29. Mai 2011
von Tom Levold
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«Ich habe schon lange gespürt, dass die Situation zwischen uns irgendwie gestört ist», sagt Antoinette, 35, im ersten Gespräch, und Beat, 34, erklärt, dass auch er in den letzten Wochen «wie gemerkt hat», dass nun eine Grundsatzdiskussion anstehe. Darum seien sie in die Paartherapie gekommen.
Die Relativierung des eigenen Standpunktes durch das Wie und das Irgendwie wurde uns damals im Gymnasium von einer wunderbaren Deutschlehrerin energisch ausgetrieben. Kleist zum Beispiel, erklärte sie, habe sich nicht irgendwie, sondern bewusst und mit klarer Begründung «mir war auf dieser Erde nicht zu helfen» umgebracht.
Inzwischen hat sich die Tendenz, den eigenen Standpunkt zu relativieren und auf gar keinen Fall eindeutig Ja oder Nein zu sagen, durch die flächendeckende Psychologisierung des Alltags besonders im Gespräch von Liebenden eingenistet. Was denn heisst hier «irgendwie gespürt», habe ich die Stimme meiner Lehrerin im Ohr, sagen Sie doch einfach, was Sie meinen.
Soll ich das Paar damit herausfordern? Oder muss ich davon ausgehen, dass die Relativierung der Befindlichkeit von Antoinette und Beat die beiden als Angehörige einer Gruppe auszeichnet, die besonders sorgfältig mit der postmodernen Subjektivität von Denken und Fühlen umgeht? Kann es sein, dass das Paar in einem Umfeld lebt, in dem die vorsichtige Darstellung persönlicher Gefühle Handfesteres wie ein klares Ja oder ein Nein oder gar direktes Wünschen und selbstsicheres Fordern abgelöst hat? Haben die beiden vielleicht zu oft erlebt, wie beengend eindeutige Normen sein können und wie wenig sie zu einer Liebe passen, die täglich neu zu erfinden ist?
Dennoch frage ich schon im ersten Gespräch, was das Irgendwie für Antoinette und Beat heisst, denn ich will verstehen, was für konkrete Anliegen sich im Nebel ihrer Uneindeutigkeit verbergen.
Paartherapie ist niemals nur angewandte Psychologie, sondern immer auch angewandte Soziologie. Das macht mich sensibel für den Einfluss des Zeitgeistes und grosszügig gegenüber seinen sprachlichen Symbolen. Moderne Menschen hören den Jargon der Relativität schliesslich überall, selbst in der S-Bahn, wo doch lautstark in wie und irgendwie kommuniziert wird, besonders, wenn unangenehme Mitteilungen zu polstern sind: Eigentlich bin ich wie irgendwie sauer auf dich
Die Kunst, weder Ja noch Nein zu sagen und dafür sich selber und das Leben in jedem Augenblick neu zu erfinden, ist wunderbar. Bloss eignet sie sich besser für virtuelle als für reale Welten.
Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin an diesen Sonntagen die Texte auch online lesen.