Zuversicht??? Zuversicht!!!
Die diesjährige Einladung zum „Adventskalender“ von Tom Levold konfrontierte mich sehr deutlich mit der Veränderung meines Lebensgefühls nach dem 24.2.22. Da brach, wie sicher für viele andere auch, eine zuversichtliche Überzeugung, die mich mehr oder weniger mein Leben lang begleitet hatte, in sich zusammen. Ich war mir sicher, dass es in der Welt nach dem zweiten Weltkrieg, nach der Gründung stabiler Institutionen wie etwa der UNO, nach den engen internationalen wirtschaftlichen Verflechtungen keine Kriege mehr geben könnte, die den Charakter von Weltkriegen annehmen könnten. Die lokalen Kämpfe und Kriege waren bedrohlich genug, das Problem der Versorgung einer immer noch wachsenden Weltbevölkerung, der Klimawandel natürlich und die mit Kriegen, Klima und Hunger einhergehenden Flüchtlingsströme – all das sind drängende Themen. Doch dass eine Großmacht, die sich vertraglich verpflichtet hatte, die Grenzen des Nachbarlandes zu respektieren, dieses mit voller Brutalität überfällt, das erlebe ich auf einer anderen Ebene. Ich bin tiefgreifend verunsichert und zugleich mit der eigenen Ohnmacht angesichts der Dimensionen des Geschehens konfrontiert: woran kann man sich noch halten, wenn geschlossene, gültige Verträge mit einem Handstreich gebrochen werden?
Gerade in der vergangenen Woche hatte ich mit Freunden über Bücher gesprochen, die wir in diesem Jahr gelesen hatten. Mir wurde klar: ich hatte mich fast ausschließlich mit Sachbüchern beschäftigt, und sie hatten direkt oder indirekt mit dem Ukrainekrieg zu tun. Mir wurde da noch einmal vor Augen geführt, wie tief meine Beunruhigung ist und wie intensiv ich danach suche, diese makrosystemischen Vorgänge zu verstehen! Kurz und knapp: ich war überzeugt, dass ich auf Toms Einladung diesmal nicht reagieren würde können. Immer wieder und immer öfter kommt mir der Satz von Gregory Bateson in den Sinn: „Es ist zweifelhaft, ob eine Gattung, die sowohl eine fortgeschrittene Technologie als auch diese eigenartige Weltanschauung hat, überleben kann“ (Ökologie des Geistes, 1981, S. 435) – können wir überleben? Zuversicht ist einfach nicht das Wort, das meine derzeitige Stimmung beschreibt.
Und dann sah ich gestern ein Video. Es war die Aufzeichnung einer Online-Konferenz, zu der mein österreichischer Kollege Martin Fellacher und sein Institut „B4HP – Bridges for Hope and Peace“ vor ein paar Tagen geladen hatten. Ausgangspunkt waren die Ideen von Haim Omer, wie die Überlegungen und Methoden des Gewaltlosen Widerstands in verschiedenen Feldern der Beratungsarbeit umsetzbar sein könnten. Ausgehend vom „Elterncoaching“ hat sich das Konzept in ganz verschiedene Bereiche hinein entwickelt (z.B. Führung, Schule, Gemeinde) und es ist mittlerweile in vielen europäischen und außereuropäischen Ländern bekannt geworden. Ziel der Konferenz war es, einen Überblick darüber zu geben, wie sich das internationale Netzwerk mittlerweile weiterentwickelt hat, ein besonderer Schwerpunkt sollte auf dem Gazastreifen liegen, wo die österreichischen Kollegen, vor allem Michaela Fried, besonders aktiv sind.
Nach einem Vortrag von Haim Omer über die kulturübergreifenden Erfahrungen mit dieser inzwischen gut etablierten Beratungsform, stellten verschiedene Kolleginnen und Kollegen ihre jeweiligen Arbeitsfelder im internationalen Kontext vor. In diesem Zusammenhang hörte ich Statements, die mich zutiefst berührten und mir ein Stück verlorener Hoffnung zurückgaben. Zur Konferenz waren Personen, die im Gazastreifen leben und dort als MultiplikatorInnen ausgebildet wurden, eingeladen, ihre Erfahrungen zu schildern (online). Es waren nicht nur Aussagen wie „the most successful experience in my life“ die mich bewegten. Mehr noch war es die Art und Weise wie die palästinensischen (vorwiegend) Frauen sprachen. Die Klarheit und Entschiedenheit, mit der sie ihre Berichte vortrugen und besonders ihre leuchtenden Augen haben mich angesprochen. Ich verstand, dass hier nicht einfach eine Methode gelehrt wurde, sondern dass sich zugleich die besondere Kraft vermittelt, die mit der Idee der Gewaltlosigkeit einhergeht: das Bewusstsein der Legitimität des eigenen Handelns und das Bewusstsein, nicht allein zu sein, die Erfahrung von Solidarität. Diese jungen Frauen zogen ihre Stärke daraus, dass sie Unterstützung erfahren und den Familien und Schulklassen, mit denen sie arbeiten, Unterstützung geben können. Mein Eindruck: hier sind Menschen unterwegs, die ein unerschütterliches Bewusstsein der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit haben – auch und gerade an Orten, auf die ich oft mit besonderer Bedrücktheit geschaut hatte – die Hotspots dieser Welt, Gaza, Lesbos (auch darüber wurde berichtet), die Liste ist endlos.
In diesem Jahr ist genau 50 Jahre nach dem ersten Bericht „Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome das Buch „Earth for all“ herausgekommen (auch auf Deutsch), der neue Bericht des Club of Rome. Die Quintessenz ist, dass es nach wie vor möglich ist, diese Welt zu einer „Welt für alle“ zu machen. Es braucht dafür fünf Kehrtwenden:
1. Beendigung der Armut
2. Beseitigung der eklatanten Ungleichheit
3. Ermächtigung der Frauen
4. Aufbau eines für Menschen und Ökosysteme gesunden Nahrungsmittelsystems
5. Übergang zum Einsatz sauberer Energie.
Das Feuer, das ich vor allem in den Augen der Palästinenserinnen gesehen habe, die Berichte der Kolleginnen und Kollegen über die vielen kleinen und großen Projekte, eben auch an den Hotspots der Welt, haben mich wieder zuversichtlicher gemacht. Und so habe ich meinen kleinen Text für den Adventskalender doch noch geschrieben.