systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

23. Dezember 2012
von Tom Levold
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Diskriminierung und Rassissmus

Heute schreibt Gerti Saxer, Einzel-, Paar- und Familientherapeutin mit einem Schwerpunkt auf der Beratung binationaler Paare in Rorschach in der Schweiz für den systemagazin-Adventskalender:

Als ich vor drei Wochen mit Berufskollegen in einem Restaurant sass, betraten zwei Frauen das Lokal, wobei die eine, mit indischer Herkunft, mich freundlich anschaute und während dem Essen immer wieder nach mir hinüberblickte. Mir kam sie auch bekannt vor, da ich aber mit vielen ausländischen Menschen zu tun habe, konnte ich sie nirgendwo einordnen. Als ich das Restaurant verlassen wollte, stand sie auf und sprach mich an: Grüezi Frau Saxer, wie geht es ihnen? Erst als ich nach ihren Familiennamen fragte, habe ich sie wiedererkannt. Vor gut 10 Jahre waren sie und ihr Mann bei mir in Beratung. Der Grund, er legte ihr kurz von der Hochzeit einen Ehevertrag vor, der sie sehr verletzte und sie sich deshalb weigerte, diesen zu unterschreiben. Er, Ingenieur und Lehrer an einer Berufsschule, lernte die wunderschöne Frau während seinen Ferien in einer diesen herrlichen Inseln im indischen Ozean kennen. Sie arbeitete dort im Hotel an der Rezeption, konnte deshalb bereits einige Fremdsprachen sprechen. Nach einer kurzen Zeit, während sie die Beziehung via Telefongespräche weiterführten, lud der Mann sie in die Schweiz zu einem Besuch ein. Sie entschieden sich zu heiraten, was zur Folge hatte, dass sie nicht mehr zurückreisen würde. Das war die Ausgangssituation. Ich bin selber Migrantin und war geübt in der Beratung mit Menschen aus Südamerika, dessen Kultur ich gut kannte. Hier war ich herausgefordert und meine interkulturellen Kompetenzen in der Beratung auf der Probe gestellt.
So konnten zwei wichtige Themen gut bearbeitet werden und ich dazu etwas ganz wichtiges gelernt. Als ich nachfragte, wer für und wer gegen diese Heirat war, kam da einiges zum Vorschein. Die Eltern des Bräutigams, sehr konservative Menschen aus der Innenschweiz, glaubten nicht, dass so eine Verbindung gelingen könnte. Der Vater der Braut, der muslimischen Religion zugehörend, fühlte sich in seiner Ehre verletzt, dass ein Fremder seine Tochter „geraubt“ hatte. Dann haben wir darüber gesprochen, wie er wieder zu seiner Ehre und Würde zurückfinden könnte, damit die Tochter nicht von der Familie ausgeschlossen würde. So haben wir einen Text eingeübt, wobei der Mann den Vater am Telefon um die Hand der Tochter beten sollte, was ihm zuerst sehr widerstrebte. Es tat es mit gutem Erfolg und wurde so von der Familie aufgenommen.
Dann gingen wir die Gründe nach, weshalb es der Frau so Mühe machte, den Vertrag zu unterschreiben, der sie von jeglichen finanziellen Vorteilen ausschloss. Das Paar konnte sich dann darauf einigen, dass der Mann ihr eine in ihrer Kultur üblichen „Brautgabe“ in Form eines Geldbetrages, entsprechend einer Ferienreise in der Heimat, auf ihr eigenes Konto überweisen würde. Das wäre für sie eine Garantie, dass wenn es mit der Beziehung nicht klappen würde oder sie starkes Heimweh bekäme, nach Hause reisen könnte.
Dann fragte ich der Frau, ob sie hier Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus gemacht hätte, was sie verneinte. Wunderte mir auch nicht, denn nebst ihre Schönheit besass sie ein bezauberndes Lächeln und ausgezeichnete soziale Kompetenzen. Intuitiv frage ich den Mann, ob er irgendwelche Erfahrung der gleichen Art gemacht hätte. Er bekam gleich Tränen in den Augen und berichtete, ein Kollege, der die Frau gar nicht kannte, habe ihm im Lehrerzimmer vor alle anderen gefragt, aus welchem „Katalog“ er seine Braut gekauft hätte. Seither gebe ich sehr darauf Acht, auch der einheimischer Partner oder Partnerin über Erfahrungen mit Diskriminierung anzusprechen.
Beim Abschied im Restaurant fragte ich der Frau, wie es ihnen gehe und ob sie Kinder hätten. Sie erzählte, sie hätte gleich im ersten Jahr hier eine Arbeit auf einer Bank bekommen und war immer noch dort. Die Ehe habe nur vier Jahre gedauert, sie seien geschieden, sie habe nicht wieder geheiratet. Von ihren Wurzeln hatte sie sich freiwillig getrennt, ihre Flügel wollte sie sich jedoch nicht stutzen lassen.

22. Dezember 2012
von Tom Levold
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Antidoron – die Geschichte vom gesegneten Brot

Weihnachten rückt näher. Zwei Tage vor dem Fest lässt uns Cornelia Tsirigotis, Schulleiterin einer Förderschule für Gehörlose in Frankfurt am Main und Herausgeberin der Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung hinter ihr Adventskalendertürchen schauen:

Meinen kulturellen Rucksack habe ich in unterschiedlichen Lebensphasen gefüllt und umsortiert: Bruder mit Austauschschüler aus Griechenland, Kindheit mit ersten Gastarbeiterfamilien, deren Babys ich spazieren fahren durfte, ein Jahr in Griechenland nach dem Studium in einer Hütte ohne Strom und Wasser, mit Olivenernte, Arbeit in der Kneipe, mit Lektüre griechischer Zeitungen und Gedichte… und dann mit meinem Mann in nunmehr über 30jähriger bikultureller Lebenspartnerschaft mit vielfältigen Erfahrungen mit dem deutschen Umfeld wie mit der Familie in Griechenland. All das hat meine Perspektive und meine Haltung zum Thema Kultur immer wieder verändert, manchmal mit Tränen, immer bereichernd.
In den unterschiedlichen Arbeitskontexten hatte ich es immer wieder mit KlientInnen, SchülerInnen, kundigen Menschen mit Migrationshintergrund zu tun und mit ganz unterschiedlichen Zugängen und Modellen der Gestaltung ihres eigenen kulturellen Wandels. Oft hat mir in Elterngesprächen mein griechischer Nachname als erster Türöffner geholfen: die Unterstellung, Diskriminationserfahrungen beim Leben in Deutschland zu kennen, oder Familiendruck aus der Heimat…
Die Art, wie wir Geschichten aus der Arbeit mit KlientInnen aus anderen kulturellen Kontexten erzählen, verraten etwas von unserer Beobachterperspektive und von der Einstellung unserer Brille im kulturellen Rucksack. Vielleicht führt das dazu, dass mir die diesjährige Adventskalendergeschichte nicht so leicht aus der Feder fließt wie „Kongressgeschichten“ oder „systemische Begegnungen“.
Mein derzeitiges Arbeitsfeld ist eine Schule und ein überregionales Beratungs- und Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Hören. Die Schülerinnen und Schüler, die meine Stammschule besuchen und nicht in Regelschulen „inklusiv“ beschult werden, haben zu 80 % Migrationshintergrund, durch ihre Hörschädigungen ist ihnen der Zugang zur Kommunikation doppelt erschwert, viele Familien sind von Armut betroffen. Darüber hinaus ist auch die Gehörlosen- und Gebärdenkultur ein Teil der kulturellen Herausforderungen meines Arbeitsalltages.
Eine griechische Schülerin, nennen wir sie Aliki, hat und macht vielfältige Schwierigkeiten. Wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt, flippt sie aus. In der Vergangenheit waren Aggressivität und das Erlangen von Selbstkontrolle immer wieder ein Thema. Die Kolleginnen haben sich angewöhnt, wenn sie mit ihr nicht mehr klarzukommen, sie zu mir zu schicken. Manchmal beruhigt die Muttersprache sie, manchmal, wenn sie gar nicht mehr zugänglich ist, redet sie auch mit mir „nur“ deutsch. Wenn sie dann wieder griechisch spricht, ist sie wieder „ansprechbar“, ist die Kraft der zuwendenden Beziehung wieder da.
Die wenigsten „meiner“ SchülerInnen sind katholisch, der katholische, gebärdenkompetente Gehörlosenpfarrer sehr engagiert. Er hat zurzeit eine Lerngruppe, die sich mit unterschiedlichen Religionen beschäftigt. So meldet er für die vergangen Woche eine Exkursion in die griechisch-orthodoxe Kirche an, die mich zu einem spontanen: “Ich gehe mit!“ veranlasst. Der dortige Pfarrer hat den Schülern sehr schön erklärt, was in der orthodoxen Kirche wichtig ist, die Ikonen, die Symbolik. Aliki wusste ganz viel und der Pfarrer bedankte sich immer wieder, da sie ihn an etwas erinnert hatte. Die anderen SchülerInnen waren interessiert und aufmerksam genug. Alle haben sich gut benommen. Aliki wurde als Expertin akzeptiert, das war eine ganz neue und sehr aufregende Erfahrung für sie.
Wir bekamen, weil Feiertag war, ein gesegnetes Brot, Antidoron, geschenkt. Das konnten wir dann erst am nächsten Tag anschneiden. 
Dazu hatte Aliki die Gruppe in der Pause zusammengetrommelt, ich hatte das Brot schön auf einen Teller mit Weihnachtsserviette platziert – und das Messer vergessen. Aliki stürzt hilfsbereit los, um eins zu organisieren. Wegen einiger Vorerfahrungen geben die Kollegen Aliki kein Messer, ich muss es selbst holen. Sie erklärt mir noch einmal, wie ich das Brot anschneiden soll. Ich lasse sie es selbst machen. Sie macht dreimal mit dem Messer das Kreuz darüber, wie es sich gehört vor dem Anschneiden. Sie verteilt das Brot an die Gruppe, an dazu kommende Lehrerinnen, an andere SchülerInnen, die interessiert dazu kommen. Wir heben je ein Stück für ihre Eltern, für unsere griechischen Putzfrauen und für meinen Mann auf. Aliki erlebt sich als Expertin für ihre Kultur, als selbstwirksam und von den anderen geschätzt. Ein Rahmen, in dem ein ganz anderes Verhalten möglich ist.
Mich freut einfach so eine Entwicklung. Den Umständen zum Trotz.

21. Dezember 2012
von Tom Levold
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Multifamilientherapie in einem Satz

Björn Enno Hermans, Leiter und Geschäftsführer eines Trägerverbundes der Jugend-, Familien- und Gefährdetenhilfe in Essen, Systemischer Supervisor und Therapeut in freier Praxis und stellvertretender DGSF-Vorsitzender macht heute den Adventskalender auf:

Im Jahr 2007 hatte ich die Leitung der Tagesklinik der Elisabeth-Klinik (Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie) in Dortmund übernommen und nach einigen Monaten gemeinsam dort mit dem Team ein Multifamilientherapie-Angebot eingeführt.
Begeistert und fast ein wenig „beseelt“ von diversen Workshops und Tagungen mit Eia Asen und anderen war ich überzeugt, dass genau ein solches Angebot das richtige für die jeweils 10 Familien der 7-13 jährigen Kinder der Tagesklinik sei. Also starteten wir zunächst mit monatlichen Nachmittagen in einem benachbarten Theater, wo auch schon die Gruppentherapie stattfand, da die Tagesklinik für solche Veranstaltungen deutlich zu klein geraten war.
Die ersten Termine verliefen auch toll; die Stimmung war lösungs- und ressourcenorientiert, die Bedenken der Skeptiker im Team sanken und auch bei den Familien stieg die Solidarität und damit Aktivität bei der Mitarbeit.
Aufgrund der Lage der Tagesklinik mitten in der Stadt, kamen die Familien häufig aus vielen verschiedenen Herkunftsländern und Kulturen, manchmal bis zu 7 verschiedene Herkunftsländer bei 10 Kindern und ihren Familien.
Nach den ersten Monaten dieses Angebots, gab es dann einen Multifamilientherapie-Termin, an dem nur noch zwei Familien teilnahmen, denen dieses Angebot schon vertraut war und insgesamt 8 neue Familien.
Fast alle dieser Familien waren zu diesem Zeitpunkt sehr resigniert über die Symptomatik ihrer Kinder, die häufig in der Zuschreibung „ADHS“ zusammengefasst war. Viele waren von der Schule oder anderen Instanzen geschickt und hatten aufgrund der bisherigen Erfahrungen und des bisherigen Verlaufs wenig Hoffnung auf Veränderung.
Das machten sie auch gleich in der Anfangsrunde der Multifamiliengruppe deutlich und so sollte es auch in den folgenden beiden Stunden bleiben.
Es schien fast so, als ob das auch so sein müsste und jedes „Mehr“ an Lösungsorientierung geradezu eine Zumutung wäre.
Einer der beiden Väter, die das Multifamilientherapie-Angebot nun schon länger kannten, erinnerte sich schnell an seinen ersten Termin in diesem Setting. Die aus der Türkei stammende Familie hatte sich mit ihrem 11-jährigen Sohn in eben einer solchen hilflosen und scheinbar ausweglosen Situation befunden und der Idee, nun mit vielen anderen Familien gemeinsam an Themen zu arbeiten, zunächst sehr wenig abgewinnen können. Mittlerweile hatte dieser türkische Vater jedoch die Erfahrung gemacht, dass sich in der Familie viele Themen hatten ansprechen und zum Teil auch klären lassen und sich die Symptomatik des Sohnes deutlich verändert und damit die gesamte Situation entspannt hatte.
Dabei hatte er besonders auch die Multifamilientherapie als hilfreich und wirksam erlebt.
So versuchte er in der besagten Sitzung nahezu alles, ja es glich einem „Werbefeldzug“ die anderen neuen Familien vom Sinn und den Möglichkeiten der Multifamilientherapie zu überzeugen. Dabei machte er viele Angebote, berichtete detailliert von den eigenen Erfahrungen usw.
Zunächst leider ohne Erfolg, denn die versammelte Familienschar verharrte in ihrer Überzeugung, dass es für sie sicher kein hilfreiches Setting sei.
Etwas enttäuscht ging dann also jener Vater nach Ende des Treffens neben mir zurück in Richtung Tagesklinik, wo anschließend immer ein Familien-Kaffeetrinken angeboten wurde. Nach einigem Schweigen, wandte er sich dann zu mir und sagte einen Satz auf türkisch, den ich nicht verstand, um ihn dann aber gleich zu übersetzen:
„Ach, Herr Hermans, man müsste für die Anderen die Hoffnung erfinden“.
Über diesen wunderbaren Satz sind wir dann nicht nur lange ins Gespräch gekommen und haben fast die gesamte nächste Multifamilientherapie zu diesem Thema gearbeitet; ich nutze ihn und diese schöne kleine Geschichte bis heute gerne als Titel und Auftakt für Vorträge und Workshops über Multifamilienarbeit. Besser und authentischer kann ich das Wirkprinzip nicht beschreiben.

20. Dezember 2012
von Tom Levold
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Das Training ist vorbei…!

Inge Liebel-Fryszer, Wolfgang Nöcker und Petra Girolstein (Foto: http://www.praxis-am-platz.de) waren im April dieses Jahres in China, um dort zusammen mit einem Team chinesischer Trainerinnen und Trainer eine Weiterbildung für 75 chinesische PsychiaterInnen und Psychotherapeuten zu leiten. Es handelte sich um das zweite von vier Seminaren innerhalb des„Fifth Chinese-German Advanced Training Program For Systemic Family Therapy“, ein Kooperationsprojekt der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie, dem Institute Of Mental Health Bejing University und dem Center Of Clinical Psychology Bejing University. Petra Girolstein macht heute das 20. Adventskalendertürchen mit einem Bericht vom letzten Seminartag auf:

Heute war der letzte Seminartag. Noch purzeln alle Eindrücke durcheinander. Am Anfang unsere Aufregung, die fremde Sprache, die große Gruppe, lectures auf Englisch! An jedem Tag gab es so viel Neues dass wir abends erfüllt und platt waren und uns erstaunt fragten ob wir wirklich erst ein, zwei oder drei Tage da wären. Die ersten lectures, der erste Abendvortrag, die erste Supervision, das erste Team mit den chinesischen Trainern, die erste Live-Familie! Wir drei, Wolfgang, Inge und ich, die erst eher zusammengewürfelt als abgestimmt schienen. In Deutschland hatten wir uns zweimal zur Vorbereitung getroffen, und in Bejing ging die Zusammenarbeit von null auf hundert los.
Es ist uns gut gelungen! JedeR von uns konnte seinen oder ihren Stil leben und auf den Support der anderen bauen. Kooperationsmomente klappten nahezu mühelos und wir hatten viel Spaß!
In der Mitte des Seminars erlebten wir eine Wende: Die Aufregung ließ nach, die Energie langsam auch. Es gab mehr Genuss auch während der Arbeit – und abends fielen wir halbtot ins Bett.
Die chinesischen Teilnehmer machten es uns leicht. Kaum hatten wir Bilder oder Metaphern angesprochen, wetteiferten sie darum sie zu kreieren. Rollenspiele oder Aufstellungsarbeit waren kein Problem sondern immer eine energetische Freude. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Weiterbildung wurde bei einer Live-Familie mit Skulpturen gearbeitet. Dass es das erste Mal war erfuhren Wolfgang und ich zum Glück erst danach.
Chinesen scheinen ihre Energie wie auf Knopfdruck nutzen zu können. Sie haben unglaubliche Talente beim Singen, Spielen und Erzählen – Letzteres brachte uns so manches Mal in die Bredouille, wenn wir den chinesischen Wortschwall stoppen wollten, nicht verstanden und deshalb keine Lücke fanden. Genauso schnell wie sie den Raum füllen verlassen sie ihn auch wieder, wie ein Spuk oder eine Erscheinung nach der man sich fragt ob man sie erlebt hat oder nicht.
Wir lernten unglaublich viel von chinesischer (Familien-) Geschichte der letzten Jahrzehnte und staunten über manch unerwartete Unterschiede. In diesem Land scheint so viel im Umbruch und in tiefgreifenden Veränderungsprozessen zu sein, dass die Verführung groß ist mitmischen zu wollen. Es gäbe so viel zu tun für Therapeuten, Sozialarbeiter und Beraterinnen! Doch wäre es wirklich mehr als bei uns oder nur anders?
Nun ist es Abend, fast Nacht. Wir waren in der Peking-Oper, ein irres Erlebnis an fremden Klängen und wunderschönen Stimmen. Die Klänge manchmal schrill für unsere Ohren, es fehlt die europäische Lieblichkeit. Hier gehen auch kleine Kinder und Jugendliche in die Oper, meist mit ihren Großeltern während die Eltern hinterherlaufen oder gar nicht da sind.
Das Gebäude ist imposant und ein architektonisches Wunderwerk. Von außen sehen wir eine riesige gläserne Kuppel. Innen schwappt ein See über die Glasdecke und und Rolltreppen führen in Stockwerke die mit einer Vielzahl an Materialien und immer neuen Formen und Winkeln gebaut wurden.
Nach der Vorstellung versuchten wir vergeblich ein Taxi anzuhalten. Schließlich fuhren wir zu dritt mit einer Rikscha durch die Nacht bis der Radfahrer an einer Kreuzung ein Taxi für uns ergatterte. Der Taxifahrer brauchte eine Weile um zu entscheiden ob er uns fahren könne – Beijing ist anscheinend zu groß um alle Stadtteile kennen zu können. Schließlich brachte er uns unter unserem Applaus ins Hotel. Die erste Nacht nach dem Seminar wartet.
Gute Nacht.

19. Dezember 2012
von Tom Levold
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Sich zeigen ist Gold, reden ist Silber…

Wie gestern ist auch das heutige Adventskalendertürchen eine Gemeinschaftsproduktion von Liane Stephan und Mohammed El Hachimi aus Bergisch Gladbach:

Ein Paar kommt zu uns in die Praxis.
Sie ist Deutsche, er Schwarzafrikaner. Sie haben miteinander zwei Kinder im Alter von drei und sieben Jahren. Sie kommen wegen vieler Streitigkeiten in der Erziehung ihrer Kinder.
Die Frau klagt: Mein Mann kennt Erziehung nicht. Er weiß nicht, wie man Grenzen setzen muss und was es heißt, Verantwortung zu übernehmen.
Der Mann erwidert: Ich verstehe nicht, was meine Frau meint. Ich erziehe die Kinder, ich achte auf sie. Auf die Frage, was denn beide unter Erziehung verstünden, antwortet die Frau, es ginge darum, den Kindern klare Wege aufzuzeigen und entsprechend Grenzen zu setzen und Herausforderungen zu stellen.
Der Mann betont dagegen, ihm sei wichtig, die Kinder unter sich spielen und einfach mitlaufen zu lassen, sie dürfen überall dabei sein, sie sind einfach da. Sie bräuchten keine spezielle Aufmerksamkeit.
Im weiteren Gespräch bitten wir die beiden, mit Hilfe der in der Praxis vorhandenen Gegenstände ein typisches Bild ihrer eigenen Kindheit aufzubauen.
Die Frau holt sich einen Stuhl und einen kleinen Tisch, sucht sich zwei Puppen aus und spielt auf dem Tisch ein Rollenspiel: Vater, Mutter, Kind. Sie sitzt dabei sehr aufrecht und akkurat.
Der Mann nimmt sich ein Seil und formt einen größeren Kreis daraus. Er legt sich auf den Boden, die Beine überkreuzt, die Hände hinter dem Kopf und schaut in die „Sterne“, den „Himmel“, hört,  wie die anderen Kinder mit einer Blechdose Fußball spielen, schreiende Babys …alles wirbelt Staub auf.
Nachdem sie erzählen konnten, welche Ressourcen in diesen beiden Bildern stecken und wie gerade diese Unterschiede die Kinder auch bereichern könnten, gibt es eine erste Annäherung an das gemeinsame Dritte.

18. Dezember 2012
von Tom Levold
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Die Geschichte von einem, der nach Hause kam…

Heute öffnen Liane Stephan und Mohammed El Hachimi aus Bergisch Gladbach gemeinsam das Adventskalendertürchen:

Ein kleiner vierjähriger Junge wird im Kindergarten wegen seiner Hautfarbe gehänselt. Die deutschstämmigen Eltern haben vor drei Jahren das Kind aus West-Afrika legal adoptiert. Er reagiert laut der Erzählung der Erzieher sehr aggressiv auf die Hänseleien. Er spucke und schlage um sich etc., wodurch andere Kinder gefährdet seien.
Den Eltern wird seitens des Kindergartens nahegelegt, für das Kind in einer Therapie oder einer anderen pädagogischen Einrichtung Unterstützung zu suchen. Die Adoptiveltern sind ratlos und glauben inzwischen nicht an eine Besserung. Sie haben schon alles mögliche versucht, mit der Kitaberaterin, mit den Eltern der anderen Kinder und mit den Erziehern ausführliche Gespräche geführt. Ein Kita-Wechsel komme für sie aus beruflichen Gründen nicht in Frage. Aber auch die Kita weiß sich nicht mehr zu helfen.
In der Therapie erklärt der Junge sein Verhalten mit den Worten:„sie ärgern mich und sagen ,Neger, Neger‘ zu mir und dann muss ich mich wehren“. Wir schlagen den Eltern ein Experiment vor: „Machen sie mit dem Kind in Westafrika eine Woche Urlaub und zeigen dem kleinen Jungen seine eigentliche Herkunft, jedoch sollten Sie auf keinen Fall die (allen dreien unbekannten) leiblichen Eltern suchen und treffen. Die Eltern sind einverstanden und führen die Reise wie vorgeschlagen durch.
Nach der Rückreise berichten sie Folgendes: Es sei fast ein Wunder geschehen… Dem Jungen ginge es gut in der Kita, er würde jetzt auch nicht mehr aggressiv reagieren.
Wenn die anderen Kinder ihn wieder mit dem Wort „Neger“ reizen wollten oder ansprächen, würde er antworten:„ja, ich war in Afrika, ich bin Afrikaner“.

17. Dezember 2012
von Tom Levold
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Küsse aus Brasilien

Roswitha Keicher ist die Integrationsbeauftragte der Stadt Heilbronn, in deren Diensten mehr als 45 kulturelle Mittler/innen übersetzen, vermitteln und über kulturelle Unterschiede in Heilbronn aufklären. Sie sind im Einsatz bei Beratungsgesprächen verschiedener Einrichtungen aus dem professionellen Feld der Sozialen Arbeit. Aus deren Alltag hier eine Begebenheit mit einer brasilianischen kulturellen Mittlerin für das heutige Adventskalendertürchen:

Wie immer saß die Kulturelle Mittlerin bereits vor dem eigentlichen Beratungsgespräch mit der Beraterin in deren Büro. Wie groß war die Verwunderung der Beraterin als die Klientin ins Büro hereintrat und die Kulturelle Mittlerin herzlich begrüßte, dabei umarmte und küsste. So eine Begrüßung würde in Deutschland nur eins  bedeuten: dass diese Menschen ganz enge Freunde sind.  Während des Gespräches übersetzte (zum großen Erstaunen der Beraterin) die Mittlerin dann neutral, kompetent und professionell. Keine Spur mehr von der vorherigen Emotionalität?! Die Beraterin war sichtlich verwirrt. Erst nach dem Gespräch fasste sie sich und fragte die Mittlerin, woher sie die Klientin so gut kenne?! Die Mittlerin war über diese Frage sichtlich überrascht und wollte wissen, wie die Beraterin darauf käme, woraufhin die Beraterin die Begrüßungssituation ansprach. Die Mittlerin lachte herzlich und erklärte, dass es in Brasilien beim Begrüßungsritual üblich ist, dass die Leute sich umarmen und fröhlich begrüßen – völlig unabhängig davon, ob man die Person persönlich kennt oder nicht. Beide waren erleichtert, dass es sich nur um ein kulturelles Missverständnis gehandelt hat, das zum Glück so schnell durch kompetente Aufklärung beseitigt werden konnte.
Informationen zu den kulturellen Mittler/innen über integration@stadt-heilbronn.de

16. Dezember 2012
von Tom Levold
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Mitmachen?

Edelgard Struß, systemische Supervisorin und Coach aus Köln, berichtet hinter dem heuten Kalendertürchen von einer Supervision in einem multikulturellen Team:

Supervision im 11köpfigen Team einer Institution, die Betreuung und Beratung für psychisch kranke Erwachsene anbietet: 9 deutsche Männer und Frauen, 2 türkische Frauen (sie sagen zu sich türkisch, obwohl sie beides sind, Deutsche wie Türkinnen). Eine deutsche Kollegin berichtet von einem Fall, einem jungen Mann, der seit zwei Jahren versucht, selbstständig in seinem Apartment zurechtzukommen. Sehr mühselig das Ganze. Die Eltern, griechische Türken, belagern ihren Sohn täglich und kümmern sich um alles. Am schlimmsten, sagt die Betreuerin, ist es, wenn ich mit den Eltern zu tun habe: sie fassen mich dauernd an, wenn wir reden, nicht zum Aushalten. Dieses  Anfassen geht eigentlich gar nicht für mich, Handgeben am Anfang und am Ende geht klar, aber dann ist Schluss.
In der Runde ist jetzt die Rede von der Übergriffigkeit der Eltern, distanzlosem Verhalten, Versuchen, die Betreuerin ins Familiensystem zu ziehen. Aber was habt ihr denn mit dem Anfassen! ruft eine türkische Kollegin. Das ist doch ganz normal! Die griechischen und türkischen Leute fassen sich dauernd an untereinander! Warum sollen sie euch nicht auch anfassen?! Ich versteh das nicht! Man blickt sich an in der Runde, einige sagen, ja, weiß ich auch nicht, dann wird das Thema fallen gelassen.
Die deutsche Kollegin erzählt weiter. Ganz eigenartig sei auch, wie es zu den Treffen in der Wohnung des jungen Mannes komme. Wenn ich mich mit ihm verabrede, sagt sie, muss ich ihn immer ein-zwei Stunden vor dem Treffen anrufen und nochmal Bescheid sagen, dass ich um soundso viel Uhr komme. Ohne diese zusätzliche Ansage, so behauptet der junge Mann, vergesse er den Termin. Tatsächlich, lacht die Betreuerin, habe ich selbst schon einmal vergessen, ihn vorher anzurufen und ihn dann nicht angetroffen.
Die Runde ist amüsiert über das Hin und Her der Vergesslichkeiten, findet aber, dass das eigentlich zu weit geht und dadurch das abhängige Verhalten des jungen Mannes gefördert werde. Irgendwie sei es aber wie ein Spiel, aus dem man nicht aussteigen kann, ohne dass etwas kaputt geht.
Ist doch ein Spiel, sage ich, machen Sie mit! Das nächste Mal rufen sie ihn vorher an und sagen: Hören Sie mal, wie ist das eigentlich, sind wir heute verabredet!?
Ja genau, sagt die türkische Kollegin, man muss mitmachen, wenigstens ein bisschen. Sonst geht es nicht.

15. Dezember 2012
von Tom Levold
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Psychotherapie kann so einfach sein. Eine interkulturelle Lernerfahrung

Heute ist Christian Zniva, Psychotherapeut in freier Praxis aus Linz in Österreich an der Reihe, ein Adventskalendertürchen zu öffnen:

Die Geschichte, die ich erzählen will,  stammt aus einem persönlichen Kontakt mit einem Priester aus Nigeria, der in Österreich seine Ausbildung zum Psychotherapeuten (Systemische Familientherapie) absolvierte. Meine Begegnung mit ihm fand in einer Veranstaltung zu dem Thema „Religion als Gegenüber, als Herausforderung und als Ressource für Psychotherapie“ statt. Beeindruckt hat mich die Einfachheit seines Vortrags. Zentraler Inhalt seiner Ausführungen war die Frage: „Wie kann man sich Psychotherapie in Nigeria vorstellen?“ Zwei Punkte, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind, möchte ich an dieser Stelle kurz wieder geben. Der erste bezieht sich auf das Thema „Setting“, der zweite auf das Thema „Methodik“. Zum Setting:  In Nigeria findet Psychotherapie immer in Anwesenheit der Familie statt.  Dem Aussprechen von Problemen in Anwesenheit der Familie und dem Bekenntnis eigener Verantwortung zur Problementstehung vor der Familie wird in Nigeria eine heilende Funktion zugeschrieben. Intimität und Verschwiegenheit werden im Gegensatz zu unserem Kulturkreis nicht als lösungsfördernde Rahmenbedingungen angesehen. Vielmehr wird die Anwesenheit von Familie und anderen relevanten Personen als Ressource genutzt, ja geradezu als Voraussetzung für das Gelingen von Psychotherapie angesehen. Zur Methodik: In Nigeria hat das Ritual eine zentrale Funktion in der Psychotherapie. Gefragt nach den psychotherapeutischen rituellen Handlungen, die in Nigeria Anwendung finden, antwortete der Priester: „In Nigeria ist das ganz einfach. Es gibt fünf Sachen, die der Seele gut tun: Reden, Weinen, Lachen, Tanzen und Singen.“ Auch wenn ich mich nicht der Illusion hingeben will, Weisheiten aus Nigeria 1:1 auf Psychotherapie in Zentraleuropa übertragen zu können, leitete ich zwei Aspekte für meine Arbeit aus dem Vortrag ab. Erstens: Ich denke auch bei erwachsenen Klienten öfter daran das Setting zu erweitern und Personen aus dem Herkunftssystem in die Therapie einzuladen. Zweitens: Auch wenn Probleme komplex erscheinen mögen, können Lösungen einfach sein.

14. Dezember 2012
von Tom Levold
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Küsse für den Therapeuten – Begrüßungsrituale

Kurt Ludewig, der das heutige Adventskalendertürchen öffnet, ist als Deutsch-Chilene ohnehin für kulturelle Unterschiede sensibilisiert, musste aber die Erfahrung machen, dass sich auch diese Unterschiede im Laufe der Zeit schneller ändern können als erwartet:

In September 1987 wurde ich eingeladen, eine einmonatige Gastdozentur am Instituto de Psicología der Universidad de La Frontera in Temuco, Chile, durchzuführen. Ich sollte die dortigen Hochschuldozenten auf den neuesten Stand in Sachen systemisches Denken und systemische Praxis bringen. Als gebürtiger Chilene hatte ich, obwohl ich schon mehr als 25 Jahre im Ausland gelebt hatte, wenig Schwierigkeiten, mich in der spanischen Sprache zu Hause zu fühlen. Allenfalls fehlten mir hier und da einige Fachbegriffe, die ich dann aber auf Englisch äußerte, sodass einer der teilnehmenden Kollegen sie ins Spanische übersetzten konnte. Der jugendliche Slang und einige Sitten hatten sich seit meiner Auswanderung zwar etwas verändert, doch gelang es mir, fast alles zu verstehen und mich angemessen zu verhalten. Erstaunt war ich allerdings zunächst, als ich von den Frauen, die ich zum ersten Mal begegnete, gleich mit einem Wangenkuss begrüßt wurde. Der gegengeschlechtliche Wangenkuss hatte sich als Begrüßungszeremoniell etabliert. Eine solche Form der Annäherung war damals in Deutschland ziemlich undenkbar und wäre als distanzlos bzw. grenzüberschreitend gewertet worden. Für mich war sie anfangs gewöhnungsbedürftig. Mit dem Wetter im südchilenischen Frühling hatte ich ebenfalls wenig Schwierigkeiten. Es war dort genau so kühl und regnerisch wie das Wetter im Hamburger Frühling, an den ich mich mittlerweile gewöhnt hatte. Die Stadtbilder der Gegend, aus der ich kam, nämlich Zentralchile, hatten sich stark verändert. Die gemächlichen Chalets und die baumschattigen Alleen, die meiner Geburtsstadt ein besonders Flair verliehen, waren größtenteils mehrstöckigen Wohnblöcken und breiten Autostraßen gewichen. Schließlich hatte sich die Bevölkerung im letzten Vierteljahrhundert mehr als verdoppelt. Chile stand zu der Zeit immer noch unter einer Militärdiktatur, und das hatte darüber hinaus Vieles im Umgang der Menschen untereinander verändert. An der Universität wurde ich früh gewarnt, sparsam mit öffentlichen politischen Äußerungen umzugehen, denn man rechnete damit, dass unter den Dozenten Spitzel waren. Bei privaten Treffen unter Menschen, die sich gegenseitig vertrauten, war es aber möglich, über alles offen zu reden. Und das tat man auch ausführlich. Man konnte dabei eine Ahnung davon bekommen, dass die Zeiten der Diktatur in nicht all zu großen Ferne zu Ende gehen würden. Das geschah auch zwei Jahre später, als der Diktator durch öffentliche freie Wahlen abgewählt wurde.
Im Rahmen meiner Gastdozentur hatte ich mir vorgenommen, einige Live-Demonstrationen von Familientherapien durchzuführen. Dafür sollte die vorhandene Einwegscheibe genutzt werden. Die teilnehmenden Dozenten würden dem Familiengespräch von draußen anschauen und später mit mir diskutieren. Meine erste Sitzung mit einer chilenischen Familie hat mich zu Anfang ziemlich verunsichert, eigentlich sollte ich sagen: ‟entwaffnet”. Es handelte sich um ein junges Ehepaar mit drei Kindern zwischen sechs und elf Jahren. Als ein in Deutschland, zumal in Norddeutschland beruflich sozialisierter Familientherapeut hatte ich mir angewöhnt, die Sitzung mit einer eher distanzierten Haltung zu beginnen. Das sollte sowohl der Familie als auch mir ermöglichen, uns langsam aneinander anzunähern, ohne uns durch zu starke Involviertheit gegenseitig zu überfordern.
So war meine Erwartung auch, als die chilenische Familie den Therapieraum betrat. Ich ging auf sie zu und bot ihnen meine Hand zur Begrüßung an. Der Familienvater nahm meine Hand und drückte sie herzlich – so weit, so gut. Dann wandte ich mich der Mutter zu und bot ihr ebenfalls die Hand an. In typisch chilenischer Manier übersah sie diese Geste, ging statt dessen auf mich zu und küsste mich auf die Wange. Ich stand da ziemlich ratlos und wusste zunächst nicht, was ich als nächstes tun sollte. Es war aber nicht nötig, dass ich etwas tat, denn die drei Kinder kamen der Reihe nach auf mich zu und drückten mich sanft nach unten, um mir mit einem ‟Hola tio” auf die Wange zu küssen. (In Chile war es damals und ist vielleicht heute noch Usus, dass Kinder für sie wichtige Erwachsene mit ‟tio” anreden, also als Onkel bezeichnen.)
Dankenswerterweise hat die Kollegin, die mit mir als Kotherapeutin die Sitzung durchführen sollte, die Situation übernommen und einige Zeit damit verbracht, der Familie die Besonderheiten des Settings zu erklären. Diese Zeit habe ich tatsächlich gebraucht, um mich von der Überraschung und Verunsicherung zu erholen, die diese vielen Küsse ausgelöst hatten. Das weitere Gespräch ging um die Probleme, die sie überwinden wollten. Das unterschied sich nicht wesentlich von dem, was ich aus Deutschland kannte. Zum Abschluss des Gesprächs wurde ich aber wieder von der Frau und den drei Kindern herzlich geküsst. Bis dahin hatte ich mich aber daran gewöhnt und war nicht mehr überrascht. Ich begann zu verstehen, dass das Ansinnen, die Durchführung von therapeutischen Gesprächen nach standardisierten Maßgaben zu gestalten, nur dann Sinn macht, wenn man sie an den Gepflogenheiten einer bestimmten Kultur orientiert. Diese Erfahrung sollte mir dann in späteren Jahren bei den Gesprächen helfen, die ich in anderen Ländern als Demonstration durchführte. Ich lernte, mit geringeren vorgefertigten Erwartungen an die Klienten heranzugehen.

13. Dezember 2012
von Tom Levold
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(Noch mehr) Ukrainische Episoden

Nachdem gestern Rudolf Klein mit uns seine Impressionen aus der Weiterbildungsarbeit in der Ukraine geteilt hat, gibt es heute noch einen zweiten Blick auf diese Zeit von Barbara Schmidt-Keller, die gemeinsam mit ihm diese Zeit in Ivano-Frankivsk erlebt und gestaltet hat:

Ukrainische Episoden

Einige Episoden während unserer verschiedenen Aufenthalte in der Ukraine sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Vassily hatten wir ja bereits in Deutschland kennen gelernt. Igor, sein Freund und Kollege und unser Chauffeur, hatte uns in Lemberg vom Flughafen abgeholt (Die Abenteuer der transukrainischen Autofahrten sind schon gestern an dieser Stelle ausführlicher behandelt worden). Am nächsten Tag lernten wir den Rest der Kerngruppe kennen, die zusätzlich aus  Viktor und Ira, beides Psychiater, und Oleg, der als Dolmetscher für uns arbeitete, bestand. Ira, eine attraktive Frau um die 40, hatte in der Vorbereitungsphase neben ihrer Tätigkeit in der Klinik und an der Uni zusätzlich Sekretariatsarbeit für das Systemische Projekt übernommen  und unsere ins Ukrainische übersetzten Handouts und Arbeitsblätter gestaltet.
In den ersten Kontakten mit ihnen und auch mit der Gesamtgruppe sind mir die Rituale der Begrüßung und Kontaktaufnahme am Anfang ein Rätsel geblieben.Während Rudi von den einzelnen Teilnehmern der Gruppe mit großer Höflichkeit und sehr respektvoll begrüßt wurde, nickte man mir eher aus der Ferne zu.
Ich überprüfte kurz, ob ich einen Stenoblock in der Hand und einen Bleistift hinter dem Ohr hatte, dem war nicht so. Auf den nächsten Würdenträger, der uns vorgestellt wurde, es war der Chefarzt der Klinik, der uns die Räume für das Seminar zur Verfügung gestellt hatte, trat ich dann auch entschlossen zu und schüttelte ihm die Hand. Er schien etwas überrascht, reagierte aber souverän.
Oleg, unser  Dolmetscher, erklärte mir anschließend, dass es in der  Ukraine als unhöflich angesehen werde, einer Frau die Hand zu geben, weil dies als eine Respektlosigkeit angesehen werde (Ob die Erklärung stimmt, welche ich an anderer Stelle gelesen habe, vermag ich nicht zu beurteilen. Diese besagt, dass die Frau, die nach einem Händeschütteln in die Küche zurückkehrt, die ihr angestammter Platz ist, sich die Hände dann ständig waschen müsse, bevor sie wieder mit den Lebensmitteln hantiert, und dass man ihr dies respektvoll ersparen möchte).
Ob es auch als respektlos  angesehen wurde, als Frau diesbezüglich initiativ zu sein und die Hand eines verdutzten Mannes zu ergreifen, oder ob hier andere Bewertungskategorien gelten, ist mir nie wirklich klar geworden. Aber im Laufe der beiden Jahre begegnete man mir mit freundlicher Nachsicht. Meine rechte Hand führte manchmal ein Eigenleben und wollte schneller Guten Tag sagen, als mein Gedächtnis brauchte, um die kulturellen Unterschiede in den Arbeitsspeicher zu laden.
Und so stellten wir uns wechselseitig darauf ein, uns die Hände zu schütteln oder auch nicht, je nach dem, welcher Impuls auf welcher Seite vom jeweiligen Gegenüber zuerst dekodiert wurde.
Rudi berichtet an anderer Stelle über die korrekte Zusammensetzung eines ukrainischen Frühstücks, das wir häufig in einem Café zu uns nahmen.

Es bestand aus Eiern in jeder Zubereitungsform, süßen und salzigen Pfannkuchen, eingelegten oder frittierten Fischen, Würstchen, Kuchen, Buchweizengrütze, Brot und Butter, Marmelade, Käse oder Aufschnitt. Längere Zeit gingen wir davon aus, dass diese Angebotspalette typisch für dieses spezifische Café war, und eine Ähnlichkeit mit dem typischen ukrainischen Frühstück nicht bestünde.
Weit gefehlt. Staunend hörten wir dem Bericht einer jungen Germanistikstudentin zu, die Oleg gelegentlich beim Dolmetschen vertrat, als diese höflich nach unserem Frühstück gefragt und anschließend erzählt hatte, welche verschiedenen kalten und warmen Gerichte sie an diesem Morgen bereits zu sich genommen hatte.
Ihre Mutter, so erzählte sie, stehe an jedem Morgen um 5:00 Uhr auf, um der Familie ein Frühstück zu bereiten, welches mindestens aus drei warmen und frisch zubereiteten Gerichten bestehe.  Danach gehe sie selbst zur Schule, wo sie als Lehrerin arbeite.
Alles andere sei mit der weiblichen Ehre und dem Anspruch, eine gute Ehefrau und Mutter zu sein, nicht zu vereinbaren.
Oxana & Svetlana, zwei gestandene Frauen im mittleren Alter mit fast erwachsenen Kindern und beide als Oberärztinnen in der Psychiatrie tätig, bestätigten mir das in einer Unterhaltung am Rande der Mittagspause. Allerdings erzählten sie auch, wie erschöpft  von diesem Mammutprogramm in Familie, Haushalt und Beruf sie waren.
Die Situation der Frauen in der Ukraine blieb ein besonderes Thema. Viele Frauen sorgten alleine für das Einkommen der Familien. Die Arbeitslosigkeit der Männer war sehr hoch und für Frauen gab es Jobs auf dem grauen Arbeitsmarkt von Pflege, Kinderbetreuung und als Hausangestellte. Der Anteil weiblicher Migranten, die zum großen Teil illegal im Dienstleistungssektor im westlichen Europa tätig waren (und oft in der Zwangsprostitution landeten), lag damals im 7-stelligen Bereich – die genaue Größenordnung weiß ich nicht mehr. Ob es mittlerweile weniger oder doch eher mehr geworden sind? Der Versuch, die Zahl schnell zu googlen, führte auf eine unendliche  Anzahl von einschlägigen Kontaktbörsen.
Auch eine ukrainische Familie, die wir im Rahmen eines Live-Interviews in der Klinik kennenlernten, war von dieser Thematik betroffen. Die 20jährige Ola, die seit ihrem 16. Lebensjahr fast schon Dauergast in der Psychiatrie war, war von ihrem behandelnden Psychiater mit ihren Eltern eingeladen worden. Ola hatte bereits die meisten  Interventionen der osteuropäischen Psychiatrie kennengelernt. Sie war mit Elektroschocks, Neuroleptika, Insulinschock und Hypothermie behandelt worden. Eine Besserung wurde nicht erreicht. Jetzt sollte die Wunderwaffe der Systemischen Therapie zum Einsatz kommen.
Wir bemühten uns, einerseits die Erwartungen der Gruppe zu minimieren und andererseits, uns auf die Familie einzustellen. Die Mutter lebte mit der älteren Tochter seit 4 Jahren in den USA und arbeitete mit greencard in einem privaten Haushalt. Ein halbes Jahr nach ihrer Abreise war Ola zum erstenmal psychiatrisch behandelt worden.
Der Vater war seit etlichen Jahren arbeitslos und trank zuviel. Die Ehe bestand zumindest formal noch, der Vater hatte aber nicht ohne die Großmutter mit in die USA  umziehen wollen. Die Großmutter väterlicherseits lebte in der Nähe. Sie war 1947 im Rahmen der polnischen Operation Weichsel zwangsumgesiedelt worden, war früh verwitwet und hatte ihre beiden Söhne alleine großgezogen. Ola und ihr Vater waren die einzigen Angehörigen in der Nähe, der andere Sohn mit seiner Familie lebte in Portugal.
Ola wollte nicht ohne den Vater emigrieren, die Mutter nicht ganz zurückkommen. Olas ältere Schwester war mittlerweile in den USA verheiratet. Zum Zeitpunkt des Familiengesprächs war die Mutter wegen der Krise der jüngeren Tochter für einige Wochen in die Ukraine zurückgekehrt.
Wir sprachen mit der Familie über die Nöte der vergangenen Jahre, die sich wechselseitig blockierenden Loyalitäten und die Auswirkungen von Ola ’s psychotischen Krisen auf Bindung und Distanz.
Die Tochter hatte seit einem halben
Jahr kaum etwas geredet und niemandem auf der Station ihr Gesicht gezeigt, welches sie unter einer tief in die Stirn gezogenen Baseballmütze versteckte. Wir fragten die Eltern, ob sie es für möglich hielten, dass Ola sich in sich zurückgezogen habe, da die Optionen für eine befriedigende Veränderung zur Zeit so unerreichbar schienen.  Ola schob die Mütze zurück und beteiligte sich am Gespräch.
Als das Gespräch vorbei und die Familie bereits verabschiedet war, kehrte der Vater in den Seminarraum zurück und schenkte uns eine Tüte mit Äpfeln. Eine würdevolle Geste, die uns berührte. Wir saßen mit der Gruppe zusammen und aßen Äpfel und ließen den Tag ausklingen.