, am Beruf des/der Heilpraktiker*in für Psychotherapie festzuhalten. Auch sind wir davon überzeugt, dass es mehr Berufsgruppen gibt, die einen fruchtbaren Beitrag zur psychotherapeutischen Versorgung leisten können als diejenigen, die nach Gesetzeslage in Deutschland einen psychotherapeutischen Beruf mit Approbation ergreifen können. Diesen Berufsgruppen jede Möglichkeit zu nehmen, psychotherapeutisch tätig werden zu können, halten wir nicht für angemessen.

Hinzu kommt, dass eine strikte Einschränkung auf wenige Psychotherapieverfahren kaum geeignet ist, Innovationen in der Versorgung durch „alternative“ oder „Nicht-Mainstream-Verfahren“ zu ermöglichen oder gar zu fördern. So halten wir zum Beispiel die Gesprächspsychotherapie oder die Gestaltpsychotherapie (oder andere „Humanistische Verfahren“) in der Patient*innenversorgung für durchaus sinnvoll, diese spielen aber aufgrund der Eingrenzung auf „Richtlinienverfahren“ im Gesundheitssystem nur (noch) eine marginale Rolle.

Hinweisen möchten wir auch darauf, dass viele Sozialarbeiter*innen, Sozialpädagog*innen oder Diplom-Pädagog*innen im Rahmen der Jugendhilfe neben vielfachen Beratungsleistungen auch therapeutische/psychotherapeutische Leistungen außerhalb der Heilkunde erbringen. In vielen Fällen haben diese Fachkräfte auch eine Heilpraktikererlaubnis eingeschränkt auf den Bereich der Psychotherapie, um heilkundliche Leistungen anbieten zu dürfen, ohne sich strafbar zu machen.

Insofern begrüßen wir die Feststellung des Gutachters, dass es derzeit keine Grundlage für die Abschaffung des Heilpraktikerberufs gebe, ausdrücklich. Dabei halten wir den Vorschlag, das Rechtsgutachten zum Heilpraktikerrecht um ein empirisches Gutachten zu ergänzen, um insgesamt die Daten- bzw. Faktenlage zu verbessern, für hilfreich.

Ein Festhalten an der Möglichkeit der Zulassung von „Heilpraktiker*innen für Psychotherapie“ halten wir für sinnvoll und im Sinne der Patient*innenversorgung derzeit sogar für notwendig. Gleichzeitig plädieren wir sehr dafür, das Qualifikationsniveau der „Heilpraktiker*innen für Psychotherapie“ weiterzuentwickeln. Gesetzesänderungen in diesem Bereich sollten unbedingt Möglichkeiten aufrechterhalten oder schaffen, dass eine psycho- therapeutische Versorgung auch jenseits der „Richtlinienpsychotherapie“ in einem minder streng geregelten Bereich möglich bleibt.

Dr. med. Filip Caby, Vorsitzender
Prof. Dr. Matthias Ochs, stv. Vorsitzender
Bernhard Schorn, Geschäftsführer

13. August 2021
von Tom Levold
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Eia Asen wird 75!

Wenn man im Urlaub weilt, geht einem schon mal der Blick für Termine verloren. Heute wird Eia Asen 75 Jahre alt, und systemagazin gratuliert spät, aber nicht zu spät – und von Herzen. Eia Asen ist Psychiater für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und Fellow des Royal College of Psychiatrists in England. Seit über 40 Jahren lebt und arbeitet er in England, davon viele Jahre bis 2013 als klinischer Leiter des Marlborough Family Service, einer systemisch orientierten psychiatrischen Einrichtung für Kinder, Jugendliche und Familien im Zentrum von London. Hier hat er das Konzept der Multifamilientherapie begründet, das er in Zusammenarbeit mit Michael Scholz auch nach Deutschland brachte. In der Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie hat er gemeinsam mit Michael Scholz die Multi-Familientherapie in unterschiedlichen Kontexten beschrieben. Seit 2013 arbeitet er als Psychiater und Familientherapeut für das Anna Freud National Centre for Children and Families. In Zusammenarbeit mit Peter Fonagy hat er das Konzept der Mentalisierung, das ursprünglich im Einzelsetting entwickelt wurde, für das systemische Feld fruchtbar gemacht. Zuletzt hat Eia Asen in Heft 1/2021 des Kontext die Mentalisierungs-informierte Systemische Therapie und ihre Evidenzbasis vorgestellt.

Lieber Eia, zum Geburtstag alles Gute, Gesundheit und weiterhin viel Schaffenskraft – let life be good to you!

4. August 2021
von Tom Levold
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Erinnern I und Erinnern II

In den Medien tobt derzeit eine Auseinandersetzung über das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus, von Holocaust und Kolonialismus, über die Frage, ob Holocaust ein singuläres Ereignis war oder in Bezug zu anderen Genoziden gesetzt werden darf. Diese Debatte wird hitzig, oft moralisierend und manchmal auch hysterisch geführt. In einer sehr klugen Analyse untersucht Sebastian Conrad, seit 2010 Professor für Neuere Geschichte an der FU Berlin, in der neuen Ausgabe des Merkur, warum die Vergangenheitsdebatte gerade jetzt so explodiert. Er weist auf eine Veränderung des „Erinnerungsregimes“ von der im Deutschland der Nachkriegszeit mit viel Mühen entwickelten Vergangenheitsbewältigung hin zu einer nun globalisierten Erinnerungskultur, die nur vordergründig miteinander im Konflikt liegen, sich aber gar nicht ausschließen.

In seinem sehr lesenswerten Text heißt es: „Geschichte lebt wieder in Deutschland, ist präsent im öffentlichen Raum wie lange nicht mehr. Konflikte und polemische Debatten überall: das Humboldt-Forum und koloniale Beutekunst; die Umbenennung der M-Straße; einhundertfünfzig Jahre Deutsches Kaiserreich; Achille Mbembe, Holocaust und Kolonialismus, die Deutschen mit »Nazihintergrund« und nicht zu vergessen die Machenschaften der Hohenzollern. So unterschiedlich die Debatten im Einzelnen sind, immer wird dabei die Deutung der NS-Zeit oder des Kolonialismus mitverhandelt; häufiger sogar beides. Kein Tag, an dem das Feuilleton nicht bebt, die Twitter-Sphäre ohnehin. Die Dinge, um die es geht, liegen alle lange zurück, sehr lange; manche waren beinahe vergessen. Jetzt sind die Diskussionen gleichwohl so heftig, als ginge es um alles. Warum regen sich gerade alle so auf?

In dem gegenwärtigen Kampf um die historische Deutungshoheit mangelt es nicht an Kommentaren, Einlassungen, Deutungen. Aber meist geht es dabei um normative Fragen: Soll koloniale Kunst zurückgegeben, Immanuel Kant aus den Lehrplänen verbannt, sollen Straßen umbenannt werden? Sollte die deutsche Gesellschaft auf der Einzigartigkeit des Holocaust bestehen, oder gibt es eine Verantwortung für die Opfer des Kolonialismus? Diese normativen Fragen – was sollen wir tun? – sind wichtig; sie werden die Feuilleton-Öffentlichkeit noch auf absehbare Zeit beschäftigen. Bislang wird jedoch viel zu wenig thematisiert, worin die Gründe für die aktuelle Aufmerksamkeitsexplosion bestehen. Warum jetzt? Was sagt es über die Gegenwart, wenn die Geschichte wieder zum Gegenstand einer erbitterten, häufig polemischen Auseinandersetzung wird?Was wir im Kern beobachten, sind die Effekte der Ablösung eines Erinnerungsregimes durch ein anderes: Das historische Narrativ der Nachkriegszeit (Erinnerung I) wird durch einen veränderten Erfahrungshaushalt in der globalisierten Gegenwart herausgefordert oder zumindest ergänzt (Erinnerung II). Die Erinnerungsdebatte ist dabei nur die Oberfläche, unter der grundlegende gesellschaftliche Veränderungen liegen, die keineswegs auf Deutschland beschränkt bleiben.“

Der vollständige Text kann hier gelesen werden…

2. August 2021
von Tom Levold
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Eve Lipchik wird 90!

Eve Lipchik 2014 (Foto: Tom Levold)

Heute feiert Eve Lipchik ihren 90. Geburtstag und systemagazin gratuliert von ganzem Herzen. Zu ihrem 85. Geburtstag hatte ich im systemagazin über sie geschrieben: „Sie wurde am 2.8.1931 in Wien geboren und konnte in letzter Minute mit ihrer Mutter nach dem nationalsozialistischen Anschluss Österreichs in die USA entkommen, nachdem ihr Vater schon kurz zuvor nach England ausreisen konnte. Im Frühsommer 1940 erreichte sie mit ihrer Mutter New York. Nach Schulabschluss und einem Studium der Literaturwissenschaften arbeitete sie u.a. bei einer Werbeagentur und bei der Fernsehgesellschaft NBC. Mit ihrem Mann Elliot, einem Arzt und Biologen, ging sie 1953 nach Basel, wo sie als Übersetzerin tätig war. 1958 gingen sie zurück in die USA. Nach einer längeren Familienzeit, in der drei Kinder geboren wurden, entschloss sie sich in den 70er Jahren, noch einmal eine Ausbildung zu machen und kam so mit den Feldern der Psychotherapie und Sozialarbeit in Berührung. Um 1980 kam sie mit Steve de Shazer und Insoo Kim Berg in Kontakt und war Mitbegründerin des Brief Family Centers in Milwaukee und wirkte in dieser Zeit an der Entwicklung der lösungsfokussierten Therapie mit. 1988 kam es aber zu einer Trennung von der Gruppe, die auch inhaltliche Aspekte hatte. In der Folgezeit fokussierte sie stärker auf den Bereich der Affekte und Emotionen in der Arbeit mit Klienten, ein Fokus, der in der theoretischen Arbeit des BFTC kaum eine Rolle spielte.“

Über ihr dramatisch beginnendes und bis ins hohe Alter hinein spannendes und erfülltes Leben haben Corina Ahlers und ich lange mit ihr gesprochen, unser Interview ist auch im systemagazin veröffentlicht worden. Über ihre eigene berufliche Entwicklung, die gemeinsame Zeit mit Steve de Shazer und Insoo Kim Berg sowie ihre Trennung von der BFTC-Gruppe hat sie 2014 einen Artikel im International Journal of Solution-Focused Practices veröffentlicht, der hier zu lesen ist.

Liebe Eve, zum 90. Geburtstag alles Gute! Ich hoffe, dass du diesen Tag gesund erlebst und ihn mit deinen Lieben feiern kannst. Let life be good to you!

31. Juli 2021
von Tom Levold
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Die Psychologie des Zusammenseins

Vor kurzem erschien an dieser Stelle ein Rezensionsessay von Wolfgang Loth über Texte der BochumerArbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus, über Die Psychologie des Alltags. Ebenfalls im dgvt-Verlag ist mit gleichem, aber spiegelverkehrten Cover, ein 444 Seiten starker, bereits 2009 im englischen Original veröffentlichter Band von Ken Gergen über Die Psychologie des Zusammenseins erschienen, in dem er die Abkehr von der individualistische Tradition, das autonome Selbst in den Mittelpunkt der Psychologie zu stellen, begründet. Wolfgang Loth hat auch dieses Buch für systemagazin gelesen und steuert folgenden Rezensionsessay bei:

Wolfgang Loth, Niederzissen: Vision einer relational aufmerksamen Welt

Kraft und Bedeutung des Gemeinschaftlichen sind Ken Gergens Thema seit vielen Jahren. Das Gemeinschaftliche in den Vordergrund zu rücken gegenüber der in unseren Breiten dominierenden individualistischen Weltsicht ist sein Anliegen, und er hat das konsequent weiterverfolgt auch gegen Widerstände. Der Begriff des Sozialen Konstruktionismus ist untrennbar mit ihm und seiner Frau Mary verbunden[1]. Das nun vorliegende Buch erschien im Original vor etwas mehr als 10 Jahren unter dem Titel Relational Being: Beyond Self and Community (2009[2]). Trotz der Prominenz, die die Gergens auch im deutschsprachigen Raum genießen, war es bis jetzt nicht ins Deutsche übersetzt worden. Thorsten Padberg hat diese Lücke nun geschlossen, er hat das Buch übersetzt und ihm ein ausführliches Vorwort gewidmet: „Aufforderung zum Tanz – Kenneth Gergens Psychologie des Zusammenseins“. 

Das Vorwort führt auf ansprechende Art in Gergens Denkweise und in die Absicht ein, die dieses Buch trägt[3]. Doch lässt der Titel des Vorwortes, wie eben auch der Titel der übersetzten Buchausgabe bei mir eine Irritation entstehen, die sich auch nach der an sich erhellenden und im Wesentlichen sehr anregenden Lektüre nicht auflöst. Was hat Padberg bewegt, das spielraumeröffnende relational being für eine bestimmte Fachdisziplin zu reklamieren? Da sich Padberg – exzellent auch in seinen erläuternden Fußnoten – als ein sprachlich versierter und desgleichen in Übersetzungsdingen sattelfester Autor erweist, vermute ich hier einen Zusammenhang, der eher nichts mit Gergen zu tun hat, sondern mit einem spezifischen akademischen Kontext, der mir ebenfalls in dem Band der Bochumer Arbeitsgruppe für Sozialen Konstruktivismus über die „Psychologie des Alltags“ aufgefallen ist[4]. Das hier besprochene Buch und das zur Psychologie des Alltags sind gemeinsam herausgekommen, auch optisch als Zwillinge kenntlich gemacht (gleiche Aufmachung, gleiche Coverfarbe), verbindend unterschieden durch die spiegelbildliche Wiedergabe des bekannten Hase-Ente-Kippbildes auf dem Cover (im vorliegenden Buch schaut „der Hase“ nach links). Ich komme auf den irritierenden Psychologie-Fokus am Ende noch einmal zu sprechen.

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25. Juli 2021
von Tom Levold
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Paul Watzlawick (25.7.1921-31.3.2007)

Heute würde Paul Watzlawick 100 Jahre alt. Nachdem er 1960 zur Forschungsgruppe um Gregory Bateson am Mental Research Institute in Palo Alto gestoßen war, wurde er 1969 im deutschen Sprachraum durch seine Übersetzung des Buches Menschliche Kommunikation bekannt, das er gemeinsam mit Janet Beavin und Don D. Jackson verfasst hatte und in dem die wesentlichen Erkenntnisse der Forschungsgruppe enthalten waren. In den Folgejahren machte er die Grundsätze seiner Kommunikationstheorie auch einem weiteren Publikum durch viele Veröffentlichungen bekannt. In den 80er und 90 Jahren war er oft zu Kongressen und Workshops in Europa unterwegs. Vor kurzem ist an dieser Stelle schon ein Video mit den Erinnerungen von Fritz B. Simon an seine persönlichen Begegnungen mit Paul Watzlawick zu sehen gewesen, hier ist ein Vortrag aus dem Jahre 1987 zu sehen, der sehr typisch für sein Auftreten war. Seine Verdienste um die Popularisierung systemischer Überlegungen können nicht hoch genug eingeschätzt werden.

22. Juli 2021
von Tom Levold
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Vom guten Umgang mit Differenzen

Noa Zanolli ist eine Schweizer Sozialanthropologin und Mediatorin und lebt in Bern. In den USA arbeitete sie mehrere Jahre als Mediatorin in einem kommunalen Mediationszentrum, war Ausbildungsleiterin am Iowa Peace Institute und ist international als Mediatorentrainerin tätig. Heute ist sie Mitglied des Redaktionsbeirats der deutsch/schweizerisch/österreichischen Vierteljahreszeitschrift perspektive mediation. Im Wolfgang Metzner-Verlag hat sie 2020 ein kleines Büchlein über „Mediatives Denken“ veröffentlicht. Wolf Ritscher hat es gelesen und empfiehlt die Lektüre.

Wolf Ritscher, Unterreichenbach: Mit feinen Strichen und überaus verständlich

Noa Zanolli ist eine Expertin der Mediation, die in dieser Landschaft theoretisch und praktisch vielseitig unterwegs ist. Sie hat entschieden, kein Buch für Fachleute zu schreiben, die sich im Feld der Mediation noch weiter bilden bzw. ausbilden wollen, sondern einen Text für Menschen, die in ihrem Alltag mit schwierigen oder tagtäglichen zwischenmenschlichen Krisen zurechtkommen müssen und dafür Handwerkszeuge, Handlungskonzepte und möglicherweise neue Sichtweisen über Funktion, Sinn und Lösungsmöglichkeiten von Konflikten benötigen.
Das setzt voraus, für den Text keine Fachsprache zu benutzen, sondern den Leser/innen einen Text anzubieten, der trotz des Verzichts auf differenzierte theoretische und begriffliche Exkurse einlädt, über die in der Lebenswelt von Menschen, Gruppen, sozialen Gemeinschaften auftretenden Konflikte nachzudenken und miteinander nach möglichen Lösungen zu suchen. Ihre wichtigste Intention dabei ist, dass ihnen dieses Buches hilft, einen veränderten und ressourcenorientierten Blick auf die anstehenden Probleme zu werfen.
Die Autorin versteht Mediation als eine Kunst, bei allem was Menschen in Konflikten trennt doch das Verbindende zu suchen und zu finden. Ich würde es eher als Kunsthandwerk bezeichnen, um zu betonen, dass es eben doch auch methodischer Fertigkeiten bedarf, um Konflikte nachhaltig lösen zu können. Die Vision, der sie in ihrem Buch folgte, formuliert sie schon in der Einführung: »Warum sollten nicht möglichst viele Menschen mediativ denken lernen können, sodass sie ihre kleinen und größeren Konflikte angstfrei und zuversichtlich selbst angehen können – so wie es ganz normal ist, bei kleineren Verletzungen zunächst die Hausapotheke zu nutzen oder bei einem Regenguss einfach zum Schirm zu greifen?« (S. 11). Das finde ich so sympathisch an diesem Buch: Mithilfe ganz einsichtiger Formulierungen und Metaphern wird die Welt der Theorien in die Welt alltäglicher Kommunikation überführt und kann alltagspraktisch der Lösung zwischenmenschlicher Konflikte dienen.

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