systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

26. Dezember 2012
von Tom Levold
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Wenn’s kommt, dann kommt’s richtig

Zum Abschluss des diesjährigen Adventskalenders schreibt Ulrich Sollmann aus Bochum über eine Reise nach Indien…

Es war einmal eine Reise nach Indien, bei der ich wie so manch anderer in der damaligen Zeit (ich glaube, wir schrieben das Jahr 1976) auf der Suche nach einem alten Mann war, der unter einem noch älteren Baum saß und gerade durch seine anmutige, in sich ruhende Haltung und natürlich den entsprechenden weisen, langen, weißen Bart, die (aus heutiger Sicht natürlich idealisierte) erhoffte Weisheit verkörperte, um an dieser Weisheit zu partizipieren.
Damals, mit dem Auto unterwegs nach Indien, machte ich derweil so manche eigentümliche Erfahrung. Eine dieser Erfahrungen erschütterte mich und mein Verständnis davon, wie die Welt wohl zu funktionieren habe. Aber leider nicht funktionierte.
In Südindien, in der Nähe von Madras, wurde mir über Nacht meine Fotoausrüstung gestohlen. Ich hatte eine Ahnung, wer der Dieb wohl hätte sein können, wähnte mich daher sicher, als ich die Polizei beauftragte, den Dieb zu suchen.
Der Polizist, ein freundlicher Inder, setzte sich zu mir und wollte den Vorfall aufnehmen. Ganz zu meiner Überraschung fragte er sehr ausführlich nach den Dingen, die nicht gestohlen wurden, die also noch da waren. Dinge, die der Dieb zurückgelassen hatte.
Trotz meines mehrfachen Drängens bemühte er sich weiterhin gerade diese Dinge aufzulisten, um mich mit einem weiterhin freundlichen Lächeln zu vertrösten: Es bliebe ja immer noch genug Zeit, den Dieb zu suchen, ich sollte mich doch nicht so eilen.
Wenn’s kommt, dann kommt’s richtig! – Ich verstand damals Gott und die Welt nicht mehr, hatte ich doch Sorge, dass je länger wir warteten, desto weiter sich der Dieb vom Tatort entfernen könnte.
Zwar wusste ich um die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und Indien. War daher mental gut vorbereitet. Zwar hatte ich mich, da ich mit dem Auto unterwegs war und so einige Zeit bereits in Indien verbracht hatte, an die dortigen Gepflogenheiten gewöhnt. Jetzt, im Ernstfall, versagte aber all mein so erworbenes kulturelles Wissen. Ich fühlte mich radikal auf mich selbst zurückgeworfen, spürte die Erschütterung in meinem Körper, konnte nur noch aufspringen, als der Polizist weiterhin lächelte und mich befragte, um im Raum auf und abzurennen. All das, was ich wusste, all das, was ich mir vorgenommen hatte, all das, was mir geraten wurde, all das funktionierte auf einmal nicht mehr, und ich erlebte mich nur noch körperlich tief erschüttert und gerade diesem körperlichen Erlebensprozess ausgeliefert.
Schnitt. –
Inzwischen bin ich in verschiedenen kulturellen Kontexten beruflich unterwegs. Sei es in der Arbeit mit Kroaten in der Ausbildung, sei es in dem kollegialen Austausch mit Chinesen über Kommunikation und Psychotherapie im interkulturellen Kontext. Sei es über Workshops bei internationalen Kongressen. In der Regel, wenn die mir sonst vertrauten Möglichkeiten des Verstehens und des Austauschs versagen, erlebe ich eine ähnliche, unmissverständliche, körperliche Resonanz, wie damals in Indien. Inzwischen bin ich immer noch erschüttert (das kann dann starke Verunsicherung, aber auch überraschende Freude und Neugier sein). Und doch bringen mich solche Erfahrungen nicht mehr so aus dem Lot wie es damals der Fall war, bedingt durch das freundliche Lächeln und die doch so ganz einfachen Fragen des indischen Polizisten es vermochten.
Die Begegnung in der Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturkreisen, vor allem wenn die Worte versagen, wird erleichtert gerade durch solche körperlich gespürten Erschütterungsprozesse. Erschütterungen auf beiden Seiten. Erschütterungen, die mich wach halten. Erschütterungen, die, wenn beim anderen wahrgenommen, gegenseitiges implizites Verstehen erleichtern.
Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es ein nicht zu unterschätzendes Merkmal von interkulturellen Erfahrungsprozessen ist, auf solche paradoxen Begegnungen zu stoßen. Man kann ihnen nicht entgehen, sind sie doch gerade auch Merkmal einer interkulturellen Erfahrung.
Und das ist auch gut so.
Übrigens, natürlich habe ich den weisen Mann mit dem weißen Bart in sich ruhend unter dem alten Baum nicht getroffen. Stattdessen bin ich mir selbst begegnet und habe gemerkt, wo immer ich hingehe, habe ich mich selbst im Rucksack mit dabei. 😉

25. Dezember 2012
von Tom Levold
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Am anderen Ende der Welt und total vernetzt

Normalerweise ist bei jedem Adventskalender am 24.12. Schluss. Deshalb gibt es für den 25.12. auch kein Adventskalenderbildchen. Ich habe aber versprochen, alle eingegangenen Beiträge für den diesjährigen Kalender zu veröffentlichen, und deshalb gibt es heute und morgen noch an dieser Stelle die beiden letzten Texte zum Thema interkultureller Begegnung. Lisa Reelsen, Lehrerin mit systemischer Weiterbildung und langjährige systemagazin-Leserin, hat schon in den vergangenen Jahren etwas zu den Adventskalendern beigesteuert. Dieses Mal schreibt sie aus dem sommerlichen Chile, wo sie seit Jahresanfang tätig ist.

Schreiben über interkulturelle Begegnungen in Beratungssituationen? Keine Zeit dafür, ich lebe sie täglich, die Begegnungen, und erlebe die damit eng verbundenen Herausforderungen an mich. So dachte ich, als ich das diesjährige Thema für den Adventskalender las.
In dieser Woche blieben 2 Armbanduhren und ein Wecker stehen. Vielleicht doch ein Hinweis darauf, mal kurz in der besinnlichen Zeit inne zu halten und einen Rückblick zu wagen?
Seit Februar 2012 bin ich nun beruflich in Chile, dem Land, das ich vor 20 Jahren bereist hatte. Ich arbeite in Santiago als Dozentin an Deutschlands weltweit kleinsten Pädagogischen Hochschule und bin stolze Besitzerin einer chilenischen RUT (Rol Unico Tributario), einer sogenannten Seriensteuernummer, die jeder Chilene besitzt und auswendig kennt und die sich das ganze Leben lang nicht mehr verändert. Ich habe lange darauf gewartet, denn ohne den Ausweis mit dieser Nummer kann man keine Internetverbindung beantragen, keinen Handy-Vertrag abschließen und nicht mal einen Kühlschrank kaufen.
Das Land begeistert mich. Die Menschen, denen ich begegne, sind sehr freundlich und ich fühle mich wohl. Völlig neue Düfte im Frühling konnte ich hier im November genießen, die Natur ist überwältigend. Der Umgang mit Zeit allerdings ist ein wahrnehmbar anderer hier. Obwohl ich die Erfahrungen damit im südamerikanischen Bereich schon wiederholt machen konnte, wirft es mich nach einigen Jahren Aufenthalt in Deutschland doch immer wieder zurück in die feste Erwartung von Pünktlichkeit, Einhaltung vereinbarter Gesprächszeiten und Effizienz. Und genau das wird als „typisch deutsch“ belächelt. Tja, so deutsch kann man sein, auch ich wohl.
An den Kassen im Baumarkt sind lange Schlangen, ich stehe mittendrin und meine Geduld scheint nicht besonders groß zu sein. Ich werde unruhig und schaue mit etwas düsterem Blick auf die Kassiererin, die sich deshalb oder angesichts der langen Schlange noch lange nicht anschickt, auch nur eine Spur schneller zu arbeiten. Ich schaue mich um und sehe tatsächlich keine genervten Gesichter. Man unterhält sich nett, schaut fröhlich auf die Weihnachtsdekoration. Gut, dann übe ich mich etwas in Geduld und Demut. Nimm es als Lerngeschenk, mahnt es in mir.
So beginnen auch meine Veranstaltungen. Fröhliche Studentinnen und Studenten begrüßen mich mit Wangenkuss. Viele kommen zu spät, holen zuerst ihr Handy aus ihren Taschen und legen es auf den Tisch. Andere klappen gleich ihren laptop auf. Tja, ich beginne wie üblich freundlich und relativ sachlich das Seminar mit der Bekanntgabe des Themas und der Intentionen. Es klingelt ein Handy, dann das Zweite, jemand geht mit dem Handy raus, ein anderer kommt dazu. Manche beginnen zu frühstücken, denn sie hatten eine lange Fahrt und andere schlafen aus gleichem Grund fast ein. Das war ich nicht gewohnt. Seit elf Jahren bin ich nun in der Lehrerbildung tätig und die Lehreranwärterinnen und Lehreranwärter in Deutschland sind Beamte auf Probe und haben somit quasi die Dienstpflicht, pünktlich zu sein. Ich überlege, wie ich vermitteln kann, dass ich das Verhalten, vor allem das dauernde Schauen auf den Bildschirm des Handys, als respektlos empfinde, ohne durch meine Direktheit selbst respektlos zu erscheinen. Ich bitte freundlich darum, die Handys auszuschalten und in die Taschen zu packen. Das klappt zunächst gar nicht. Das sei eben so hier und ein kultureller Unterschied, heißt es, jeder habe sein Handy permanent im Blickfeld. Ich habe ja bedingt noch Verständnis dafür, gehe auch selten ohne Handy aus dem Haus, doch während der Veranstaltungen brauche ich es doch nicht, erkläre ich den Studenten. Schon wieder klingelt ein Handy. Ich schaue wegen der Unterbrechung empört in die Runde. „Es kommt aus Ihrer Tasche“, grinst eine Studentin. In der Tat, ich hatte mir ein neues gekauft, kannte den Klingelton noch nicht und hatte es offensichtlich auch vergessen auszustellen. Köstliche Erheiterung in der ganzen Gruppe, auch ich muss lachen. Im Laufe des Jahres lassen die Studenten ihre Handys nur noch aus ihren Taschen brummen und summen. Ob die Bevorzugung der direkten Kommunikation etwas mit der Attraktivität meiner Veranstaltungen zu tun hat, möchte ich gerne glauben. Doch ich vermute eher, man hat sich einfach nur meines Anliegens erbarmt.
Im Restaurant neulich schaute ich mich um. Tatsächlich viele Handys lagen auf den Tischen. Ich erblickte ein Ehepaar mit ihren 2 kleinen Kindern. Die Eltern unterhielten sich miteinander, während die höchstens 3 oder 4 Jahre alten Kinder (vermutlich noch jünger) beide mit ihrem I-Pad umgingen wie die Experten. Ich war beeindruckt von so viel Medienkompetenz, aber auch gleichzeitig ziemlich sprachlos. Dass auch einige Lehrerinnen in den Schulen während einer Unterrichtsmitschau und den anschließenden Beratungsgesprächen ihre Handys auf den Tisch legten, konnte mich nicht mehr irritieren.
Die Studentinnen des letzten Studienjahres spiegelten mich in der Abschlussfeier in einem Sketch wunderbar und sehr wohlwollend in einer Parodie zu meinem Verhalten und wohl  meinem Lieblingswort in der Didaktik-Veranstaltung: „Transparenz im Unterricht“. Schüler/innen sollen ja schließlich wissen, was sie lernen können. Anfangs wusste ich noch nicht, was ich alles lernen würde, aber meine Lernergebnisse sind vielfältig.
Nach einem langen intensiven Jahr voller neuer Erfahrungen und wunderbaren Begegnungen fuhren eine Freundin und ich am Wochenende mit dem Bus ans Meer. Nach ein und einer halben Stunde Bewegung setzten wir uns in ein Strandlokal. Wir schauten aufs Wasser. Da man Handtaschen in Chile auf keinen Fall auf den Boden stellt, auch nicht zu Hause, da sie sonst Beine bekämen, sagt man, lasse ich meine auf dem Schoß und packe  reflexartig mein Handy auf den Tisch. Unter dem entsetzten Blick meiner Freundin lasse ich es schnell wieder in der Tasche verschwinden. Mein hilfloses „Ich wollte doch nur kurz…“ schützt mich nicht mehr vor ihrem strafenden Kommentar.
Heute noch bringe ich meine Uhren zur Reparatur, oder vielleicht auch erst morgen oder übermorgen, mal sehen….Vielleicht lasse ich mich auch absurderweise im Einkaufscenter bei 30 Grad Außentemperatur in einer riesigen Schneekugel, durch die Styroporkugeln geblasen werden, mit einem Weihnachtsmann in einer Kutsche fotografieren. Ich habe nun ja Zeit, der Urlaub beginnt. Oh du fröhliche Weihnachtszeit.
Mein Handy klingelt, ich muss los.

24. Dezember 2012
von Tom Levold
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Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin

Das Türchen zum Weihnachtstag im systemagazin-Adventskalender macht heute Lothar Eder mit einer Geschichte über eine Kultur auf, die verloren zu gehen droht:

Wenn man wie ich ursprünglich aus Niederbayern kommt, dort wo der Bayerische Wald liegt, fällt es nicht schwer, Menschen aus anderen Kulturen zu begegnen. Das Fremdartige fängt dann bereits in Oberbayern an, von München ganz zu schweigen. Norddeutschland beginnt spätestens ab Frankfurt, und Augsburg und Aschaffenburg sind eigentlich schon Ausland.
Doch im Ernst: Psychotherapie ist ein Begegnungsraum, in dem man fortwährend auf Andersartiges, Fremdes trifft, und dieses Fremde enthält doch immer auch Vertrautes, Bekanntes, und geht dadurch in Resonanz mit dem eigenen Innenraum. Wenn ich über Begegnungen mit fremden Kulturen nachdenke, fällt mir ein Patient ein, der meine Deutsche Nationalität hat, paradoxerweise aber dennoch aus einem anderen Kulturkreis kommt: er stammt aus der ehemaligen DDR, einem vergangenen Land, das mir entfernt vertraut und letztlich doch so fremd ist, als habe es auf einem anderen Kontinent gelegen.
Es kam zu mir in die Therapie letztes Jahr, ein älterer Mann, er war Mitte Sechzig, also noch nicht wirklich alt, aber er wirkte alt und sah sehr alt aus. Zum einen lag dies an seiner äußeren Erscheinung, er hatte fahle und sehr faltige, fast morsche Haut, war gebeugt und sehr hager. Zudem haftete ihm etwas sehr Trauriges an. Alles in allem war er tief erschöpft und niedergeschlagen. Das war angesichts seiner Geschichte auch nicht verwunderlich. In der DDR war es ihm als junger Mann zu eng geworden, somit unternahm er einige Fluchtversuche, die zunächst zu Verhaftungen und Gefängnisaufenthalten führten. Schließlich gelang ihm die Flucht über die damalige Tschechoslowakei, im Motorraum eines LKW. Die Eltern und Verwandten hatte er nicht eingeweiht. Deutlich erinnerte er das schmerzvolle Schreien der Mutter am Telefon, als er vom Westen aus anrief und sie über die Flucht informierte. „Mein Sohn, mein Sohn“ habe sie nur geschrien und konnte sich nicht beruhigen. Als er davon erzählte, wurde spürbar, dass er diesen Schrei vor seinem inneren Ohr so hörte als geschähe er gerade eben. 16 Jahre zuvor war bereits eine seiner Schwestern geflohen, und damals, in den 60er und 70er Jahren, gab es so gut wie keine Aussicht, sich je wieder zu sehen.
Im Westen Fuß zu fassen gelang ihm nie wirklich, trotz eines erfolgreichen Studiums und eines ebensolchen Berufslebens bis zur mittlerweiligen Rente. Von Westdeutschland aus unterstützte er die Flucht mehrerer Freunde, was ihm eine Aufgabe gab. Die damalige linksorientierte Haltung seiner Kommilitonen befremdete ihn, der den „real existierenden Sozialismus“ hautnah mitbekommen hatte. Er schilderte das in einer netten kleinen Episode. Mit einem Mitstudenten sei er, immer noch fasziniert vom glitzernden Warenangebot, in einem Kaufhaus umhergegangen und habe mit ironischem Unterton bemerkt, dies hier sei ja wohl ein herausragendes Beispiel für den vor sich hinfaulenden Kapitalismus. Jedem DDR-Bürger wären seiner Meinung nach die Augen aus dem Kopf getreten und es wäre ihm gewiss keine antikapitalistische Kampfparole in den Sinn gekommen beim Anblick dieser Fülle. Der Kommilitone aber habe die Ironie nicht bemerkt und habe sehr ernst und beifällig mit dem Kopf genickt. Er selbst sei sich damals vorgekommen wie in einem Museum und habe sich manchmal gewundert, dass die Leute in diesem sonderbaren Land Deutsch sprächen.
Seine Ehe mit einer Südländerin ist letztlich nicht glücklich verlaufen, ein Sohn, als Frühgeburt zur Welt gekommen, starb bald nach der Geburt. Den Verlust hat das Paar zu keiner Zeit mitsammen verarbeitet, er selbst kann nicht verstehen, dass die Frau so tue, als sei der Sohn nie dagewesen. Das Paar adoptierte eine Tochter, seine Frau jedoch tat dies nur halbherzig, sodass auch hieraus ein Konfliktthema wurde. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte er seinen ersten Psychiatrieaufenthalt, dem weitere folgten. Die Therapie bestand aus Medikamentengaben gegen Depressionen. Antriebslos und wie gelähmt sei er oft, und es bedurfte keiner großen Deutungskompetenz, zusammen mit ihm dahinter seine Erschöpfung, seinen Schmerz und seine Trauer zu erkennen.
Ich erzähle von diesem Patienten aber vor allem deshalb, weil er ein großartiger Erzähler ist und weil in seinen Erzählungen die Zeit still zu stehen scheint. Nein, er ist kein Rafik Schami, aber er erzählt von einer längst vergangenen Zeit, die schon deshalb nicht mehr wiederkommen kann, weil das Land, in das diese Zeit gehört, gestorben ist. Und dieses Erzählen ist paradox. Denn er hat diese vermeintliche Idylle ja voller Abscheu verlassen, und ist darüber ein Heimatloser geworden. Es gibt ein Gedicht von Thomas Brasch, das lautet

“Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
 Wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
 Die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
 Die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
 Wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
 Wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
 Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.”

Ich erinnerte es nur bruchstückhaft, kannte auch den Titel nicht, aber ich empfahl es ihm zu lesen. Als er in der nächsten Stunde berichtete (er hatte es in einer Anthologie gefunden), war er tief berührt (was bei einem depressiv strukturierten Patienten äußerst  positiv zu werten ist).
Die Eltern, die – gegen die herrschende politische Linie – einen kleinen Betrieb hatten, hätten von früh bis spät gearbeitet. Aber es habe keine Hektik gegeben. Sie hätten immer Zeit gehabt, wenn er einen Ansprechpartner gebraucht habe. Und man sei jeden Abend beisammen gesessen, die Familie und die Angestellten, und dann sei gegessen und gesungen worden. So gerne würde er wieder mit anderen gemeinsam singen, nicht im Chor, sondern abends am Tisch. Empört schaut er, als er davon erzählt, dass heute Fernsehen und Internet regierten. Mehrmals habe er den Test „auf die modernen Zeiten“ gemacht. Als Beispiel erzählt er die Suche nach neuen Winterreifen. Vor 20 Jahren noch hätte er sich, wenn er neue Winterreifen gebraucht hätte, mit Freunden zum Bier getroffen, und sie hätten miteinander beratschlagt. Wenn er heute einen frage, bekäme er nur noch zur Antwort, er solle doch im Internet nachschauen. So war dieser Mann ein Suchender, mit Proust auf der Suche nach der oder besser nach seiner verlorenen Zeit. Und dies in der Gewissheit, dass diese Zeit nicht wiederkommen kann. Diese unstillbare Sehnsucht danach aber trieb und treibt ihn um. Die Verluste, der Schmerz und die Trauer hatten ihn wund gerieben und so gebrauchte er mehrmals eine treffende Metapher: er fühle sich oft, als habe er keine Haut mehr.
Der Patient sprach etwas an, was mich selbst sehr beschäftigt. Es soll ja vorkommen, dass Therapeuten mit dem was Patienten erzählen, in Resonanz gehen und nicht nur umgekehrt. Er erzählte nämlich von etwas, was es immer weniger gibt. Vom Zeithaben, vom Sich-Zeit-nehmen, vom unabgelenkten Zusammensein mit anderen. Vor allem kam dies in seinen Erzählungen von den vergangenen Weihnachtsfesten in seiner Herkunftsfamilie zum Ausdruck. Wie da wochenlang vorher gebacken worden war, wie das ganze Haus geduftet hat, wie es immer geheimnisvoller wurde je näher der Weihnachtstag rückte, wie die Räuchermännchen aufgestellt wurden und wie dann die Familie zusammengesessen hat und miteinander gesungen hat. Wer könne denn heute noch Weihnachtslieder singen? Da werde doch der Fernseher angemacht oder die CD aufgelegt, aber das sei doch e
twas ganz anderes. Wir haben alles, sagt er einmal, Kühlschrank und Waschmaschine, aber Zeit haben wir nicht mehr.
Ich finde, er hat Recht. Er erzählt von einem Verlust, den wir in Kauf oder zumindest hinnehmen. Wer nimmt sich tatsächlich die Zeit, mit anderen stundenlang zu sitzen und gar zu singen, ohne daran zu denken, dass er ja mal „seine Emails checken“ oder mal in seinem Smartphone in facebook gehen sollte? Es scheint uns allen etwas verloren gegangen zu sein, nicht nur diesem Patienten.
Dann unterbrach er die Therapie für mehrere Monate, weil er mit seiner Frau in das Haus in einem südeuropäischen Bergdorf fahren wollte, das sie vor langer Zeit gekauft hatten und in dem sie viele Jahre nicht gewesen waren. Ein Abenteuer. Denn vieles würde zu reparieren sein nach so langer Zeit. Und ob die Matratzen noch zu gebrauchen seien, sei ungewiss. Aber dort verginge die Zeit langsamer. Wenige Menschen seien noch in diesen Bergdörfern, die meisten hätten sie verlassen, um in die Stadt zu gehen. Wenn man aber durchs Dorf gehe, um eine Besorgung zu machen, müsse man einen halben Tag einplanen, denn mit jedem den man unterwegs träfe, ergebe sich ein Plausch.
Als er zurückkam, ging es ihm besser. Seine Traurigkeit schien eine Heimat gefunden zu haben. Auf der Reise durch Europa sei im schmerzlich klar geworden, dass Europa im Äußeren immer gleicher werde, eine Reise sei kein Abenteuer mehr wie noch vor 30 oder 40 Jahren. Auch hier kommt er wieder in eine Erzählung hinein, die über Südeuropa in die DDR und zu seinem anfänglichen Leben im Westen führt. Und es wird klar, dass diese Orte sich verbinden durch die Themen, über die er spricht. Traurig mache ihn, dass Dinge aus der Welt verschwänden und nicht mehr wiederkämen, weil niemand mehr sie wisse, z.B. die alten Handwerke. In seinem Bergdorf sei er in einer Welt gewesen, in der fast niemand mehr lebt; die Dörfer sind von den Jungen aufgegeben. „Die Leute verlassen ihre Träume“, sagt er, und: „Die Leute, die die Dörfer verlassen, sind oft fremd in der Welt“. Spätestens da wird klar, von wem er eigentlich spricht: von sich. Leute, die ihre Träume verlassen, ohne es zunächst zu wissen, sind danach fremd in der Welt. Sie suchen und finden nicht mehr, allenfalls vorübergehend. Die Zeit dort aber habe ihm gut getan: weniger Ärzte, weniger Telefonate, weniger Schriftkram, mehr Beschaulichkeit. Er sei nicht mehr so depressiv, habe mehr Antrieb, sei körperlich aktiver, habe mehr Zutrauen in sich selbst. Und sein Schlaf sei besser. Er schaut kurz auf und ein seltenes Lächeln ist auf seinem Gesicht, dann ist die Stunde zu Ende.

23. Dezember 2012
von Tom Levold
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Diskriminierung und Rassissmus

Heute schreibt Gerti Saxer, Einzel-, Paar- und Familientherapeutin mit einem Schwerpunkt auf der Beratung binationaler Paare in Rorschach in der Schweiz für den systemagazin-Adventskalender:

Als ich vor drei Wochen mit Berufskollegen in einem Restaurant sass, betraten zwei Frauen das Lokal, wobei die eine, mit indischer Herkunft, mich freundlich anschaute und während dem Essen immer wieder nach mir hinüberblickte. Mir kam sie auch bekannt vor, da ich aber mit vielen ausländischen Menschen zu tun habe, konnte ich sie nirgendwo einordnen. Als ich das Restaurant verlassen wollte, stand sie auf und sprach mich an: Grüezi Frau Saxer, wie geht es ihnen? Erst als ich nach ihren Familiennamen fragte, habe ich sie wiedererkannt. Vor gut 10 Jahre waren sie und ihr Mann bei mir in Beratung. Der Grund, er legte ihr kurz von der Hochzeit einen Ehevertrag vor, der sie sehr verletzte und sie sich deshalb weigerte, diesen zu unterschreiben. Er, Ingenieur und Lehrer an einer Berufsschule, lernte die wunderschöne Frau während seinen Ferien in einer diesen herrlichen Inseln im indischen Ozean kennen. Sie arbeitete dort im Hotel an der Rezeption, konnte deshalb bereits einige Fremdsprachen sprechen. Nach einer kurzen Zeit, während sie die Beziehung via Telefongespräche weiterführten, lud der Mann sie in die Schweiz zu einem Besuch ein. Sie entschieden sich zu heiraten, was zur Folge hatte, dass sie nicht mehr zurückreisen würde. Das war die Ausgangssituation. Ich bin selber Migrantin und war geübt in der Beratung mit Menschen aus Südamerika, dessen Kultur ich gut kannte. Hier war ich herausgefordert und meine interkulturellen Kompetenzen in der Beratung auf der Probe gestellt.
So konnten zwei wichtige Themen gut bearbeitet werden und ich dazu etwas ganz wichtiges gelernt. Als ich nachfragte, wer für und wer gegen diese Heirat war, kam da einiges zum Vorschein. Die Eltern des Bräutigams, sehr konservative Menschen aus der Innenschweiz, glaubten nicht, dass so eine Verbindung gelingen könnte. Der Vater der Braut, der muslimischen Religion zugehörend, fühlte sich in seiner Ehre verletzt, dass ein Fremder seine Tochter „geraubt“ hatte. Dann haben wir darüber gesprochen, wie er wieder zu seiner Ehre und Würde zurückfinden könnte, damit die Tochter nicht von der Familie ausgeschlossen würde. So haben wir einen Text eingeübt, wobei der Mann den Vater am Telefon um die Hand der Tochter beten sollte, was ihm zuerst sehr widerstrebte. Es tat es mit gutem Erfolg und wurde so von der Familie aufgenommen.
Dann gingen wir die Gründe nach, weshalb es der Frau so Mühe machte, den Vertrag zu unterschreiben, der sie von jeglichen finanziellen Vorteilen ausschloss. Das Paar konnte sich dann darauf einigen, dass der Mann ihr eine in ihrer Kultur üblichen „Brautgabe“ in Form eines Geldbetrages, entsprechend einer Ferienreise in der Heimat, auf ihr eigenes Konto überweisen würde. Das wäre für sie eine Garantie, dass wenn es mit der Beziehung nicht klappen würde oder sie starkes Heimweh bekäme, nach Hause reisen könnte.
Dann fragte ich der Frau, ob sie hier Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus gemacht hätte, was sie verneinte. Wunderte mir auch nicht, denn nebst ihre Schönheit besass sie ein bezauberndes Lächeln und ausgezeichnete soziale Kompetenzen. Intuitiv frage ich den Mann, ob er irgendwelche Erfahrung der gleichen Art gemacht hätte. Er bekam gleich Tränen in den Augen und berichtete, ein Kollege, der die Frau gar nicht kannte, habe ihm im Lehrerzimmer vor alle anderen gefragt, aus welchem „Katalog“ er seine Braut gekauft hätte. Seither gebe ich sehr darauf Acht, auch der einheimischer Partner oder Partnerin über Erfahrungen mit Diskriminierung anzusprechen.
Beim Abschied im Restaurant fragte ich der Frau, wie es ihnen gehe und ob sie Kinder hätten. Sie erzählte, sie hätte gleich im ersten Jahr hier eine Arbeit auf einer Bank bekommen und war immer noch dort. Die Ehe habe nur vier Jahre gedauert, sie seien geschieden, sie habe nicht wieder geheiratet. Von ihren Wurzeln hatte sie sich freiwillig getrennt, ihre Flügel wollte sie sich jedoch nicht stutzen lassen.

22. Dezember 2012
von Tom Levold
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Antidoron – die Geschichte vom gesegneten Brot

Weihnachten rückt näher. Zwei Tage vor dem Fest lässt uns Cornelia Tsirigotis, Schulleiterin einer Förderschule für Gehörlose in Frankfurt am Main und Herausgeberin der Zeitschrift für Systemische Therapie und Beratung hinter ihr Adventskalendertürchen schauen:

Meinen kulturellen Rucksack habe ich in unterschiedlichen Lebensphasen gefüllt und umsortiert: Bruder mit Austauschschüler aus Griechenland, Kindheit mit ersten Gastarbeiterfamilien, deren Babys ich spazieren fahren durfte, ein Jahr in Griechenland nach dem Studium in einer Hütte ohne Strom und Wasser, mit Olivenernte, Arbeit in der Kneipe, mit Lektüre griechischer Zeitungen und Gedichte… und dann mit meinem Mann in nunmehr über 30jähriger bikultureller Lebenspartnerschaft mit vielfältigen Erfahrungen mit dem deutschen Umfeld wie mit der Familie in Griechenland. All das hat meine Perspektive und meine Haltung zum Thema Kultur immer wieder verändert, manchmal mit Tränen, immer bereichernd.
In den unterschiedlichen Arbeitskontexten hatte ich es immer wieder mit KlientInnen, SchülerInnen, kundigen Menschen mit Migrationshintergrund zu tun und mit ganz unterschiedlichen Zugängen und Modellen der Gestaltung ihres eigenen kulturellen Wandels. Oft hat mir in Elterngesprächen mein griechischer Nachname als erster Türöffner geholfen: die Unterstellung, Diskriminationserfahrungen beim Leben in Deutschland zu kennen, oder Familiendruck aus der Heimat…
Die Art, wie wir Geschichten aus der Arbeit mit KlientInnen aus anderen kulturellen Kontexten erzählen, verraten etwas von unserer Beobachterperspektive und von der Einstellung unserer Brille im kulturellen Rucksack. Vielleicht führt das dazu, dass mir die diesjährige Adventskalendergeschichte nicht so leicht aus der Feder fließt wie „Kongressgeschichten“ oder „systemische Begegnungen“.
Mein derzeitiges Arbeitsfeld ist eine Schule und ein überregionales Beratungs- und Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Hören. Die Schülerinnen und Schüler, die meine Stammschule besuchen und nicht in Regelschulen „inklusiv“ beschult werden, haben zu 80 % Migrationshintergrund, durch ihre Hörschädigungen ist ihnen der Zugang zur Kommunikation doppelt erschwert, viele Familien sind von Armut betroffen. Darüber hinaus ist auch die Gehörlosen- und Gebärdenkultur ein Teil der kulturellen Herausforderungen meines Arbeitsalltages.
Eine griechische Schülerin, nennen wir sie Aliki, hat und macht vielfältige Schwierigkeiten. Wenn sie sich ungerecht behandelt fühlt, flippt sie aus. In der Vergangenheit waren Aggressivität und das Erlangen von Selbstkontrolle immer wieder ein Thema. Die Kolleginnen haben sich angewöhnt, wenn sie mit ihr nicht mehr klarzukommen, sie zu mir zu schicken. Manchmal beruhigt die Muttersprache sie, manchmal, wenn sie gar nicht mehr zugänglich ist, redet sie auch mit mir „nur“ deutsch. Wenn sie dann wieder griechisch spricht, ist sie wieder „ansprechbar“, ist die Kraft der zuwendenden Beziehung wieder da.
Die wenigsten „meiner“ SchülerInnen sind katholisch, der katholische, gebärdenkompetente Gehörlosenpfarrer sehr engagiert. Er hat zurzeit eine Lerngruppe, die sich mit unterschiedlichen Religionen beschäftigt. So meldet er für die vergangen Woche eine Exkursion in die griechisch-orthodoxe Kirche an, die mich zu einem spontanen: “Ich gehe mit!“ veranlasst. Der dortige Pfarrer hat den Schülern sehr schön erklärt, was in der orthodoxen Kirche wichtig ist, die Ikonen, die Symbolik. Aliki wusste ganz viel und der Pfarrer bedankte sich immer wieder, da sie ihn an etwas erinnert hatte. Die anderen SchülerInnen waren interessiert und aufmerksam genug. Alle haben sich gut benommen. Aliki wurde als Expertin akzeptiert, das war eine ganz neue und sehr aufregende Erfahrung für sie.
Wir bekamen, weil Feiertag war, ein gesegnetes Brot, Antidoron, geschenkt. Das konnten wir dann erst am nächsten Tag anschneiden. 
Dazu hatte Aliki die Gruppe in der Pause zusammengetrommelt, ich hatte das Brot schön auf einen Teller mit Weihnachtsserviette platziert – und das Messer vergessen. Aliki stürzt hilfsbereit los, um eins zu organisieren. Wegen einiger Vorerfahrungen geben die Kollegen Aliki kein Messer, ich muss es selbst holen. Sie erklärt mir noch einmal, wie ich das Brot anschneiden soll. Ich lasse sie es selbst machen. Sie macht dreimal mit dem Messer das Kreuz darüber, wie es sich gehört vor dem Anschneiden. Sie verteilt das Brot an die Gruppe, an dazu kommende Lehrerinnen, an andere SchülerInnen, die interessiert dazu kommen. Wir heben je ein Stück für ihre Eltern, für unsere griechischen Putzfrauen und für meinen Mann auf. Aliki erlebt sich als Expertin für ihre Kultur, als selbstwirksam und von den anderen geschätzt. Ein Rahmen, in dem ein ganz anderes Verhalten möglich ist.
Mich freut einfach so eine Entwicklung. Den Umständen zum Trotz.

21. Dezember 2012
von Tom Levold
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Multifamilientherapie in einem Satz

Björn Enno Hermans, Leiter und Geschäftsführer eines Trägerverbundes der Jugend-, Familien- und Gefährdetenhilfe in Essen, Systemischer Supervisor und Therapeut in freier Praxis und stellvertretender DGSF-Vorsitzender macht heute den Adventskalender auf:

Im Jahr 2007 hatte ich die Leitung der Tagesklinik der Elisabeth-Klinik (Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie) in Dortmund übernommen und nach einigen Monaten gemeinsam dort mit dem Team ein Multifamilientherapie-Angebot eingeführt.
Begeistert und fast ein wenig „beseelt“ von diversen Workshops und Tagungen mit Eia Asen und anderen war ich überzeugt, dass genau ein solches Angebot das richtige für die jeweils 10 Familien der 7-13 jährigen Kinder der Tagesklinik sei. Also starteten wir zunächst mit monatlichen Nachmittagen in einem benachbarten Theater, wo auch schon die Gruppentherapie stattfand, da die Tagesklinik für solche Veranstaltungen deutlich zu klein geraten war.
Die ersten Termine verliefen auch toll; die Stimmung war lösungs- und ressourcenorientiert, die Bedenken der Skeptiker im Team sanken und auch bei den Familien stieg die Solidarität und damit Aktivität bei der Mitarbeit.
Aufgrund der Lage der Tagesklinik mitten in der Stadt, kamen die Familien häufig aus vielen verschiedenen Herkunftsländern und Kulturen, manchmal bis zu 7 verschiedene Herkunftsländer bei 10 Kindern und ihren Familien.
Nach den ersten Monaten dieses Angebots, gab es dann einen Multifamilientherapie-Termin, an dem nur noch zwei Familien teilnahmen, denen dieses Angebot schon vertraut war und insgesamt 8 neue Familien.
Fast alle dieser Familien waren zu diesem Zeitpunkt sehr resigniert über die Symptomatik ihrer Kinder, die häufig in der Zuschreibung „ADHS“ zusammengefasst war. Viele waren von der Schule oder anderen Instanzen geschickt und hatten aufgrund der bisherigen Erfahrungen und des bisherigen Verlaufs wenig Hoffnung auf Veränderung.
Das machten sie auch gleich in der Anfangsrunde der Multifamiliengruppe deutlich und so sollte es auch in den folgenden beiden Stunden bleiben.
Es schien fast so, als ob das auch so sein müsste und jedes „Mehr“ an Lösungsorientierung geradezu eine Zumutung wäre.
Einer der beiden Väter, die das Multifamilientherapie-Angebot nun schon länger kannten, erinnerte sich schnell an seinen ersten Termin in diesem Setting. Die aus der Türkei stammende Familie hatte sich mit ihrem 11-jährigen Sohn in eben einer solchen hilflosen und scheinbar ausweglosen Situation befunden und der Idee, nun mit vielen anderen Familien gemeinsam an Themen zu arbeiten, zunächst sehr wenig abgewinnen können. Mittlerweile hatte dieser türkische Vater jedoch die Erfahrung gemacht, dass sich in der Familie viele Themen hatten ansprechen und zum Teil auch klären lassen und sich die Symptomatik des Sohnes deutlich verändert und damit die gesamte Situation entspannt hatte.
Dabei hatte er besonders auch die Multifamilientherapie als hilfreich und wirksam erlebt.
So versuchte er in der besagten Sitzung nahezu alles, ja es glich einem „Werbefeldzug“ die anderen neuen Familien vom Sinn und den Möglichkeiten der Multifamilientherapie zu überzeugen. Dabei machte er viele Angebote, berichtete detailliert von den eigenen Erfahrungen usw.
Zunächst leider ohne Erfolg, denn die versammelte Familienschar verharrte in ihrer Überzeugung, dass es für sie sicher kein hilfreiches Setting sei.
Etwas enttäuscht ging dann also jener Vater nach Ende des Treffens neben mir zurück in Richtung Tagesklinik, wo anschließend immer ein Familien-Kaffeetrinken angeboten wurde. Nach einigem Schweigen, wandte er sich dann zu mir und sagte einen Satz auf türkisch, den ich nicht verstand, um ihn dann aber gleich zu übersetzen:
„Ach, Herr Hermans, man müsste für die Anderen die Hoffnung erfinden“.
Über diesen wunderbaren Satz sind wir dann nicht nur lange ins Gespräch gekommen und haben fast die gesamte nächste Multifamilientherapie zu diesem Thema gearbeitet; ich nutze ihn und diese schöne kleine Geschichte bis heute gerne als Titel und Auftakt für Vorträge und Workshops über Multifamilienarbeit. Besser und authentischer kann ich das Wirkprinzip nicht beschreiben.

20. Dezember 2012
von Tom Levold
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Das Training ist vorbei…!

Inge Liebel-Fryszer, Wolfgang Nöcker und Petra Girolstein (Foto: http://www.praxis-am-platz.de) waren im April dieses Jahres in China, um dort zusammen mit einem Team chinesischer Trainerinnen und Trainer eine Weiterbildung für 75 chinesische PsychiaterInnen und Psychotherapeuten zu leiten. Es handelte sich um das zweite von vier Seminaren innerhalb des„Fifth Chinese-German Advanced Training Program For Systemic Family Therapy“, ein Kooperationsprojekt der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie, dem Institute Of Mental Health Bejing University und dem Center Of Clinical Psychology Bejing University. Petra Girolstein macht heute das 20. Adventskalendertürchen mit einem Bericht vom letzten Seminartag auf:

Heute war der letzte Seminartag. Noch purzeln alle Eindrücke durcheinander. Am Anfang unsere Aufregung, die fremde Sprache, die große Gruppe, lectures auf Englisch! An jedem Tag gab es so viel Neues dass wir abends erfüllt und platt waren und uns erstaunt fragten ob wir wirklich erst ein, zwei oder drei Tage da wären. Die ersten lectures, der erste Abendvortrag, die erste Supervision, das erste Team mit den chinesischen Trainern, die erste Live-Familie! Wir drei, Wolfgang, Inge und ich, die erst eher zusammengewürfelt als abgestimmt schienen. In Deutschland hatten wir uns zweimal zur Vorbereitung getroffen, und in Bejing ging die Zusammenarbeit von null auf hundert los.
Es ist uns gut gelungen! JedeR von uns konnte seinen oder ihren Stil leben und auf den Support der anderen bauen. Kooperationsmomente klappten nahezu mühelos und wir hatten viel Spaß!
In der Mitte des Seminars erlebten wir eine Wende: Die Aufregung ließ nach, die Energie langsam auch. Es gab mehr Genuss auch während der Arbeit – und abends fielen wir halbtot ins Bett.
Die chinesischen Teilnehmer machten es uns leicht. Kaum hatten wir Bilder oder Metaphern angesprochen, wetteiferten sie darum sie zu kreieren. Rollenspiele oder Aufstellungsarbeit waren kein Problem sondern immer eine energetische Freude. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Weiterbildung wurde bei einer Live-Familie mit Skulpturen gearbeitet. Dass es das erste Mal war erfuhren Wolfgang und ich zum Glück erst danach.
Chinesen scheinen ihre Energie wie auf Knopfdruck nutzen zu können. Sie haben unglaubliche Talente beim Singen, Spielen und Erzählen – Letzteres brachte uns so manches Mal in die Bredouille, wenn wir den chinesischen Wortschwall stoppen wollten, nicht verstanden und deshalb keine Lücke fanden. Genauso schnell wie sie den Raum füllen verlassen sie ihn auch wieder, wie ein Spuk oder eine Erscheinung nach der man sich fragt ob man sie erlebt hat oder nicht.
Wir lernten unglaublich viel von chinesischer (Familien-) Geschichte der letzten Jahrzehnte und staunten über manch unerwartete Unterschiede. In diesem Land scheint so viel im Umbruch und in tiefgreifenden Veränderungsprozessen zu sein, dass die Verführung groß ist mitmischen zu wollen. Es gäbe so viel zu tun für Therapeuten, Sozialarbeiter und Beraterinnen! Doch wäre es wirklich mehr als bei uns oder nur anders?
Nun ist es Abend, fast Nacht. Wir waren in der Peking-Oper, ein irres Erlebnis an fremden Klängen und wunderschönen Stimmen. Die Klänge manchmal schrill für unsere Ohren, es fehlt die europäische Lieblichkeit. Hier gehen auch kleine Kinder und Jugendliche in die Oper, meist mit ihren Großeltern während die Eltern hinterherlaufen oder gar nicht da sind.
Das Gebäude ist imposant und ein architektonisches Wunderwerk. Von außen sehen wir eine riesige gläserne Kuppel. Innen schwappt ein See über die Glasdecke und und Rolltreppen führen in Stockwerke die mit einer Vielzahl an Materialien und immer neuen Formen und Winkeln gebaut wurden.
Nach der Vorstellung versuchten wir vergeblich ein Taxi anzuhalten. Schließlich fuhren wir zu dritt mit einer Rikscha durch die Nacht bis der Radfahrer an einer Kreuzung ein Taxi für uns ergatterte. Der Taxifahrer brauchte eine Weile um zu entscheiden ob er uns fahren könne – Beijing ist anscheinend zu groß um alle Stadtteile kennen zu können. Schließlich brachte er uns unter unserem Applaus ins Hotel. Die erste Nacht nach dem Seminar wartet.
Gute Nacht.

19. Dezember 2012
von Tom Levold
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Sich zeigen ist Gold, reden ist Silber…

Wie gestern ist auch das heutige Adventskalendertürchen eine Gemeinschaftsproduktion von Liane Stephan und Mohammed El Hachimi aus Bergisch Gladbach:

Ein Paar kommt zu uns in die Praxis.
Sie ist Deutsche, er Schwarzafrikaner. Sie haben miteinander zwei Kinder im Alter von drei und sieben Jahren. Sie kommen wegen vieler Streitigkeiten in der Erziehung ihrer Kinder.
Die Frau klagt: Mein Mann kennt Erziehung nicht. Er weiß nicht, wie man Grenzen setzen muss und was es heißt, Verantwortung zu übernehmen.
Der Mann erwidert: Ich verstehe nicht, was meine Frau meint. Ich erziehe die Kinder, ich achte auf sie. Auf die Frage, was denn beide unter Erziehung verstünden, antwortet die Frau, es ginge darum, den Kindern klare Wege aufzuzeigen und entsprechend Grenzen zu setzen und Herausforderungen zu stellen.
Der Mann betont dagegen, ihm sei wichtig, die Kinder unter sich spielen und einfach mitlaufen zu lassen, sie dürfen überall dabei sein, sie sind einfach da. Sie bräuchten keine spezielle Aufmerksamkeit.
Im weiteren Gespräch bitten wir die beiden, mit Hilfe der in der Praxis vorhandenen Gegenstände ein typisches Bild ihrer eigenen Kindheit aufzubauen.
Die Frau holt sich einen Stuhl und einen kleinen Tisch, sucht sich zwei Puppen aus und spielt auf dem Tisch ein Rollenspiel: Vater, Mutter, Kind. Sie sitzt dabei sehr aufrecht und akkurat.
Der Mann nimmt sich ein Seil und formt einen größeren Kreis daraus. Er legt sich auf den Boden, die Beine überkreuzt, die Hände hinter dem Kopf und schaut in die „Sterne“, den „Himmel“, hört,  wie die anderen Kinder mit einer Blechdose Fußball spielen, schreiende Babys …alles wirbelt Staub auf.
Nachdem sie erzählen konnten, welche Ressourcen in diesen beiden Bildern stecken und wie gerade diese Unterschiede die Kinder auch bereichern könnten, gibt es eine erste Annäherung an das gemeinsame Dritte.

18. Dezember 2012
von Tom Levold
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Die Geschichte von einem, der nach Hause kam…

Heute öffnen Liane Stephan und Mohammed El Hachimi aus Bergisch Gladbach gemeinsam das Adventskalendertürchen:

Ein kleiner vierjähriger Junge wird im Kindergarten wegen seiner Hautfarbe gehänselt. Die deutschstämmigen Eltern haben vor drei Jahren das Kind aus West-Afrika legal adoptiert. Er reagiert laut der Erzählung der Erzieher sehr aggressiv auf die Hänseleien. Er spucke und schlage um sich etc., wodurch andere Kinder gefährdet seien.
Den Eltern wird seitens des Kindergartens nahegelegt, für das Kind in einer Therapie oder einer anderen pädagogischen Einrichtung Unterstützung zu suchen. Die Adoptiveltern sind ratlos und glauben inzwischen nicht an eine Besserung. Sie haben schon alles mögliche versucht, mit der Kitaberaterin, mit den Eltern der anderen Kinder und mit den Erziehern ausführliche Gespräche geführt. Ein Kita-Wechsel komme für sie aus beruflichen Gründen nicht in Frage. Aber auch die Kita weiß sich nicht mehr zu helfen.
In der Therapie erklärt der Junge sein Verhalten mit den Worten:„sie ärgern mich und sagen ,Neger, Neger‘ zu mir und dann muss ich mich wehren“. Wir schlagen den Eltern ein Experiment vor: „Machen sie mit dem Kind in Westafrika eine Woche Urlaub und zeigen dem kleinen Jungen seine eigentliche Herkunft, jedoch sollten Sie auf keinen Fall die (allen dreien unbekannten) leiblichen Eltern suchen und treffen. Die Eltern sind einverstanden und führen die Reise wie vorgeschlagen durch.
Nach der Rückreise berichten sie Folgendes: Es sei fast ein Wunder geschehen… Dem Jungen ginge es gut in der Kita, er würde jetzt auch nicht mehr aggressiv reagieren.
Wenn die anderen Kinder ihn wieder mit dem Wort „Neger“ reizen wollten oder ansprächen, würde er antworten:„ja, ich war in Afrika, ich bin Afrikaner“.

17. Dezember 2012
von Tom Levold
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Küsse aus Brasilien

Roswitha Keicher ist die Integrationsbeauftragte der Stadt Heilbronn, in deren Diensten mehr als 45 kulturelle Mittler/innen übersetzen, vermitteln und über kulturelle Unterschiede in Heilbronn aufklären. Sie sind im Einsatz bei Beratungsgesprächen verschiedener Einrichtungen aus dem professionellen Feld der Sozialen Arbeit. Aus deren Alltag hier eine Begebenheit mit einer brasilianischen kulturellen Mittlerin für das heutige Adventskalendertürchen:

Wie immer saß die Kulturelle Mittlerin bereits vor dem eigentlichen Beratungsgespräch mit der Beraterin in deren Büro. Wie groß war die Verwunderung der Beraterin als die Klientin ins Büro hereintrat und die Kulturelle Mittlerin herzlich begrüßte, dabei umarmte und küsste. So eine Begrüßung würde in Deutschland nur eins  bedeuten: dass diese Menschen ganz enge Freunde sind.  Während des Gespräches übersetzte (zum großen Erstaunen der Beraterin) die Mittlerin dann neutral, kompetent und professionell. Keine Spur mehr von der vorherigen Emotionalität?! Die Beraterin war sichtlich verwirrt. Erst nach dem Gespräch fasste sie sich und fragte die Mittlerin, woher sie die Klientin so gut kenne?! Die Mittlerin war über diese Frage sichtlich überrascht und wollte wissen, wie die Beraterin darauf käme, woraufhin die Beraterin die Begrüßungssituation ansprach. Die Mittlerin lachte herzlich und erklärte, dass es in Brasilien beim Begrüßungsritual üblich ist, dass die Leute sich umarmen und fröhlich begrüßen – völlig unabhängig davon, ob man die Person persönlich kennt oder nicht. Beide waren erleichtert, dass es sich nur um ein kulturelles Missverständnis gehandelt hat, das zum Glück so schnell durch kompetente Aufklärung beseitigt werden konnte.
Informationen zu den kulturellen Mittler/innen über integration@stadt-heilbronn.de

16. Dezember 2012
von Tom Levold
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Mitmachen?

Edelgard Struß, systemische Supervisorin und Coach aus Köln, berichtet hinter dem heuten Kalendertürchen von einer Supervision in einem multikulturellen Team:

Supervision im 11köpfigen Team einer Institution, die Betreuung und Beratung für psychisch kranke Erwachsene anbietet: 9 deutsche Männer und Frauen, 2 türkische Frauen (sie sagen zu sich türkisch, obwohl sie beides sind, Deutsche wie Türkinnen). Eine deutsche Kollegin berichtet von einem Fall, einem jungen Mann, der seit zwei Jahren versucht, selbstständig in seinem Apartment zurechtzukommen. Sehr mühselig das Ganze. Die Eltern, griechische Türken, belagern ihren Sohn täglich und kümmern sich um alles. Am schlimmsten, sagt die Betreuerin, ist es, wenn ich mit den Eltern zu tun habe: sie fassen mich dauernd an, wenn wir reden, nicht zum Aushalten. Dieses  Anfassen geht eigentlich gar nicht für mich, Handgeben am Anfang und am Ende geht klar, aber dann ist Schluss.
In der Runde ist jetzt die Rede von der Übergriffigkeit der Eltern, distanzlosem Verhalten, Versuchen, die Betreuerin ins Familiensystem zu ziehen. Aber was habt ihr denn mit dem Anfassen! ruft eine türkische Kollegin. Das ist doch ganz normal! Die griechischen und türkischen Leute fassen sich dauernd an untereinander! Warum sollen sie euch nicht auch anfassen?! Ich versteh das nicht! Man blickt sich an in der Runde, einige sagen, ja, weiß ich auch nicht, dann wird das Thema fallen gelassen.
Die deutsche Kollegin erzählt weiter. Ganz eigenartig sei auch, wie es zu den Treffen in der Wohnung des jungen Mannes komme. Wenn ich mich mit ihm verabrede, sagt sie, muss ich ihn immer ein-zwei Stunden vor dem Treffen anrufen und nochmal Bescheid sagen, dass ich um soundso viel Uhr komme. Ohne diese zusätzliche Ansage, so behauptet der junge Mann, vergesse er den Termin. Tatsächlich, lacht die Betreuerin, habe ich selbst schon einmal vergessen, ihn vorher anzurufen und ihn dann nicht angetroffen.
Die Runde ist amüsiert über das Hin und Her der Vergesslichkeiten, findet aber, dass das eigentlich zu weit geht und dadurch das abhängige Verhalten des jungen Mannes gefördert werde. Irgendwie sei es aber wie ein Spiel, aus dem man nicht aussteigen kann, ohne dass etwas kaputt geht.
Ist doch ein Spiel, sage ich, machen Sie mit! Das nächste Mal rufen sie ihn vorher an und sagen: Hören Sie mal, wie ist das eigentlich, sind wir heute verabredet!?
Ja genau, sagt die türkische Kollegin, man muss mitmachen, wenigstens ein bisschen. Sonst geht es nicht.

15. Dezember 2012
von Tom Levold
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Psychotherapie kann so einfach sein. Eine interkulturelle Lernerfahrung

Heute ist Christian Zniva, Psychotherapeut in freier Praxis aus Linz in Österreich an der Reihe, ein Adventskalendertürchen zu öffnen:

Die Geschichte, die ich erzählen will,  stammt aus einem persönlichen Kontakt mit einem Priester aus Nigeria, der in Österreich seine Ausbildung zum Psychotherapeuten (Systemische Familientherapie) absolvierte. Meine Begegnung mit ihm fand in einer Veranstaltung zu dem Thema „Religion als Gegenüber, als Herausforderung und als Ressource für Psychotherapie“ statt. Beeindruckt hat mich die Einfachheit seines Vortrags. Zentraler Inhalt seiner Ausführungen war die Frage: „Wie kann man sich Psychotherapie in Nigeria vorstellen?“ Zwei Punkte, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind, möchte ich an dieser Stelle kurz wieder geben. Der erste bezieht sich auf das Thema „Setting“, der zweite auf das Thema „Methodik“. Zum Setting:  In Nigeria findet Psychotherapie immer in Anwesenheit der Familie statt.  Dem Aussprechen von Problemen in Anwesenheit der Familie und dem Bekenntnis eigener Verantwortung zur Problementstehung vor der Familie wird in Nigeria eine heilende Funktion zugeschrieben. Intimität und Verschwiegenheit werden im Gegensatz zu unserem Kulturkreis nicht als lösungsfördernde Rahmenbedingungen angesehen. Vielmehr wird die Anwesenheit von Familie und anderen relevanten Personen als Ressource genutzt, ja geradezu als Voraussetzung für das Gelingen von Psychotherapie angesehen. Zur Methodik: In Nigeria hat das Ritual eine zentrale Funktion in der Psychotherapie. Gefragt nach den psychotherapeutischen rituellen Handlungen, die in Nigeria Anwendung finden, antwortete der Priester: „In Nigeria ist das ganz einfach. Es gibt fünf Sachen, die der Seele gut tun: Reden, Weinen, Lachen, Tanzen und Singen.“ Auch wenn ich mich nicht der Illusion hingeben will, Weisheiten aus Nigeria 1:1 auf Psychotherapie in Zentraleuropa übertragen zu können, leitete ich zwei Aspekte für meine Arbeit aus dem Vortrag ab. Erstens: Ich denke auch bei erwachsenen Klienten öfter daran das Setting zu erweitern und Personen aus dem Herkunftssystem in die Therapie einzuladen. Zweitens: Auch wenn Probleme komplex erscheinen mögen, können Lösungen einfach sein.