Unterschiede, die keinen Unterschied machen
„Wir sind alle anders. Wir sind alle gleich“ war das Motto des Berliner Christopher-Street-Days 2015. Also was jetzt wirklich: alle anders oder alle gleich? Oder doch beides?
SystemikerInnen zitieren überaus gern immer mal wieder den (Halb-)Satz, „Unterschiede, die einen Unterschied machen“. Dabei können Unterschiede überhaupt keine Unterschiede machen, das müssen dann schon wir Menschen übernehmen. Denn Unterschiede sind (darüber besteht sicherlich – trotz unterschiedlicher Ansichten – eine gewisse Einigkeit) keine Subjekte, also keine handelnde Akteure – folglich können sie auch nichts „machen“.
Unterschiede sind wie Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten – sie existieren nicht “wirklich“, und für sich allein genommen gibt es sie nicht. Sie brauchen echte Menschen, um überhaupt erstmal festgestellt zu werden. Es ist wie mit dem Baum im Wald, den niemand fallen hört – und bei dem wir zwar glauben, dass er ein Geräusch dabei macht, uns aber nicht sicher sein können: denn ist ein Geräusch wirklich existent, wenn es nicht von jemandem gehört, beobachtet, wahrgenommen wird? Und gibt es Unterschiede (oder Gemeinsamkeiten), wenn niemand sie sieht und bemerkt?
Nehmen Sie zwei beliebige Menschen, stellen Sie sie nebeneinander – und überlegen Sie, ob sie „gleich“ oder „anders“ sind: Sie werden genau das finden, wonach Sie suchen. Sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten (oder Ähnlichkeiten) „bestehen“ nie für sich alleine: erst die Beobachtung durch jemanden lässt sie Wirklichkeit werden – und auch nur für diejenigen, die sie bemerken.
„Äpfel und Birnen kann man nicht vergleichen“ – wenn man dies feststellt, hat man sie bereits verglichen, sonst wäre diese Feststellung gar nicht möglich[1]. Und selbstverständlich kann und darf man alles und jedes miteinander vergleichen. Wer vergleicht, kann Unterschiede beobachten oder auch Gemeinsamkeiten, je nachdem, worauf sie/er achtet, welche Kriterien er dabei anlegt und welche Bedeutung er diesen gibt.
So wenig wie es „Unterschiede, die einen Unterschiede machen“ gibt – so wenig gibt es „das Muster, das verbindet“ (Gregory Bateson). Auch hier wird wieder dieser Halbsatz nur sinnvoll, wenn man großzügig vernachlässigt, dass es Subjekte (also Menschen) braucht, die diese Muster „entdecken“, feststellen, behaupten, benennen. Bevor jemand sie konstatiert, existieren sie nicht – und welche Muster entdeckt, für wesentlich befunden und für wichtig bewertet werden, hängt von denjenigen ab, die diese Muster feststellen wollen. In dem Moment, wo wir dies berücksichtigen (wollen), kommt wieder die Verantwortung ins Spiel. Diejenigen, die die Unterschiede und Muster benennen, sind auch verantwortlich für diese Benennungen – denn sie wären auch anders möglich, es wären auch andere Beschreibungen, Beobachtungen und Benennungen möglich.
Wenn die Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Muster ohne uns nicht existieren können, dann sind wir für sie verantwortlich: wir könnten ja auch anders hingucken und dadurch etwas anderes sehen. Damit liegt die Verantwortung bei uns. Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld haben dies prägnant auf den Punkt gebracht: „Objektivität ist die Selbsttäuschung eines Subjekts, dass es Beobachten ohne ein Subjekt geben könnte. Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung – daher auch ihre Beliebtheit.“
All dies bedeutet für mich immer wieder: ich bin ich selbst verantwortlich für das, was ich sehe – selbst dann, wenn ich mir dessen nicht bewusst bin. Andererseits ist diese Ansicht keineswegs zwingend: Andere können das genauso gut ja auch ganz anders sehen.
[1] Vergleiche [!] auch den Artikel „Forscher haben erstmals Äpfel mit Birnen verglichen“ in: Der Postillon vom 11. Mai 2017
Johannes Herwig-Lempp, Halle/Saale