systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

13. Dezember 2022
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2022 – 13. Sabine Klar

Das „Aber …“

Leben ist in seinem Wesen dadurch gekennzeichnet, dass es sich Hüllen baut, sich Schicht um Schicht dort umhäutet, wo etwas zusammen gehalten und zusammen gewoben und anderes abgeschirmt und draußen gelassen werden soll. Es werden Membranen, Häute, Gewebe, Grenzen unterschiedlicher Art gebildet. Das Veränderte wird entfernt, das Vorgesehene weiter erzeugt, das Unnötige ausgeschieden. Das einzelne Lebewesen muss geeigneten Abstand wahren, sich von seiner Umgebung abschirmen und sich ihr gleichzeitig dosiert öffnen. Die Unterscheidungen zwischen Innen und Außen, dem Dazugehörenden und dem Fremden, dem Bewahrenswerten und dem Aufzulösenden sind auch im sozialen und geistigen Bereich eine ständige Aufgabe, die dazu dient, das vertraute Eigene zu erhalten und trotzdem beweglich zu bleiben. 

Ich persönlich lerne gerade an den „Rissen und Beulen“ meiner Welt besonders gut. Dort wo ich nichts mehr verstehe, wo mich etwas stört, wo andere sich nicht meiner Erwartung gemäß verhalten, wo ich mit mir unzufrieden werde, zeigt sich, wie ich meine Welt bislang konstruiert habe und was mir daran wichtig war. Es zeigt sich an diesen Stellen auch, wo Erweiterungsnotwendigkeiten meiner Perspektiven bestehen. Grundsätzlich vermitteln mir systemische Zugänge dabei Vertrauen und Hoffnung, denn … 

  • irgendetwas ist immer gut so wie es ist – bei allem Veränderungsfähigen und Veränderungsbedürftigen gibt es Dinge, Abläufe, Elemente von Situationen, Lebenslagen oder Personen, die so bleiben sollen, wie sie sind. 
  • ich habe bereits viele Fähigkeiten, die ich zur Bewältigung von Situationen brauche – ich muss mir dessen nur bewusst werden. Das gilt für mich genauso wie für die anderen. 
  • ich muss nicht selbst alles zu Ende verstehen – es verändert sich ständig etwas. Menschen sind andauernd damit beschäftigt, ihre Lebenslagen zu gestalten, Situationen haben ihre Eigendynamik – ich kann mich für beides interessieren und daran Anteil nehmen.
  • ich muss nichts ganz alleine lösen – die Menschen, mit denen ich zu tun bekomme, helfen mir dabei, zu begreifen. 
  • es geht oft bloß um den nächsten Schritt und darum, die Veränderungen zu bemerken, die dieser kleine Schritt hervorgerufen hat oder die durch ihn möglich geworden sind. 

Die Fähigkeit, mit mir selbst in Beziehung zu treten und mich in den Blick zu bekommen, ermöglicht mir den Eindruck einer gewissen Freiheit und Gestaltungsfähigkeit. Ich kann entscheiden, welche meiner Empfindungen, Impulse und Gedanken ich mit dem Ehrentitel „Ich“ versehen und welche ich als bloß externe Einflussfaktoren betrachten will. Dann kann ich aus der Kraft meines eigenen Wollens bzw. meines eigenen Guten heraus handeln und in meinem sozialen Umfeld klarer erkennbar werden. Bei allen Unwägbarkeiten des Lebens und aller Ungewissheit der Zukunft schafft mir ein gutes Selbstverhältnis einen inneren Bezugspunkt, an dem ich Beheimatung finde. So denken und handeln zu können, wie es mir selbst entspricht, hilft mir auch in meiner Angst – ich bleibe dann sozusagen Herrin meiner Lage und vertraue mir.

Leider treffen manche Ereignisse trotzdem meine wunden Punkte. Dann kommt mir meine Welt plötzlich fremd und bedrohlich vor, so als sei sie ein Feind, der in meine Burg eindringt und dort Chaos und Verwirrung stiftet. Menschen und gesellschaftliche Dynamiken erscheinen mir dumm, ignorant, zerstörerisch und ich würde am liebsten davonlaufen, den Kopf in den Sand stecken oder auf sie dreinschlagen. In solchen Situationen gerate ich aus dem Gleichgewicht, werde misstrauisch, komme mir selbst befremdlich vor, kann mich auch sozial nicht mehr vermitteln und fühle mich alleine und ausgesetzt. Ich vergesse, dass ich auch hier, zumindest in kleinen Bereichen, Gestalterin meiner Situation bin. 

In solchen Momenten taucht manchmal etwas auf – tief in mir drinnen oder in den Worten der Menschen rund um mich herum. Es ist das „Aber …“ hinter jedem bösen Eindruck, hinter jedem schmerzlichen Ereignis, hinter jeder schlimmen Geschichte – das „Aber …“, das Hoffnung erlaubt, Vertrauen schafft, Widerstand ermöglicht, die Stimmung hebt. Dieses schwer beschreibbare „Aber …“ vermittelt mir etwas trotzig Kindliches und sehr Lebenskräftiges – selbst wenn ich, nach seiner Begründung gefragt, oft keine Worte und klugen Gedanken finde und mir zuweilen angesichts der Tatsachen lächerlich damit vorkomme. Wenn ich es wahrnehme und darauf vertraue, öffnet sich etwas – es wird alles ein wenig leichter, freier, heller, so als ob ein Sonnenstrahl durch eine dunkle Wolkendecke bricht. Ich atme tiefer und merke, wie verschlossen und hart ich vorher war. Ich nehme Unterstützung an und gehe auf andere zu. Dieses „Aber …“ durchdringt mich selbst in meinen dunkelsten Momenten. Es lenkt meinen Blick auf das Wesentliche, auf das was in dieser Lage gut tut, auf das was ich wirklich will. Es hilft mir, mich besser zu behandeln, die Stimmen und Geister in meinem Hirn zu unterscheiden, Boden unter die Füße und den Kopf über Wasser zu bekommen. Es bringt mich vor allem dazu, das „ichende“ Kreisen um mich selbst zu beenden, mich und die anderen wahrzunehmen, wie wir halt sind, und mir bewusst zu werden, wie sehr wir einander gerade in schlimmen Lebenslagen brauchen. Die Welt erscheint dann plötzlich voll kleiner „Aber …“ – und sie leuchtet wieder.

12. Dezember 2022
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2022 – 12. Kurt Ludewig

Otro sueño … ein weiterer Traum

Das Thema des Adventskalenders 2022 – „systemische Zuversicht“ – rief in mir verschiedene Assoziationen hervor, von denen ich hier über eine berichten möchte. Sie betrifft ein Gespräch, das ich vor vielen Jahren mit einer relativ jungen Frau führte. Sie hatte sich in einen wesentlich älteren Mann verliebt und wollte ihn heiraten. Unter anderem damit konfrontiert, dass er vermutlich lange vor ihr sterben und sie verlassen würde, antwortete sie in aller Gelassenheit, dass sie gerade deshalb vorhabe, ihre gemeinsamen Jahre besonders intensiv zu gestalten, denn wer könnte sagen, wie lang dieser Zeit tatsächlich sein würde. Ich fasste diese Antwort als resignativen Optimismus auf, als eine Form von widersprüchlicher Zuversicht angesichts des vermutlich Unveränderbaren.

Während ich mit diesem Thema befasst war, hörte ich von einer jungen Klimaaktivistin im Fernsehen, die wegen der protestierenden Beschmutzung von Bildern in Museen scharf kritisiert wurde, dass sie auch die Kunst schätzte und sich deshalb wünsche, dass auch ihre Kinder später einmal in der Lage sein könnten, schöne Bilder in Museen zu betrachten. Angesichts aber der unmittelbar bedrohlichen klimatischen Veränderungen sei es gar nicht sicher, dass sie bis dahin überleben und die schönen Künste würden genießen können. Deshalb würde sie ihre ganze Kraft daraufsetzen, den Klimakollaps aufzuhalten. Wenn man es so will, könnte man diese Äußerung als widerstrebenden Pessimismus verstehen und so auch als eine Form von widersprüchlicher Zuversicht.

Beide Situationen wirkten auf mich beispielhaft für zwei der Möglichkeiten, die wir haben, mit der aktuell vielfältig bedrohlichen Lage umzugehen. Denn für beide Frauen ging es um den Umgang mit einem befürchteten Ende und um Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken. Die eine akzeptierte zwar den anscheinend unweigerlichen Endzustand, war aber entschlossen, die verbleibende Zeit möglichst intensiv zu nutzen. Die andere war nicht bereit, das bedrohliche Ende kampflos hinzunehmen, sondern wollte mit allen Mitteln versuchen, es aufzuhalten. 

Beim Nachdenken über diese beiden Strategien, die auf den ersten Blick gegensätzlich wirken, offenbarte sich mir jene sehr menschliche Art der Auseinandersetzung mit existenzieller Bedrohung, die weit über ein bloßes Leugnen hinausreicht und als ein “Dennoch” bzw. ein letzten Endes optimistischer Trotz auftritt. Frage ich mich nun, was dem zu Grunde liegt, fällt mir die wohl menschlichste aller Haltungen, nämlich die der Liebe, ein.

Die eine Frau hält trotz allem aus Liebe zu ihrem Lebenspartner, die andere ist um die Liebe zu den Menschen und dessen Habitat besorgt, mitunter auch um die eigene Nachkommenschaft. Nicht zuletzt geht es beiden auch um die Liebe zu sich selbst und den ihren.

Es bleibt zu fragen, ob diese beiden Bewältigungstrategien beim allem vordergründigen Widerspruch sinnvollerweise zu vereinbaren sind.

Es muss uns doch möglich sein, unsere Lebensspanne möglichst intensiv und liebevoll zu gestalten und erleben, zugleich aber bereit zu sein, die für die fortdauernde Existenz unserer Welt notwendigen Veränderungen auch dann anzugehen, wenn sie mitunter Verzicht und spürbare Einschränkungen beinhalten.

Sind wir Menschen weise genug, diese beiden Strategien sinnvoll zu vereinbaren, ohne die eine gegen die andere auszuspielen oder zu missachten? Lieben wir uns und unsere Umwelt so sehr, dass wir gegenüber der klimatischen Bedrohung bereit sind, der bequemen Lethargie des Leugnens und Verdrängens zu trotzten und so tatkräftig zu überwinden?

Persönlich will ich die Hoffnung auf die menschliche Weisheit nicht aufgeben, auch dann nicht, wenn dies nicht viel mehr als ein Traum wäre.

In diesem Sinne möchte ich an die Worte meines Landsmanns Pablo Neruda anschließen, der schrieb:

Así traigo cada mañana de mi vida del sueño otro sueño

 <So bringe ich an jedem Morgen meines Lebens aus dem Traum einen weiteren Traum>

11. Dezember 2022
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2022 – 11. Rudolf Klein

(Foto: Barbara Schmidt-Keller)

Lose Gedanken zur Zuversicht

Mit der Zuversicht geht es mir wie es Augustinus mit der Zeit ging. Dieser schrieb: „Was also ist ‚Zeit‘? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht“ (Augustinus 1989, S. 311).
Zuversicht steht für die feste innere Überzeugung, dass sich Dinge positiv entwickeln und bezieht sich insofern auf die Zukunft. Nun wissen wir spätestens seit Augustinus, dass sich die Zukunft lediglich als Erwartung in der Gegenwart zeigt. Da helfen auch keine Ziel-, Zukunfts- und Wunderfragen. Die Zukunft erscheint als gegenwärtige Zukunft, nicht aber als zukünftige Gegenwart. Wir wissen über die Zukunft nichts Genaues, sie bleibt ungewiss und vage.

Zuversicht ist daher eher mit Begriffen wie Glaube, Vertrauen und Hoffnung verwandt statt mit Wissen oder gar Gewissheit. Der große Unterschied besteht darin, dass Glaube, Vertrauen und Hoffnung Entscheidungen voraussetzen, Wissen und Gewissheit hingegen nicht. Wenn gewiss wäre, dass es Gott gibt, bräuchten wir nicht mehr zu glauben. Wir wüssten es ja. Wenn wir wüssten, dass sich Vertrauen auf jeden Fall bewahrheitet, bräuchten wir nicht zu vertrauen. Wie wüssten es. Wenn es gewiss wäre, dass das Erhoffte auf jeden Fall eintritt, bräuchten wir weder Hoffnung noch Zuversicht. Wir wüssten es. 

Wissen und Gewissheit nehmen uns Entscheidungen ab, Zuversicht hingegen setzt, ähnlich dem Glauben, dem Vertrauen und der Hoffnung Entscheidungen voraus mit denen man die Komplexität der zukünftigen Entwicklung reduzieren kann – freilich ohne je wissen zu können, welchen Ausgang diese haben werden.  

Zuversicht ist daher mit Unsicherheit, Skepsis, Nichtwissen und Zweifel verbunden. Das kann man bedauern. Aber im Zweifel, in der Skepsis, im Nichtwissen liegt die Basis unserer Freiheit. Die Freiheit nämlich, entscheiden zu können – um den Preis des Irrens, der Unsicherheit, des Zauderns, der Angst. 

Und genau an solchen Lebens- und Entscheidungspunkten wäre es schön, im schlichten Sinne zuversichtlich sein zu können oder jemanden zu finden, der einem diese Zuversicht vermittelt, verspricht, besser noch: garantiert. Dafür kann man Personal rekrutieren und das wird auch getan: Lebenspartner, Lehrer, Mediziner, Priester, Kartenleger, Astrologen, Versicherungen und nicht zuletzt Therapeuten. Geht man als Therapeut darauf ein, hält man letztlich Illusionen von Sicherheit, Kontrolle, Unverletzlichkeit und Normalität aufrecht, die konsequent Vagheit, Unsicherheit, Unberechenbarkeit, Instabilität, Vieldeutigkeit des Lebens und Zufälle leugnen. 

Mir scheint es hingegen sinnvoll, mit Mut Klienten die Tatsache des Nichtwissens zuzumuten und mit ihnen eher darüber zu sprechen, was sie an ihren gegenwärtigen Lebensumständen ändern möchten, womit sie nicht mehr einverstanden sind, was nicht bleiben soll, wie es ist. Und ob sie bereit sind, für das Ergebnis ihrer Überlegungen das Risiko einer Veränderung auf sich zu nehmen. Ein Risiko, das darin besteht, nicht wissen zu können, wie das Ergebnis einer Änderung (und einer Nichtänderung) sein wird. Dass es zwar Wünsche und Hoffnungen hinsichtlich des Ziels geben mag, diese aber nicht garantiert werden und selbst mit den differenziertesten Überlegungen nicht vorausgesagt werden können. Der „Sprung“ muss gewagt werden – oder eben nicht. Natürlich kann das verunsichern, ängstigen und ein Zögern und Zaudern nach sich ziehen. Die Zumutung bleibt aber bestehen, würdigt die existenzielle Dimension eines solchen Entscheidungsprozesses, reflektiert Zuversicht und relativiert Machbarkeitsvorstellungen. 

Aber es gibt neben dem „Schweren“ des Risikos und des Wagnisses noch eine andere Erlebensmöglichkeit: die Neugierde und Lust an der Entdeckung der eigenen Freiheit, die sich in der „Möglichkeit für die Möglichkeit“ (Kierkegaard 2005, S. 488) zum Ausdruck bringt und eine Veränderung attraktiv machen kann. Und dies gerade dadurch, dass man von Hoffnung und Zuversicht absieht zugunsten der Entdeckung eigener Entscheidungsmöglichkeiten. Nichts muss bleiben wie es ist. Diese Lust kann die Angst vor einem Sprung mildern, da der Wert der Freiheit deutlicher in den Vordergrund gerückt wird. Wohlgemerkt: mildern, nicht (auf)lösen. 

Literatur:

Augustinus (1989): Bekenntnisse. Stuttgart. (Reclam).

Kierkegaard (2005): Der Begriff der Angst. München (DTV).

10. Dezember 2022
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2022 – 10. Christian F. Michelsen

„C’est avant d’éclore que la rose porte toute son epérance. –
Es ist vor dem Erblühen, dass die Rose ihre ganze Hoffnung hegt.“

Diesen Brief überbrachte mir gestern ein Marokkotourist. Der Schreiber, Ismail A. entstammt einer zwölfköpfigen Hirtenfamilie aus dem Anti-Atlas Jbel Saghro. Er selbst hat sechs Söhne mit seiner Frau Rkya. Seit knapp dreißig Jahren beobachte ich aus der Ferne und gelegentlichen Nähe die Entfaltung von Visionen und die Umsetzung von fruchtbaren Prophezeiungen von vier Generationen: Nicht nur überleben, sondern mit Brot, Wasser, Bettdecken, Dach, Milch und mitunter sogar Honig, last not least lesend und schreibend – in drei bis vier bis fünf Sprachen – zu leben. Sind da intrinsische Muster, die verbinden am Werk? Ohne ein bewusstes, aber dennoch unwillkürlich umgesetztes Motto à la Kant „Ich kann, weil ich will, dass ich muss“?  Vollständige Erklärungen sind und bleiben unverfügbar. Wie die der
espérance, die die Rose hegt. Wunderbar!

Herzliche Grüße aus Bremen von
Christian Michelsen

8. Dezember 2022
von Tom Levold
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Niklas Luhmann am OVG Lüneburg. Zur Entstehung der Systemtheorie

Heute würde Niklas Luhmann 95 Jahre alt. 2021 ist ein von Timon Beyes, Wolfgang Hagen, Claus Pias und Martin Warnke herausgegebener Tagungsband erschienen, der sich mit der Frühzeit von Luhmanns Werk auseinandersetzt und von Dirk Baecker im Magazin soziopolis rezensiert wurde. Die genannten Medienhistoriker der Leuphana Universität „hatten zu einer Tagung in die Räumlichkeiten des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg eingeladen, in denen Luhmann von Dezember 1954 bis Januar 1956 als Regierungsassessor nach dem Jurastudium in Freiburg seine ersten Jahre beruflicher Praxis verbrachte. Zwar war nicht mehr auszumachen, in welchem Büro Luhmann einst gesessen hat, und auch alle von ihm bearbeiteten und mit Anmerkungen versehenen Akten waren längst vorschriftsmäßig vernichtet, aber durch einen glücklichen Zufall existiert noch heute Luhmanns Personalakte mit der Beschreibung seiner Aufgaben sowie der Bewertung seiner Arbeit durch seine Vorgesetzten“. „Ein Leitgedanke der Tagung war es, die ,Genese der Systemtheorie aus dem Verwaltungshandeln eines Gerichts‘ nachzeichnen zu können. Schon Jahre zuvor war von den Kulturwissenschaftler:innen Albrecht Koschorke und Cornelia Vismann der Verdacht geäußert worden, die Systemtheorie sei eine Variante ,sozialtheoretischer Reinheitsexerzitien’, deren ,hygienisches’ Interesse an Grenzregimen in eklatantem Widerspruch zur Existenz von Grauzonen rings um Grenzphänomene und Grenzkonflikte stehe. Diese Spur griff die Tagung auf, kam damit jedoch nicht sehr weit. Wie die einladenden Medienhistoriker in ihrer Einleitung des Bandes resümieren, drängte sich eher der Eindruck auf, dass Luhmann schon als Assessor ,außerordentlich intelligent mit Gegensinn’ umzugehen verstand“. Der vollständige Text dieser lesenswerten Rezension ist hier als PDF zu lesen…

8. Dezember 2022
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2022 – 08. Dennis Gildehaus

Kleine Anmerkung des Herausgebers: Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin, ich bedanke mich bei allen Einsendungen, die den diesjährigen Adventskalender so schnell wie noch nie gefüllt haben. Ich bitte nun von weiteren Einsendungen abzusehen und hoffe, Sie haben Freude an den Texten und Bildern. Und nun zum Beitrag von Dennis Gildehaus:

„Hoffnung – auch in schwierigen Zeiten!“

Vieles scheint ver-rückt zu sein und immer häufiger scheinen Resignation, Stagnation und Pessimismus in den Fokus zu geraten. Auch in meiner mehr als 20-jährigen Tätigkeit in der Jugendhilfe, Jugendpsychiatrie und eigener familientherapeutischen Praxis gab es etliche Momente der Besorgnis um die Kinder und Jugendlichen unserer Zeit. In den meisten Fällen waren die Besorgten Jugendämter, Lehrkräfte, BetreuerInnen, Eltern, ÄrztInnen etc. 

Die Kinder und Jugendlichen hingegen schienen immer entspannter zu sein und vor allem „taumelten“ sich nicht so sehr nach einem belastenden Ereignis wie die Erwachsenen. Sie ließen die Dinge mehr auf sich zukommen und machten sich nicht so viele Gedanken um zukünftige Szenarien. 

In unzähligen systemischen Gesprächen habe ich diese Phänomene untersucht und auf den Prüfstand bzgl. Resilienz und Vulnerabilität gestellt. Stets ressourcen- und lösungsorientiert habe ich unter Anwendung des Reflektierenden Teams (großer Dank an Tom Anderson) ohne Einwegscheibe faszinierende Momente erleben dürfen. 

Auch wenn viele Klienten Schwierigkeiten damit hatten, ihre eigenen angewendeten Lösungsstrategien zu begründen oder bewusst zu reaktivieren, so war es immer wieder eine Art Intuition, die ihnen verholfen hat, schwierige Situationen zu meistern.

In all den Jahren habe ich gelernt, dass ich dieser Intuition vertrauen darf…und vielleicht sogar muss?! Dies bestätigt sich im Alltag immer wieder dann, wenn ich Kontakt habe zu „Ehemaligen“ – sie bekommen ihr Leben geregelt! Und dies oft besser, als von den „Großen“ prognostiziert.

Ich denke, dass gerade in der schwierigen Zeit, die wir alle in unterschiedlichsten Intensitäten erleben, eine Art „unbewusste lösungsorientierte Intuition“ in uns schlummert, die uns weitermachen und auch ankommen lässt…

Das Bild ist spontan entstanden! Erst Tage später habe ich gesehen, dass eine Biene intuitiv auf dem scheinbar richtigen Weg war…  

6. Dezember 2022
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2022 – 06. Wolfgang Loth


Aussichten und Zuversicht –

Im November 1944 heirateten meine Eltern, Kriegshochzeit, ihre Aussichten waren unsicher, ihre Zuversicht alleine getragen von einem Glauben. Ihr Hochzeitsbild hängt über meinem Schreibtisch. Ich frage mich, was systemische Zuversicht sein soll. Zuversicht meint ja wohl ein Vertrauen darauf, dass etwas eintreffen wird, was man sich wünscht, erhofft, herbeisehnt. Ein Ausschnitt aus dem vielen Möglichen wäre das, worauf sich Zuversicht richtet. Und was wäre dann mit systemischen Perspektiven, die letztlich bedeuten, es könne immer auch anders sein? Er gehe davon aus, dass eher eines von dem Vielen eintreten werde als eins von dem Wenigen, lässt Gregory Bateson den Vater zu seiner Tochter sagen in seinem Metalog darüber, warum Sachen durcheinander kommen. Das Durcheinanderkommen als Ausdruck davon, dass das Erwünschte, Erhoffte, Ersehnte nicht so wahrscheinlich ist, wie das andere, das Befürchtete, das über einen Hereinbrechende, oder auch das langweilig und alltagsgrau vor sich Hinschlappende. Und so nähere ich mich der „systemischen Zuversicht“ eher über eine Vorstellung, systemisch habe es eher mit „tapfer“ zu tun als mit „mutig“, eher mit „Rücksicht“ als mit „Volldampf“, eher mit der Erkenntnis, dass im dynamischen Wirbel des Lebendigen die Ruhe die Ausnahme ist. Und dass es wenig nützt, mit Gewalt anzugehen gegen diese Wirbel, aber auch wenig nützt, sich darin aufzugeben. Dass es also helfen kann, sich im Wirbel zu finden und wenn es gut geht, sich miteinander zu finden, miteinander die Farbe im Grauen zu sehen, und so dem eher Wenigen aus dem Vielen, dem Erhofften beizustehen und zu helfen, es wirklich werden zu lassen. Glück wäre dann die gelegentliche Erkenntnis, dass das sinnvoll war. Zuversicht wäre dann eine Patin für dieses, eine Begleiterin, ein Lichtschein, der im Grauen die Farbe leuchten lässt. Und „systemisch“? Ja, auch, wieso nicht.

Wolfgang Loth (Niederzissen)

5. Dezember 2022
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2022 – 05. Martin Rufer

Systemische Zuversicht 

heisst Vertrauen

heisst tun oder lassen, was möglich ist

Wir Menschen haben einen beispiellosen Tsunami des Verschwindens losgetreten, der uns schon zu Lebzeiten die Energien raubt, spätestens aber  mit dem Wissen um den eigenen Tod zu einem Ärgernis, oft aber  auch zur Erlösung wird.  „Das führt unweigerlich zu einer Theologie, die sich seit Jahrhunderten darauf spezialisiert hat, dem skandalösen Verschwinden von Menschen durch ihren biologischen Tod  mit einem theoretischen Überbau und Versprechen zu begegnen“ (P.Blom). Diesem Ärgernis, in christlicher Tradition – geleitet von weihnächtlichen Visionen und österlichen Tröstungen – zu begegnen,  ist nachvollziehbar. Im Wissen, dass Transzendenz  ja nicht etwas für Phantasten ist,  Energien sich erhalten, auch wenn Aggregatszustände sich verändern, bleibt es trotzdem fraglich, ob und für wen „systemische Zuversicht“ denn Sinn macht, gleichsam als säkulare Tröstung gegen der Zerfall. Ich für meinen Teil, in der Begegnung mit mir selber, dem/den andern und der Natur im Allgemeinen,  lasse mich – sozusagen immanent – leiten von der Erfahrung und vom Wissen,  dass es sich lohnt zu vertrauen. 

4. Dezember 2022
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2022 – 04. Bernd Schmid

Bin ich hoffnungsvoll?  (Seid Ihr hoffnungsvoll?)

Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut geht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht. (Vaclav Havel)

Ich gebe zu, ich habe diese Frage gemieden. Dadurch, dass ich mich ernsthaft mit unserer heutigen Situiation auseinandergesetzt habe, ist aber eher mehr Sinn und Hoffnung in mir entstanden.

Vielleicht liegt es auch an meinem protestantischen Hintergrund: Wenn ich also wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich – nein! Keine Kreuzfahrt machen- sondern wie Luther einen Apfelbaum pflanzen.

Und was noch? 

Das möchte ich mit der Heidelberger Lyrikerin Hilde Domin sagen:

Nicht müde werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.

Jetzt erleben wir, wie brüchig unser Leben in geordneten und sicheren Bahnen ist. Hilft da die größere Perspektive?: Leben war immer gefährdetes Leben. Und Leben und Aufbruch im Angesicht apokalyptischer Entwicklungen und in der Angst vor übermächtigen Kräften ist eigentlich schon immer die Conditio humana gewesen. Das ist wohl wahr. Aber hilft es, selbstverständlich gewordene Anspruchshaltungen loszulassen. Gibt es Hoffnung? Weckt es Mut?

Allmählich kommt Angst auf. Das ist gut, wenn auch Angst allein bekanntlich kein guter Ratgeber ist. Wir greifen zu Hausmittelchen:

Etwa den Spruch: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. « Ein Zitat aus Hölderlins Hymne Patmos, der Insel, auf der Johannes seine apokalyptischen Visionen niederschrieb.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Das tröstet schon irgendwie. Doch stimmt das für uns? Hat es für die unzähligen ausgestorbenen Arten und Zivilisationen gestimmt?

Zu groß ist immer wieder die Versuchung, angesichts der übermächtig erscheinenden Herausforderungen hinter die Front zu flüchten, mental, emotional und räumlich. Da liegt der Rückzug auf das Luxusdeck und in die Bars der Titanic nahe. Genial-törichte Vereinfachungen und Polarisierungen helfen, uns angemessenen Auseinandersetzungen mit uns selbst und anderen über unsere Lebensweise zu entziehen. Das heißt aber leider auch, dass immer wieder Unruhe gestiftet werden muss, wenn nicht genug geschieht oder scheinbare Auswege keine Lösung sind.

Aus dem isb-Sprüche-Büchlein: Glück und Unglück haben eines gemeinsam: Meist kommt nicht soviel wie man erwartet. Wäre schön, wenn das diesmal auch gelten sollte. Vielleicht geschieht in Sachen Aufbruch ja auch schon viel mehr als schon erkennbar wird. Bekanntlich macht ein fallender Baum mehr Lärm als ein wachsender Wald. Hoffentlich zeigt sich bald mehr und mehr der wachsende Wald.

Also Balance halten zwischen Skepsis und Hoffnung. Nur Hoffnung geht nicht!

3. Dezember 2022
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2022 – 03. Clemens und Ute Lücke

Gedanken und Bilder aus unserer Praxis im Herbst

Zuversicht in diesen Zeiten, auch in diesem Herbst, zu verbreiten, ist die Aufgabe. 

Der Weg ist auch herbstlich und läd zur Erkundung ein. Wir Therapeuten können den Krieg nicht ändern. Wir sind aber vor Ort, um immer wieder zu erinnern, dass wir nur in Gemeinsamkeit und im Gespräch den Frieden fördern können.

Ute Oessenich-Lücke und Clemens Lücke 

Tanz- und Familientherapeuten

im Advent 2022

2. Dezember 2022
von Tom Levold
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systemagazin Adventskalender 2022 – 02. Jan Bleckwedel

„Mitten im Winter“

Das Motto Systemische Zuversicht freut mich sehr, schließt es doch direkt an einen Artikel von mir im Kontext an. Wir haben hier in Bremen im März spontan ein kleines Unterstützungsprojekt für geflüchtete ukrainische Kolleg:innen ins Leben gerufen. Olha, Viktoria, Marina, Svitlana und Julia bieten in unseren Praxisräumen muttersprachliche psychologische Begleitung und Stabilisierung für geflüchtete Frauen aus der Ukraine an, sie erhalten ein kleines Honorar für ehrenamtliche Tätigkeit aus Spendengeldern (das nicht abgezogen werden kann), und wir organisieren gemeinsame Intervision. So ist wenigstens ein kleiner „haltender Rahmen“ entstanden. Wenn wir, die „Nativ-Bremer“, mit den Kolleginnen zusammensitzen, werden die kaum aushaltbaren Bilder des irrsinnigen Vernichtungskrieges der russischen Armee in der Ukraine durch „ganz normale menschliche Begegnungen“ überblendet und korrigiert. Das tut uns allen gut, und für eine Weile geht es mir wie Albert Camus, „mitten im Winter habe ich erfahren, dass es in mir und ZWISCHEN UNS einen unbesiegbaren Sommer gibt“ (Einfügung J.B.). Das destruktive Potenzial in und zwischen uns können wir nicht leugnen, doch diese Erfahrung nährt in mir die Überzeugung, dass WIR ALLE uns, egal woher jemand kommt, egal welche Sprache jemand spricht, egal wie sich jemand identifiziert oder nennt, oder wo jemand, wie Rio Reiser singt, gerade pennt, in unserem tiefsten Inneren nichts anderes wünschen als Freiheit, Sicherheit und ein gutes Zusammenleben.