systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

30. Juni 2009
von Tom Levold
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Zitat des Tages: Hans J. Markowitsch & Harald Welzer


Ein zentrales Problem der disziplinären neurowissenschaftlichen Perspektive auf Gedächtnis besteht darin daß sie auf das Individuum fokussiert. Diese individualistische Perspektive kann nicht erfassen, daß sich das Gedächtnis in einem sozialen Vorgang ausbildet und strukturiert – was das spezifisch Humane am Menschen ist und dafür sorgt, daß aus Information etwas viel Komplexeres wird: Erinnerung. In einem sehr weitgehenden Sinn gilt das aber auch für die sozialwissenschaftliehe Betrachtungsweise, wenn man eine interaktionistisch orientierte Entwicklungspsychologie und Sozialisationsforschung dazu zählen möchte. Denn auch hier wird implizit davon ausgegangen, daß Individuum und Sozialität zwei verschiedene Entitäten seien, und entsprechend richtet sich dann die Kardinalfrage aller Sozialwissenschaften darauf, wie aus einem asozialen Wesen ein gesellschaftliches wird, oder, andersherum, wie eine Gesellschaft, die aus lauter Individuen besteht, mehr sein kann als die bloße Addition handelnder Menschen. Wie zahlreiche Wissenschaftler vor uns auf unterschiedlichste Weise herausgearbeitet haben, ist diese Perspektive so hinderlich wie die Vorstellung, das autobiographische Gedächtnis sei etwas substantiell Individuelles. So hat etwa der Soziologe Norbert Elias schon vor einem Dreivierteljahrhundert darauf hingewiesen. daß wir die Psycho- und Soziogenese des Menschen nur dann zureichend verstehen können, wenn wir den zugrunde liegenden Prozeß als einen begreifen, der sich grundsätzlich innerhalb einer Figuration von Menschen abspielt, die vor dem sich entwickelnden Kind da war. dessen gesamte Entwicklung nach der Geburt also von den kulturellen und sozialen Handlungen und Techniken abhängt, die diese Figuration co-evolutionär entwickelt hat“ (In: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart 2005, S. 260f.)

30. Juni 2009
von Tom Levold
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Therapie und Beratung in Zwangskontexten

Unter dem griffigen Titel„Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden?“ (Über den man allerdings ruhig mal eine Weile nachdenken sollte) hat Marie-Luise Conen im Jahre 2007 ihr Buch über Therapie und Beratung in Zwangskontexten veröffentlicht, ergänzt von Workshop-Transkripten von Gianfranco Cecchin und einem Beitrag von Rudolf Klein über das systemische Verständnis süchtigen Trinken. Wolfgang Loth hat es rezensiert und empfiehlt es als„Standardlektüre für alle, die unter erschwerten Bedingungen helfen sollen und wollen“:„Während Conen im vorliegenden Fall das Gerüst beisteuert, malt Cecchin die praktische Umsetzung anhand von Beispielen und mithilfe von Transkripten aus. Er erweist sich wieder einmal als anregender Erzähler, dem es scheinbar mühelos gelingt, die Fragen und Details, die Conen in lexikalischer Gründlichkeit aufbereitet, als gelebte Praxis zu vermitteln. Doch gibt es auch in Conens Part immer wieder Passagen, die einen unmittelbaren Einblick in die Weise erlauben, wie sie ihre Überlegungen in der Praxis umsetzt“
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29. Juni 2009
von Tom Levold
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Zitat des Tages: Heiko Kleve & Jan V. Wirth

„Auch für Raum kann die funktionale Brille Interessantes beisteuern (…). Die gemeinsame Erfahrung des (jeweiligen) Raums führt nämlich sozial zu der Herausbildung von Raumsemantiken. Systemtheoretisch ist Hier/Dort die basale Raumdifferenz für Beobachter. An diese knüpfen in der Systemgeschichte elaboriertere Unterscheidungen an, je nachdem wie diese Unterscheidung mit weiteren Unterscheidungen versorgt wird (z.B. im Fall von Räumen, die als Container konstruiert werden wie ,Nationalstaat‘). Personen sind in Containermodellen drinnen oder draußen: Raumkommunikation ist daher immer Komrnunikationsvermeidungskommunikation (im Gegensatz zur Netzwerkkommunikation)! Weil Räume (als physisch erzwungene Barrieren) die Möglichkeit zu Kommunikationsabbruch mitführen, erfüllen sie jedoch eine unverzichtbare soziale Funktion: man muss nun nicht mehr kommunizieren. Positiv betrachtet kommt dem Raum daher eine sozial ganz wichtige Coping- und Schutzfunktion zu: jetzt kann man sich vor Kommunikation, vor zu viel – zuerst noch angenehmer – Gesellschaft schützen“ (In: Die Paxis der Sozialarbeitswissenschaft. Eine Einführung. Schneider Verlag Hohengeren, Baltmannsweiler 2009, S. 179).

28. Juni 2009
von Tom Levold
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Nachtrag zu Foucault

Am Donnerstag bekam ich eine schöne Mail von Peter Müssen, der anlässlich der Erinnerung an Michael Foucaults Tod vor 25 Jahren in seinem Archiv gekramt und spontan einen schönen Text über Foucault und Steve de Shazer für die Systemische Bibliothek beigesteuert hat, den er 1995 in systeme veröffentlicht hat. Es geht dabei um die Lebenskunst in Ethik und Therapie:„Um Veränderung, die erfreut oder sogar beglückt, und um Lebenskunst, die zu erfreulichen Veränderungen führt, als gemeinsamem Anliegen der Ethik Michel Foucaults und der Kurzzeittherapie Steve de Shazers soll es gehen; und es handelt sich dabei natürlich um eine Beobachterperspektive, aus der heraus der Versuch gewagt wird, zwei so unterschiedliche Autoren vergleichsweise miteinander in Verbindung zu bringen, zumal de Shazer selbst in einer mündlichen Auskunft den Einfluß Foucaults auf seine Arbeit als minimal eingeschätzt hat. Aus den eigenen Vorannahmen, Verstehensweisen und Intentionen heraus (…) will ich dennoch versuchen, eine Konvergenz zu konstruieren, die sich von einem ‚tertium comparationis‘ leiten läßt, das durch die Stichworte ‚Veränderung‘ und ‚Lebenskunst‘ markiert wird“ Vielen Dank, Peter!
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28. Juni 2009
von Tom Levold
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Technik steh mir bei!

Nachdem mein MacBook Pro vor drei Wochen am Abend vor einem Workshop in Berlin seinen Geist aufgegeben hat (und ich den Workshop ohne Präsentation ganz aus dem Kopf machen musste, was übrigens eine sehr schöne Erfahrung war), nahm die Reparatur geschlagene 18 Tage in Anspruch. Großzügigerweise spendierte mir Apple ein nagelneues Logic Board. Nachdem ich das Gerät am Donnerstag abend abholen konnte und in drei Stunden wieder meine Daten auf den aktuellen Stand gebracht hatte, fiel es am Freitag abend schon wieder in dauerhaftes Schweigen. Gleiches Problem, hoffentlich eine neue Lösung. Nun habe ich mir einen schönen großen iMac besorgt, in der Hoffnung, dass ich endlich wieder normal arbeiten kann. Da wird einem die Abhängigkeit von all dieser Kommunikations-Technik sehr bewusst.

25. Juni 2009
von Tom Levold
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Michel Foucault 15.10.1926-25.6.1984: Macht ist nicht gleich Macht!

Heute vor 25 Jahren starb Michel Foucault. Obwohl alles andere als ein Systemtheoretiker, hat er dennoch den Diskurs der systemischen Therapie und der Familientherapie inspiriert, vor allem durch die Arbeiten des unlängst verstorbenen Michael White. Kürzlich ist in systhema ein (auch online verfügbarer) Beitrag von Kerstin Schmidt und Tanja Bous erschienen, die sich mit der Bedeutung des Foucaultschen Machtbegriffs für den systemischen Diskurs beschäftigten:„Über Macht als gesellschaftliches Phänomen gibt es so viele Sichtweisen, wie es Wirklichkeitskonstruktionen gibt. Eine für Systemiker besonders interessante Sichtweise ist die Machttheorie Michel Foucaults. Im Folgenden wird ein Transfer von ausgesuchten Ansichten Foucaults zu Systemischer Therapie und Beratung dargestellt. Der Artikel versteht sich als Anregung und Irritation: ein Schlüssel für einen verantwortungsvollen Umgang mit Macht liegt in einem differenzierten Verständnis und nicht zuletzt in der Loslösung des Begriffs von einer rein negativen Assoziation“
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24. Juni 2009
von Tom Levold
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Zitat des Tages: Frank Nestmann, Ursel Sickendick & Frank Engel


„Der Trend zur Professionalisierung von Beratung ist in Deutschland und Europa ebenso zwingend wie sicher, wenn auch umstritten (…). So offenbaren zwar verschiedene Indikatoren einen aktuellen Professionalisierungsschub: zunehmende Publikationsraten zum Thema, Beratung als Gegenstand wissenschaftlicher Gesellschaften, erste Bestrebungen zu einer Beratergesetzgebung, erste Ethikrichtlinien sowie neuere grundständige und weiterbildende akademische Beratungsstudiengänge. Angesichts der Beratungskonzepte und Praxisfelder bleibt heute jedoch noch unklar, welche Richtung die Professionalisierung einschlagen wird und einschlagen sollte. Die Entwicklung der Psychotherapie in Deutschland, die mit dem Psychotherapeutengesetz einen exklusiv ausgrenzenden und an einem engen medizinischen Berufsverständnis orientierten Weg eingeschlagen hat, scheint kein geeignetes Vorbild zu sein. Eine berufsoffene und interdisziplinäre Professionalisierung, orientiert an gesundheits-, sozial- und bildungspolitischen statt an berufspolitischen Zielen (wie dem eigenen„beruflichen Überleben“ in der Konkurrenz der Angebote, …) dagegen würde der Vielfalt der Beratungsbedürfnisse und Bedarfslagen des 21. Jahrhunderts eher entsprechen. Beratung muss heute und zukünftig eine professionelle Aufgabe und berufliche Tätigkeit vieler Berufsgruppen im Sozialbereich, Bildungswesen und Gesundheitssektor sein. Interdisziplinäre Kooperation in multidisziplinären Hilfeeinrichtungen und Hilfenetzwerken muss disziplinäre Borniertheit und berufsständisches Eigeninteresse konterkarieren, um Beratung in der Zukunft zu einem effektiven und nachhaltigen Unterstützungsangebot für alle Menschen, die sie brauchen, zu machen. Die spezifischen disziplinären Zugänge – psychologische, pädagogische, soziologische, philosophische etc. – sind zum Zusammenwirken in Eigenständigkeit aufgerufen“ (In: Handbuch der Beratung, Bd. 2. Ansätze, Methoden und Felder, DGVT-Verlag, Tübingen 2004, S. 603f.)

24. Juni 2009
von Tom Levold
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systeme 1/09

Etwas verspätet wird an dieser Stelle die neue Ausgabe der„systeme“ vorgestellt, sie ist immerhin schon einige Wochen auf dem Markt. Aus dem Editorial:„Gleich zu Beginn finden Sie die im letzten Heft versprochene Fortsetzung zum Thema Burnout; in Teil 2 führen Stefan Geyerhofer und Carmen Unterholzer in kurzweiliger und anregender Weise durch hilfreiche Strategien und Interventionen im Umgang mit dem Burnout-Syndrom. Danach lädt Dominik Rosenauer, ausgehend von der österreichischen Gesetzeslage, in seinem Artikel über Online Beratung engagiert wie provokant dazu ein, sich mit den Rahmenbedingungen und Besonderheiten eines möglichen Arbeitsfeldes für PsychotherapeutInnen auseinanderzusetzen. In unserem dritten Beitrag zeigt Dietmar Rüther anschaulich, wie aus Physiotherapie im Sinn einer funktionalen Körpertherapie ganzheitlich körperorientierte Beziehungsarbeit mit systemischer Ausrichtung werden kann“. Darüber hinaus wird auf Günter Schiepeks neues Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung in Salzburg eingegangen, ein Rezensionsessay von Wolfgang Loth zur Bedeutung der Philosophie Karl Jaspers für eine Sinn-orientierte Beratung sowie zwei Nachrufe auf Georgina Steininger und Rolf Thissen beschließen das Heft.
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23. Juni 2009
von Tom Levold
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Zitat des Tages: Michael Schetsche

„Es spricht (…) auf Seiten der Opposition alles dafür, jede von sozialen Akteuren aufgegriffene Problemlage zum Gegenstand ihrer Politik zu machen – und von der Regierung deren Bekämpfung zu verlangen. Problempolitik stellt eine zentrale Strategie oppositionellen Handelns dar. Weil die Chance der Übernahme ihres Problemmusters dort größer ist, werden Akteure also zunächst versuchen, eine Problemwahrnehmung über eine der im Parlament vertretenen Oppositionsparteien in der politischen Arena thematisieren zu lassen. Diese Strategie dient jedoch stets nur dazu, den politischen Druck auf die Regierung zu erhöhen, die allein dafür sorgen kann, daß staatliche Ressourcen zur Problembekämpfung eingesetzt werden. Trotzdem kann man nicht von einer Funktionalisierung der Opposition sprechen, weil diese selbst ein Interesse daran hat, die Regierung in Zugzwang zu bringen und sie ggf. der Ignoranz oder des Versagens bei der Problemlösung zu bezichtigen. Aufgrund ihrer wechselseitigen Interessen sind Problemakteure und Oppositionsparteien stets ’natürliche‘ Verbündete“ (In: Die Karriere sozialer Probleme. Soziologische Einführung. Oldenbourg, München 1996, S. 135)

22. Juni 2009
von Tom Levold
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Zitat des Tages: Luise Reddemann

„Evidenzbasierte Medizin erkennt das Recht auf Individualität und Verschiedenheit nicht ausreichend an. Sie erweckt den Anschein, als bedeute eine Diagnose bereits ein Wissen um den einzig richtigen Umgang mit dem, was da diagnostiziert wurde. Damit wird dem Einzelnen seine Würde als einmaliges Wesen genommen. In Anlehnung an eine buddhistische Erkenntnis, wonach Konzepte Finger sind, die auf den Mond weisen, aber eben nicht der Mond selbst, scheinen mir Diagnosen ebenfalls Finger, die auf etwas hinweisen, aber sicher nicht auf den ganzen Menschen als unverwechselbares Individuum. Wie ist es möglich, dass wir Menschen behandeln sollen, als wären sie alle gleich? Warum lässt es unser Respekt vor der Würde des Einzelnen kaum mehr zu, dass wir Therapieempfehlungen als Hilfswerkzeuge bezeichnen, die eine Richtung vorgeben können, aber nicht den Weg. Moderne Navigationsgeräte passen sich an, wenn man einen anderen Weg nehmen will. Moderne Therapieempfehlungen lassen das kaum mehr zu“ (In: Würde – Annäherung an einen vergessenen Wert in der Psychotherapie. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, S.113f.)

22. Juni 2009
von Tom Levold
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Wie evident ist die Evidenzbasierung?

Zu dieser Frage hielt Jürgen Kriz am 13.2.07 bei der Westfälischen Akademie für Suchtfragen einen Vortrag, der auch im Netz zu finden ist (Danke an Iris Fischer für den Tipp). Zur Nützlichkeit von Forschungswissen für die therapeutische Praxis bemerkt Kriz:„Dazu zählt insbesondere die Frage, wie weit das Spektrum realer Behandlungen tatsächlich und hinreichend biasfrei im Spektrum dieser Forschung widergespiegelt wird. Und hier gibt es aufgrund von Interessenkonflikten erhebliche Zweifel. Denn Forschung richtet sich nicht nur wertfrei an inhaltlich relevanten Fragen der Kliniker bzw. an zu klärenden Fragen für die Patienten aus, sondern (…) Für Forschung von Psycho- und Sozialtherapie, Reha-Maßnahmen etc., die primär über universitäre/ öffentliche Mittel (incl. DFG, Stiftungen etc.) finanziert werden, gilt: • Es werden bevorzugt Fragestellungen erforscht, die im Rahmen von Diplom-, Doktor- und Habilitationsarbeiten angegangen werden und vergleichsweise schnell und einfach publiziert werden können, d.h. die in die universitären Karrierestrukturen passen. • Beispielsweise lässt sich eine spezielle Vorgehensweise (die dann dem Spektrum „VT“ zugerechnet werden kann) an einer speziellen Patientengruppe sehr gut im Rahmen einer Dissertation experimentell untersuchen. Die Wirkung einer langfristigen, kaum manualisierbaren Vorgehensweise – wie etwa der Langzeit-Psychoanalyse – lässt sich in diesem Rahmen praktisch so nicht untersuchen“ Wer zu diesen und anderen Fragen Genaueres lesen möchte, kommt hier
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21. Juni 2009
von Tom Levold
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Zitat des Tages: Ludger Heidbrink

„Das Bewusstsein der Verantwortung für die zunehmend komplexeren Prozessabläufe der modernen Welt gehorcht (…) vielfach einer besonderen Form der Verpflichtung. Es handelt sich um eine Verpflichtung zum Eingreifen, Gegensteuern und zur Schadensbegrenzung, die in einer weiten und unbestimmten Verbindlichkeit gründet. Was wir im Einzelnen zu tun haben, um soziale Notlagen zu mindern, ist nicht genau vorgeschrieben; wie wir organisatorische Prozesse verbessern können, damit klarere Zuschreibungen von Fehlern möglich werden, lässt sich nicht exakt regeln; mit welchen Mitteln und auf welcher Grundlage an Informationen und Kenntnissen sich Maßnahmen ergreifen lassen, um nachteiligen Klimaveränderungen vorzubeugen, können wir nicht präzise feststellen. Es gibt so gesehen reale Handlungsnöte, aber keine direkt korrespondierenden Handlungsgebote; es gibt einen dringlichen Bedarf an vorbeugenden Regulierungen, aber keine eindeutigen Erfüllungsregeln; es gibt empirisch beobachtbare Schadensverläufe, aber keine ursächlich Schuldigen. Die Übernahme von Verantwortlichkeiten für Vorsorge- und Folgeprobleme, die im Kontext moderner Gesellschaften entstehen, trägt somit nicht den Charakter unbedingter Pflichten, sondern bedingter Verpflichtungen. Bedingt sind diese Verantwortungspflichten, weil sie in einen epistemologisch und normativ offenen Raum eingelassen sind. Ihre weite Verbindlichkeit resultiert daraus, dass verschiedene Wege zur Verfügung stehen, um bestehenden Forderungen nachzukommen, aber keine eindeutigen Vorschriften existieren, wie dies geschehen soll. In komplexen Handlungssituationen, aber auch in Fällen unverschuldeter Notlagen wie Krankheit, Unglück und Unfällen, die uns gewissermaßen von außen zustoßen, sind die zu erfüllenden Verpflichtungen nicht aus einem vorgegebenen Regelwerk ableitbar, das in einer objektiven Ordnung der Dinge verankert ist. Wir müssen vielmehr von Fall zu Fall feststellen, welche Regeln gelten, wie die situativen Umstände beschaffen sind, in welchen sozialen und kulturellen Kontext die Handlungen eingebettet sind. wie weit die jeweiligen Verbindlichkeiten reichen und von welcher obligatorischen Art sie sind. Das bedeutet: Verantwortungspflichten grenzen einen Spielraum der Obligationen ein, der selbst unbegrenzt ist“ In: Handeln in der Ungewissheit. Paradoxien der Verantwortung. Berlin, Kadmos 2007, S. 181f.)