systemagazin

Online-Journal für systemische Entwicklungen

29. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

Michael White (29.12.1948 – 4.4.2008)

Heute wäre Michael White 65 Jahre alt geworden – schade, dass wir ihm dazu nicht mehr gratulieren können. Zum Geburtstag bringt systemagazin einen Artikel von Michael White mit dem Titel„Narrative Practice and the Unpacking of Identity Conclusions“, der 2001 in „Gecko: A Journal of Deconstruction and Narrative Ideas in Therapeutic Practice“ erschienen ist, (Heft 1, S. 28-55). Der Artikel beginnt mit einer ausführlichen Fallgeschichte, dann kommt Michael White darauf zu sprechen, was mit dem „Unpacking of Identity Conclusions“ gemeint ist: „Externalizing conversations, like the one I have just described, represent just one possibility of many in a range of narrative practices. They are by no means a requirement of narrative therapy and, in fact, externalizing conversations are very often absent in my own work with the people who consult me. But they can be very helpful in the unpacking of some of the very negative identity conclusions that people bring with them into therapy.“
Zum vollständigen Text…

28. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

1. Europäische Systemische Forschungstagung 2014 in Heidelberg

Die Systemischen Forschungstagungen in Heidelberg haben mittlerweile eine gute Tradition. Dabei haben sich schon auf den vergangenen Tagungen nicht nur deutschsprachige systemische Forscher, sondern auch Gäste aus dem Ausland wie Peter Fonagy, Guy Diamond, Charlotte Burck oder Peter Stratton getroffen. Nach mittlerweile sechs„Systemischen Forschungstagungen“ wird nun vom 6.-8. März in Heidelberg die erste„Europäische Systemische Forschungstagung“ veranstaltet, wie zuvor wieder unter der bewährten Tagungsorganisation und -leitung durch Jochen Schweitzer, Matthias Ochs und ihrem Tagungsteam. Dieses Mal sind u.a. folgende ReferentInnen zu hören: Russel Crane, Arlene Vetere, Peter Stratton, Maria Borsca, Rolf Sundet, Helmut Rainer, Charlotte Burck, Johannes Rüegg-Stürm, Imelda McCarthy, Jaakko Seikkula, Kirsten von Sydow, Rüdiger Retzlaff, Howard Liddle, Wolfgang Tschacher, Thomas Fuchs, Rudi Dallos, Arist von Schlippe, Gunthard Weber, Peter Rober, Günter Schiepek, Alan Carr, Harald Gündel und viele andere. Wer angesichts dieser geballten Ladung von Wissen und Kompetenz nicht nach Heidelberg kommt, ist im übrigen selbst schuld. Auch die Ausrede, es sei mit dem Englischen so schwierig, taugt nicht mehr, nachdem die Veranstalter entschieden haben, dass alle Hauptvorträge und größten Symposien (die in der Aula der Neuen Uni) von zwei professionellen Simultandolmetscherinnen kontinuierlich übersetzt werden. Damit wird auch für KollegInnen, die ihren Englischkenntnissen nur begrenzt trauen, diese Tagung leicht zugänglich.
systemagazin bringt an dieser Stelle ein Interview, das Jochen Schweitzer der Geschäftsstelle der Systemischen Gesellschaft vor einiger Zeit zur Tagung gegeben hat:

SG: Im nächsten Jahr findet vom 6. bis 8. März 2014 eine Internationale Systemische Forschungstagung in Heidelberg statt – welche Themen werden im Vordergrund stehen?
JS:

Der Titel lautet ja „Systemische Praxis und Forschung miteinander verknüpfen.“ Die Idee ist, dass wir schauen, welche Fragen, die sich aus systemischer Praxis ergeben, in der Forschung bearbeitet werden können. Dies sind vor allem 3 Ebenen: Ergebnisforschung: Damit wollen wir den Kostenträgern zeigen, dass Systemische Therapie und Beratung sinnvoll ist. Prozessforschung: Was wirkt? – Die Bearbeitung dieser Frage soll Anregungen für die Weiterentwicklung systemischer Herangehensweisen geben. Fragen, die sich Praktiker_innen stellen, durch Forschung beantworten. Wir werden 6 Themenstränge haben: Forschung durch Praktiker_innen, Wirksamkeits-/Ergebnisforschung, Theoriekonstruktion und qualitative Forschung, Managementforschung, Forschung in Sozialarbeit und –pädagogik, Europäische Politik und europäische Forschungsvernetzung. Als Eröffnungsredner wird Russel Crane aus Utha, USA, über Kosten-Nutzen-Forschung in der Systemischen Therapie sprechen. Er forscht auf Grundlage riesiger Datenmengen aus US-amerikanischen Managed-Care-Systemen und weist nach, dass die Kosten mit Hilfe der Systemischen Therapie deutlich sinken gegenüber der Nutzung individualtherapeutischer Ansätze. Außerdem wird es Vorträge von namhaften Personen geben, wie Jaakko Seikkula: Er führt im Rahmen einer europäischen Arbeitsgruppe (zusammen mit SG-Mitglied Maria Borcsa, Peter Rober aus Belgien u.a.) fallorientierte Forschung zum Prozessverlauf in Systemischer Therapie durch. Alan Carr aus Dublin, Irland, über die Integration unterschiedlicher systemtherapeutischer Ansätze, Maria Borcsa über Systemische Therapie in nationalen Gesundheitssystemen in Europa sowie Arlene Vetere & Rudi Dallos zu narrativen Forschungsansätzen.

SG: Warum sollten Fachleute aus der systemischen Praxis in ihrer knappen Zeit gerade eine Forschungstagung besuchen?

JS: Sie ist für all diejenigen interessant, die sich selber von Forschung für ihre Praxis etwas versprechen würden. Ich sehe diese Hauptgründe für die Teilnahme von Praktiker_innen an der Tagung: Zum einen die Weiterentwicklung und Verbesserung der eigenen Praxis. Dafür könnten Praktiker_innen Forschungsmethoden verwenden. Da bietet zum Beispiel Maja Heiner mit dem Konzept der Selbstevaluation einen interessanten Ansatz: Ich stelle mir selber Fragen zu meiner eigenen Arbeit. Welche Prozesse sind gut gelaufen, welche nicht? Wie kann ich das in guter systematischer Weise überprüfen? Zum anderen stellen sich Professionelle in Institutionen die Frage: Wir haben eine Zielgruppe, die wir nicht versorgen, sie kommen nicht – was müssten wir tun, um diese Gruppen zu gewinnen? Schließlich gibt die Tagung Anregungen für die Frage: Wie können wir die Art, wie wir Supervision durchführen, zugleich als Qualitätsmanagementsystem nutzen? Praktiker_innen können sich kundig machen, wie man den Nutzen der eigenen Arbeit Dritten gegenüber, also z.B. Arbeitgebern oder Versicherungen, deutlich machen kann.

SG: Können Sie in aller Kürze sagen, was als Systemische Forschung verstanden werden kann? Ist damit die Beforschung systemischen Arbeitens gemeint oder eine systemische Herangehensweise an Forschungsgegenstände?

JS: Beides. In erster Linie die Beforschung von sozialen Systemen, in denen Systemische Therapeut_innen und Berater_innen arbeiten. Erforscht wird die Frage: Was passiert in Beratungs- und Therapieprozessen? Strittig ist, inwiefern es systemische Forschungsmethoden gibt, die von anderen Forschungsansätzen ebenfalls benutzt werden. Es gibt eine Forschung, die an Komplexität orientiert ist und sich für Nebenwirkungen interessiert, die nicht meint, dass sie Ursache-Wirkung sehen kann, sondern komplexe andere Dinge – aber diese Forschung gibt es auch in anderen Ansätzen.
Spezifische systemische Forschung würde ich für eine Engführung halten. Es gibt Forschung systemischer Praxis und systemisch orientierte zirkuläre Forschungsmethoden, aber keine reine systemische Forschung im dogmatischen Sinne (zu der Frage ausführlich s. Matthias Ochs, Jochen Schweitzer (Hg.) 2012: Handbuch Forschung für Systemiker. Göttingen).

SG: Die systemische Forschungstagung findet ja schon seit längerem alle 2 Jahre als deutschsprachige Veranstaltung statt, wird vom Institut für Medizinische Psychologie der Heidelberger Universität organisiert und von den Verbänden SG und DGSF unterstützt. Warum wird die nächste Tagung 2014 international organisiert und warum wurde dafür die EFTA als Konferenzpartner mit ins Boot geholt?

JS: Die Idee kam 2010 zustande, als Peter Stratton, der Vorsitzende der Forschungskommission der EFTA, aus Leeds auf der Forschungstagung in Heidelberg war. Dahinter stand die Erfahrung von der EFTA-Tagung 2004 in Leipzig, auf der viele interessante Kooperationen zustande kamen, von denen man zum Teil heute noch zehrt. Die Forschungen von Arsen zu Paartherapie bei Depressionen, von Ivan Eisler zu Multifamilientherapie bei Magersucht und viele andere Untersuchungen wurden vorgestellt, die in Deutschland vorher nicht bekannt waren. In der Folge wurden verstärkt interessante Referent_innen nach Deutschland geholt.

SG: Die EFTA ist ja auf den (Familien-) therapeutischen Bereich fokussiert. Ist die Tagung dann für andere Berufsgruppen, z.B. Coaches, überhaupt von Interesse?

JS: Die Tagung wird deutlich stärker auf Systemische Therapie fokussiert sein, sie wird aber über die ganze Zeit jeweils einen kompletten Strang in Managementforschung enthalten. Arist von Schlippe wird zu Familienunternehmensforschung referieren, Johannes Rüegg-Stürm aus St. Gallen zum Management von Expertenorganisationen. Es wird weitere Referent_innen geben, die noch nicht endgültig feststehen. Überhaupt entwickeln sich zurzeit noch viele weitere Angebote.

PS: Kurzentschlossene, die sich noch bis zum 31.12. anmelden, zahlen nur 190,00 s
tatt der am dem 1.1.2014 fälligen 220,00 € Gebühr.
Alle weiteren Informationen gibt es hier…

26. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

DGSF-Forschungspreis 2014

 

Die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) schreibt – im jährlichen Wechsel mit der Systemischen Gesellschaft (SG) – einen Forschungspreis aus. Der DGSF-Forschungspreis ist mit 3000 Euro dotiert.
Mit dem Preis soll eine Forschungsarbeit ausgezeichnet werden, die einen innovativen Beitrag zur Weiterentwicklung systemischer Forschung leistet. Dies ist möglich durch ein neuartiges methodisches Design, durch eine spannende Verknüpfung von systemischer Theorie und Methode, durch anregende Theoriebildung und -entwicklung oder durch überzeugende Impulse für die systemische Praxis. Die Forschungsarbeiten können sich auf alle Felder systemischen Arbeitens beziehen und Fragen zur Therapie, Beratung, Supervision, Mediation, Coaching oder Organisationsberatung, aber auch weitere systemisch relevante Themenstellungen bearbeiten. Es können systematisch aufbereitete Einzelfallstudien, Versorgungs-Studien, Prozess- oder Outcome-Studien ebenso wie manualisierte Therapiestudien vorgelegt werden. Möglich sind auch theoretische Arbeiten, die über die Aufarbeitung vorhandener Theorien zu neuen Theoriekonzeptionen führen.
Prämiert werden in erster Linie Arbeiten aus dem deutschen Sprachraum, bevorzugt von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern. Neben rein universitären Arbeiten sind auch Forschungsarbeiten von Praktikerinnen und Praktikern zur Einsendung erwünscht. Die Arbeit soll noch nicht oder nicht vor dem 1. Juli 2013 veröffentlicht worden sein. Die Entscheidung über die Preisvergabe trifft unter Ausschluss des Rechtsweges ein Gremium, in dem Gutachterinnen und Gutachter mehrerer Disziplinen vertreten sind.
Einsendeschluss für den DGSF-Forschungspreis 2014 ist der 28. Februar 2014. Bitte senden Sie die Arbeit in vierfacher Ausfertigung an die Geschäftsstelle der DGSF. Die Preisverleihung erfolgt auf der DGSF-Jahrestagung vom 6. bis 8. Oktober 2014 in Friedrichshafen/Bodensee. Die DGSF ist ein berufsübergreifender Fachverband. Er fördert systemisches Denken und Handeln vor allem im psychosozialen Bereich und in der Wissenschaft und sichert die Qualität systemischer Weiterbildungen. Mit mehr als 5000 Mitgliedern ist die DGSF einer der größten Verbände für Beratung und Therapie in Deutschland.

Einsendungen werden erbeten an den Geschäftsführer der DGSF.

DGSF-Geschäftsstelle
Bernhard Schorn
Jakordenstraße 23
50668 Köln
 

26. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

Wiltrud Brächter: Geschichten von Kindern als Ausgangspunkt eigenen Schreibens

Und hier, wie angekündigt, der letzte Teil des diesjährigen Adventskalenders, beigesteuert von Wiltrud Brächter aus Köln:

Gelesen habe ich immer schon gern und viel, auch geschrieben habe ich zu verschiedenen Anlässen gerne. Dass ich begonnen habe, über Psychotherapie zu schreiben, lag an dem besonderen Feld, in dem ich hier tätig bin: der Kindertherapie. Seit Beginn meiner Arbeit als Spieltherapeutin war ich fasziniert davon, wie Kinder ihre Erfahrungen im Spiel und in eigenen Gestaltungen ausdrücken. Meine Aufgabe als systemische Therapeutin sah ich darin, sie dabei zu unterstützen, Szenen weiterzuentwickeln und sich Lösungen zu erspielen. Sandbilder, vom Problemerleben des Kindes bestimmt, gerieten in Bewegung, wenn Kinder sie „weiter spielten“; stereotypes Rollenhandeln konnte sich auflösen, wenn es in den Kontext einer Handlung eingebettet wurde und ich dem Kind als Gegenüber zur Verfügung stand. Spieltherapie wurde in dieser Ausrichtung zu einer Arbeit an Geschichten, zu narrativer Therapie.
Ich war beeindruckt von der literarischen Qualität, die in vielen der von mir mitverfolgten Geschichten zum Ausdruck kam, teils bereits in Formulierungen während des Spielgeschehens, oft noch pointierter, wenn Kinder mir ihre Geschichte am Schluss der Stunde zum Mitschreiben diktierten. Begonnen hat mein Schreiben über Therapie in solchen Momenten in der Rolle der Sekretärin. Oft gab es in der Endfassung von Geschichten noch einmal neue Wendungen und Lösungsideen; durch den gebräuchlichen Einstieg „Es war einmal…“ wurden schwierige Lebensereignisse zudem vom Kind selbst der Vergangenheit zugeordnet. Gemessen am Metaphernreichtum und an der Fantasie, die viele Geschichten der Kinder durchzogen, erschienen mir therapeutische Geschichten für Kinder von Erwachsenen meist eher flach und eindimensional, zu offensichtlich darauf ausgerichtet, eine Botschaft zu transportieren. Erzählungen der Kinder ließen sich nicht so leicht entschlüsseln wie therapeutische Geschichten eines Protagonisten, der in die Welt hinaus zieht, Schwierigkeiten überwindet und gestärkt aus seinen Abenteuern hervorgeht. Selbst entwickelte Geschichten der Kinder waren häufig vielschichtiger, gaben verschiedenen Aspekten ihrer Person Raum, enthielten zahllose Schleifen und Umwege und besaßen eine Symbolik, die sich einem direkten Transfer in die äußere Realität widersetzte.
Zum Schreiben kam ich zunächst, indem ich Geschichten der Kinder für sie notierte, um sie ihnen zum Abschluss der Therapie zur Verfügung stellen zu können. Das Aufschreiben machte es möglich, flüchtige Momente im Spiel einzufangen, Erfahrungen von Ausnahmen und neuen Möglichkeiten Raum zu geben und wichtige Handlungsschritte noch einmal hervorzuheben.
Konzentrierte sich meine Arbeit zunächst auf den Raum der Einzeltherapie, begann ich später, diese Geschichten zu veröffentlichen: zunächst gegenüber den Eltern, die durch sie oft einen vertieften Zugang zum emotionalen Erleben ihres Kindes gewinnen konnten, anschließend auch in der Fachöffentlichkeit, da mir der therapeutische Gewinn der narrativ orientierten Arbeit zu hoch erschien, um ihn KollegInnen nicht zugänglich zu machen. Bis heute finde ich es hoch spannend, einen Bogen zwischen den Geschichten der Kinder und therapeutischen Hintergrundkonzepten zu schlagen. Ging es mir zunächst darum, Methoden der systemischen Therapie mit der jeweiligen Spielhandlung zu verknüpfen, interessieren mich zurzeit vor allem ein Ego-State-orientierter Blick auf das Spielgeschehen und die Möglichkeit, Kinder und Eltern zur Entwicklung gemeinsamer Geschichten anzuregen. Je nach dem, welchen theoretischen Fokus ich verfolge, sehe ich unterschiedliche und immer wieder neue Aspekte in den Spielhandlungen der Kinder und greife sie auf unterschiedliche Art und Weise auf – ein Prozess, der vermutlich noch einige mir unbekannte Wendungen bereit halten wird.
Wer auf Geschichten und Gedichte von Kindern in therapeutischen Kontexten neugierig geworden ist, findet sie u. a. hier: I. Hesse u. H. Wellershoff (1997): „Es ist ein Vogel – er kann fliegen im Text“: Kinder schreiben sich ihre Geschichten von der Seele. Tübingen (Attempo).

25. Dezember 2013
von Tom Levold
1 Kommentar

Peter Müssen: Wirklichkeit gleich Beziehung – Die Geschichte vom Holzpferd

Liebe Leserinnen und Leser des systemagazin,

eine Weile hatte ich Sorge, ob ich den diesjährigen Adventskalender füllen kann, aber dann haben mir doch so viele Kolleginnen und Kollegen mit ihren Beiträgen geholfen, dass der Kalender mal wieder überfließt. Die beiden verbleibenden Beiträge können Sie also heute und morgen hier lesen. Den Anfang macht Peter Müssen aus Köln, hier sein Beitrag:

Als ich die Einladung von Tom für ein Adventskalendertürchen bekam, dachte ich sofort  an seinen Artikel aus dem Jahr 2000 in ‚System Familie‘ über„149 Bücher aus dem letzten Jahrhundert, die systemische Therapeuten und Therapeutinnen auch zukünftig nicht vergessen – beziehungsweise noch lesen – sollten“
In dem zauberhaften Film von Nora Ephron„Julie & Julia“  kocht Julie die Liste aller 524 Rezepte des großen Kochbuchs von Julia Child„Mastering the Art von of French Cooking“ für Amerikanerinnen nach. Ganz ähnlich habe ich mich vor über 10 Jahren an Toms Liste für Systemiker_innen heran gemacht. An beiden Listen habe ich mich in den letzten Jahren gerne abgearbeitet, ohne sie jedoch zu bewältigen.
Wenn ich jetzt aber sagen soll, welche Texte mir wichtig sind und welche Texte ich in meiner Arbeit gerne nutze (nach den Rezepten hat Tom mich ja nicht gefragt), dann sind es nicht die großen und wichtigen Bücher in meinem Bücherschrank (die sicherlich im Hintergrund wirken), sondern eher kleine Geschichten, Gedichte, Märchen und Erzählungen.
Eine dieser Geschichten möchte ich hier im Adventskalender gerne erzählen; und auch meine Geschichte mit dieser kleinen Geschichte.
Ich besuchte Ende der 70er Jahre einen Studienkollegen, der sich wegen einer persönlichen Krise im Vianney-Hospital in Überlingen am Bodensee aufhielt. Mein erster Kontakt mit einer Psychiatrie.
Seit vielen Jahren lebte dort schon Heinrich Spaemann als geistlicher Rektor. Er ist der Vater des Philosophen Robert Spaemann. Aufgewachsen in einem evangelischen Elternhaus studierte er Kunstgeschichte und trat aus der Kirche aus. Zusammen mit Ernst Bloch war er Redaktionsmitglied der Sozialistischen Monatshefte. Nach seiner Heirat mit der Tänzerin Ruth Krämer wurde 1927 Robert geboren und beide traten in die katholische Kirche ein. Nach dem frühen Tod seiner Frau 1936 studierte Heinrich Spaemann Theologie und wurde 1942 von Clemens August Graf von Galen in meiner Heimatdiözese Münster zum Priester geweiht.
Jeden Abend hielt er einen Gottesdienst in der Kapelle der Klinik und dabei hielt er sich vor allem nicht an die Grundregel für katholische Prediger: Du kannst über alles reden, aber nicht über 10 Minuten. Heinrich Spaemann saß dabei aus Altersgründen auf einem Stuhl und sprach – mindestens 30 Minuten lang. Gleich am ersten Abend erzählte er die Geschichte vom Holzpferd im Kinderzimmer:“Das Holzpferd – so heißt es – lebte länger im Kinderzimmer als irgend jemand sonst.Es war so alt, dass sein brauner Stoffüberzug ganz abgeschabt war.Es war in Ehren alt und weise geworden …
‚Was ist wirklich?‘ fragte eines Tages der Stoffhase, als sie Seite an Seite in der Nähe des Laufställchens lagen. ‚Bedeutet es, Dinge in sich zu haben, die summen und mit einem Griff ausgestattet zu sein?‘
‚Wirklich‘, antwortete das Holzpferd, ‚ist nicht, wie man gemacht ist. Es ist etwas, was an einem geschieht. Wenn ein Kind dich liebt für eine lange, lange Zeit, nicht nur um mit dir zu spielen, sondern dich wirklich liebt, dann wirst du wirklich.‘
‚Tut es weh?‘ fragte der Hase.
‚Manchmal‘, antwortete das Holzpferd, denn es sagte immer die Wahrheit. ‚Wenn du wirklich bist, dann hast du nichts dagegen, dass es wehtut.‘
‚Geschieht es auf einmal, so wie wenn man aufgezogen wird?‘
‚Es geschieht nicht auf einmal, du wirst langsam. Es dauert lange. Das ist der Grund, warum es nicht oft an denen geschieht, die leicht brechen oder die scharfe Kanten haben oder die schön gehalten werden müssen. Im allgemeinen sind zur Zeit, da du wirklich sein wirst, die Augen ausgefallen; du bist wackelig in den Gelenken und sehr hässlich.
Aber diese Dinge sind überhaupt nicht wichtig; denn wenn du wirklich bist, kannst du überhaupt nicht hässlich sein, ausgenommen in den Augen von Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben.‘
‚Ich glaube, du bist wirklich‘, meinte der Stoffhase. Und dann wünschte er, er hätte das nicht gesagt – das Holzpferd könnte empfindlich sein. Aber das Holzpferd lächelte nur …
„Dass uns nicht so sehr ausmacht, welche Eigenschaften, Fähigkeiten oder Qualitäten wir vorzuweisen haben, sondern viel mehr, in welchen Beziehungen wir leben und welcher Art diese Beziehungen sind, das war für mich damals eine wichtige Erkenntnis.
Erst später habe ich mich dann mit„relationaler Ontologie“,„sozialen Systemen“, Konstruktivismus u.ä. beschäftigt und gesehen, wie viele der 149 Bücher aus Toms Liste sich für mich wie in einer Mind-Map mit dieser kleinen Geschichte vom Holzpferd verbinden.
Ich habe damals in Überlingen übrigens nicht den Mut gehabt, dem alten Heinrich Spaemann zu sagen, wie stark ich seine Wirklichkeit gespürt habe. Er hätte ja empfindlich sein können …

24. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

Andreas Wahlster: Lesen und Denken und was wird mehr?

Ende der Siebziger (vergangenes Jahrhundert!) wurde die beschauliche Welt (m)einer kleinen Fachhochschule für Sozialarbeit und Religionspädagogik in der Südwest-BRD von einer sechsköpfigen Gruppe von Studentinnen und Studenten ordentlich aufgerüttelt, vielmehr als durch die schon zum Alltag gehörenden unzähligen Demos, Sit ins, Vollversammlungen und sonstigen politischen Aktionen damals. Die KommilitonInnen hatten eine Gruppenarbeit geschrieben, die sich mit der pragmatischen Kommunikationstheorie von Paul Watzlawick auseinandersetzte und zudem anhand dessen fünf Axiome die Kommunikation in der Hochschule (natürlich kritisch) beleuchteten. Das war mal was, eine echte Abwechslung in Einerlei der Vorlesungen und wenn es zudem noch kräftig was zu kritisieren gab am Lehrbetrieb, hatte das schon mein Interesse geweckt. Dass ich nicht mal wusste, wer Watzlawick ist (bei der damals aktuellen Bundesligatabelle hätte ich deutlich mehr punkten können) habe ich tunlichst wie so viele andere verschwiegen und heimlich bewunderte ich die KommilitonInnen, dass sie sich mit so schwierigen Theorien befassten.
Und doch sollten noch einige Jahre ins Land gehen, bis mich die nächste systemische Infektion befiel. Eines Tages in den Achtzigern ( immer noch vergangenes Jahrhundert) fand ich mich in einem prall gefüllten Hörsaal ( nein, diesmal keine studentische Vollversammlung) der medizinischen Psychologie an der Uni Heidelberg wieder. Die damals auch noch ziemlich jungen Wilden namens Fritz Simon und Gunther Schmidt boten eine Vorlesung mit dem Thema: Einführung in die systemische Familientherapie oder so ähnlich an. Ich arbeitete damals als Sozialpädagoge in einer psychiatrischen Klinik und war zunehmend neugierig auf die Arbeit mit Familien. Ausgestattet mit viel Engagement und stabilem Unwissen, wie Familientherapie „ so überhaupt funktioniert“ , besuchte ich die Vorlesung. Und was musste ich sehen: Loriotfilme! Was, bitte schön, hatte das mit Familientherapie zu tun? Ich war ziemlich sauer, fühlte mich kräftig verarscht und verließ vorzeitig den Hörsaal. Aber die Auswirkungen waren nicht mehr zu vermeiden, es war um mich geschehen. Kollegen, die schon systemisch sattelfester waren, erzählten was von Neutralität, was mich gleich wieder in den Widerstand trieb: „Ich bin nicht neutral“. Als politisch denkender Mensch mit reichlich Demonstrationskompetenz und Kreativität beim Fertigen von Sandwiches, Plakaten und Flugblättern war ich um das Formulieren von eindeutigen Statements selten verlegen und nun das. Meine Entscheidung, die Familientherapie-Weiterbildung ( dass diese auch systemisch ausgerichtet war, realisierte ich im 1. Seminar) zu machen, geriet wieder ins Schwanken. Ach und die viele Fachliteratur ( da standen tatsächlich mehr als fünf Bücher auf einer ersten Literaturliste) –  fast vergessen.
Doch meine Neugier machte mir einen Strich durch die Rechnung, die Bücher ließen sich immer weniger leicht auf die Seite schieben, zumal ich weitere Bücher erwarb.  So begann ich mehr zu lesen, mehr zu verstehen und parallel mit Familien zu arbeiten, Fehler zu machen und fast unmerklich zu lernen. Gleichwohl waren die Lücken noch erheblich und wohlmeinende Freunde haben sich getraut, mir das zu sagen. Denn mittlerweile war ich zum Lehrtherapeuten geworden und jetzt hatte ich den Salat. Also: Lesen und Denken und was wird mehr? Die Neugier und die Lust auf Bücher, Gespräche mit Kollegen und Freunden quer durch die Berufe – um mit Peter Fuchs zu sprechen, es wird transdisziplinär. Und das Schreiben? Ich habe damit begonnen, mit Spaß und Passion, neue Ideen entstehen und ein wohliges Gefühl, etwas verstanden zu haben, obwohl die Lücken nicht weniger, sondern mehr werden. Das Suchen geht weiter…

23. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

Dörte Foertsch: Lieber Tom…

lesen und schreiben in Deinem Adventskalender ist in diesem Jahr für mich eine besondere Herausforderung, also so eine Sache, weil ich mich zwar zu den gerne Lesenden zähle, aber nicht zu sehr zu den Schreibzugehörigen von Büchern oder Zeitschriften und Artikeln. Ich schreibe gerne Briefe, am liebsten noch mit Füller und auf büttenem Papier, wundere Dich bitte nicht über einen Adventskalenderbeitrag auf meine Art. Ich mag es, in Dialogen Ideen und Gedanken zu entwickeln, aber auch den Streit und den Widerspruch. Die großartigen Briefwechsel über Kunst, Politik, Kultur, z.B. Christa Wolf und Franz Fühmann, Clara Schumann mit Johannes Brahms, Goethe mit Bettina von Arnim, Heiner Müller und Alexander Kluge, Günter Gauss und Willi Brandt, diese Art der Dialoge sind wertvoll, weil sie sich im und durch das Gespräch entwickeln.
Wie könnten wir das in unserer Szene mehr initiieren?
Ich versuche einen bescheidenen Dialog mit Dir über Lesen und Schreiben.
Du liest schnell. Ich nehme beim Lesen jedes Wort beim Wort, damit komme ich nicht gut voran. Könntest Du mir beim Lesen helfen oder soll ich es wortwörtlich lassen? Ich glaube, ich habe ein zu therapeutisches Ohr beim Lesen, wie lässt sich das abstellen?
Viel schlimmer ist aber meine Schreibhemmung. Ich versuche ein anonymes Gegenüber zu erreichen und bin zu sehr auf eine anerkennende und neugierige Reaktion angewiesen um in einen Schreibschwung zu kommen. Sagst Du, das sei ein eklatanter Fehler? Sollte ich beim Schreiben mehr an mich denken?
Außerdem würde ich gerne mehr Lyrik in die Systemische Literatur bringen, die bleibt dann Phantasien überlassen und darf wie Kunst interpretierbar bleiben, nach dem Motto: ist das Kunst oder kann das weg?
Könnten wir uns einfach mehr erzählen, was wir so in der Begegnung mit fremden Menschen erleben, mit denen so vertrauenserfüllte Dialoge entstehen? Könnten wir uns mehr im Schreiben erstreiten und nicht nur Behauptungen aufstellen?
Lieber Tom, Dein Adventskalender ist für mich schon angefangene Therapie, ich lese jeden Tag hinter einem Türchen eine Idee, eine Geschichte und komme trotzdem morgens rechtzeitig zur Arbeit und habe das Lesen in meinem Tempo geschafft. Größer allerdings ist die Auswirkung auf  meine Schreibhemmung, ich traue mich einfach, für Deinen Adventskalender drauf los zu schreiben. Du und die anderen AutorInnen haben schon so eine Art Familienzugehörigkeit entwickelt und ich traue mich dabei zu sein.
Lieber Tom, vielen Dank für Deine Idee mit dem Adventskalender, den lese ich gerne und schreibe gerne dafür.
Aber es kommt noch besser, unsere Redaktionssitzungen für Kontext haben erheblich dazu beigetragen, mit meinen Problemen besser klar zu kommen. Ich trainiere das Lesen von Artikeln und schaue Dir insgeheim zu, nach welchen Kriterien Du sie liest und Rückmeldungen gibst. Das musste ich jetzt einmal verraten. Leider verstärkt das mein Problem mit dem Schreiben – obwohl ich weiß, wie sorgfältig und textsicher Du Menschen hilfst, gute Artikel zu schreiben.
Diese gemeinsame Redaktionsarbeit ist wohltuend, weil die Telefonkonferenzen sich in Grenzen halten und die persönlichen Begegnungen verbunden mit gutem Essen bei Dir inspirierender sind. Du bist ja so ein medialer freak, trotzdem ersetzt kein Medium die persönliche Begegnung.
Hab ich Dich jetzt wieder genervt?
Als ich gefragt wurde, beim Kontext mitzuarbeiten, bin ich fast vom Hocker gefallen, denn ich hatte  außer meiner Diplomarbeit bis dahin nichts außer Briefen und Tagebuch geschrieben. Hinter dieser Anfrage, so wurde der Überredungsversuch erklärt, steckte der Wunsch, jemanden aus der praktischen Arbeit dabei zu haben, schließlich ist dies eine Zeitschrift für so viele Praktiker. Diese Leute aus der Systemischen Szene lassen nichts aus!
Mir scheint aber, außer mir gibt es noch mehr KollegInnen die womöglich ähnliche Probleme mit dem Schreiben haben. Lieber Tom, was sollten wir tun, eine schreibende Selbsthilfegruppe gründen?
Wie bekommst Du das eigentlich hin, wahrscheinlich brauchst Du weniger Schlaf und mehr Kaffee?
Ich habe mich in eine Nische gerettet, in der ich so rubrikartiges Zeug schreibe, aber manchmal komme ich mir da auch blöd und unseriös vor.
Aber ich möchte noch auf Deine Frage nach den prägenden Büchern eingehen.
Für meine Arbeit in Beratungen und Therapien gibt es ein ganz wichtiges Buch von Tom Andersen mit dem Titel „Das Reflektierende Team“. Mich hat die Idee überzeugt, unseren Klienten unsere Hintergedanken nahe zu bringen, die dann automatisch keine mehr sind. Die Idee der Reflektion in Gegenwart der Menschen um die es gerade geht fand ich revolutionär und gleichzeitig so einfach. Seither genieße ich es geradezu, mit Klienten einen sehr offenen und gleichberechtigten Austausch zu suchen, nichts von oben herab zu tun, den Dialog auf Augenhöhe zu führen. Und es ist kein Zufall, dass mir dieses Buch jetzt einfällt.
Die Tom`s haben es wohl in sich, das mit der Haltung, es soll keine Zufälle geben?
Ich habe Tom Andersen bei einer Tagung in Osnabrück erleben dürfen. Die Überschrift hieß   „Fragen über Fragen“. Während der zwei Tage gab es zwei Sitzungen in denen Tom Andersen ein Gespräch mit einer Familie und ihren Therapeuten führte. Mich hat dabei beeindruckt, wie ernsthaft er sich selbstkritisch unterbrach, wenn er als Fragender doch zu therapeutisch wurde und damit in Konkurrenz zu den Therapeuten geriet. Dieses Phänomen hatte er in dem Buch über das Reflektierende Team beschrieben, aber ich konnte ihn nun life miterleben und hatte seine Idee verstanden. Das reflektierende Team sollte nicht die besseren Ideen haben sondern im Sinne der kybernetischen Erkenntnisse das Beobachtete ohne Wertung in Worte fassen. Bücher sind also eine Sache, die Autoren zu erleben ist eine ganz andere.
Lieber Tom, noch eine andere Frage, würdest Du Bücher wegwerfen? Und wenn nach welchen Kriterien? Es gibt doch auch schlechte Literatur und überflüssige Fachbücher, wenn Du mal einen Adventskalender mit dieser Überschrift hättest wäre ich sicher wieder dabei.
Nun packe ich weiter die Bücherkisten für den erneuten Umzug und die letzte Frage versteht sich vielleicht von selbst.
Ich wünsche Dir einen prall gefüllten Adventskalender und dann eine ruhige Zeit.
Gibt es eigentlich systemische oder familientherapeutische Literatur zum Thema Weihnachten und familiäre oder betriebliche Bewältigungsstrategien von diesem eigenartig überladenen Thema diese Zeit möglichst harmonisch über die Bühne zu bringen obwohl das doch häufig ausartet und im Desaster enden kann? Warum bleibt diese Stimmung den Familien vorbehalten und bekommt so wenig Öffentlichkeit im systemagazin?
Liebe Grüße
Dörte

P.S. Literatur im weitesten Sinne handelt doch immer von Menschen, ihren Kommunikationen, Beziehungen, Missverständnissen und Lösungen, bisher hat meine Sachbearbeiterin beim Finanzamt alle Bücherquittungen als Fachbücher akzeptiert.

22. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

Ulrich Schlingensiepen: Nah-Distanzen

Im Jahr 2000 zeigt die Staatsgalerie Stuttgart die Ausstellung des Stuttgarter Künstlers Platino: „ Nahdistanzen“. Es erscheint ein Katalog und ich sehe die Dinge viele Jahre später gedruckt vor mir, die ich in den 80er Jahren an den verschiedenen Orten in der Stadt, in Museen und Wohnungen, selbst erlebt habe. Platino nennt seine Kunst „Red Space 1“, „Space 2“ und „Space 3“. Es sind Malerei und Fotografien, seine sogenannten Externs, die alle Elemente eines Raums, Wände, Boden, Decke, Fenster etc. und die sich darin befindlichen Dinge des täglichen Gebrauchs in verschiedene Rottöne einfärben. Er zerlegt Räume in ihre Einzelteile, baut Rohre, Kabelstränge und andere Zuleitungen aus und verbindet das darunter Sichtbare neu, mit Tüchern und Leim und Farbe. So bearbeitet er verschiedene Wohnungen in der Stuttgarter Innenstadt. Innen und Außen werden vollständig aufgelöst, er verwirft, legt frei, baut und deutet um. Die Perspektiven verändern sich, nichts bleibt wie es ist und ist im nächsten Augenblick nicht mehr das, was es war, wird neu.
Ich fand das alles sehr beeindruckend  und hatte keine Ahnung von dieser Art  Perspektivenverschiebung, Irritation und Erweiterung des eigenen Erfahrungspotentials. Viele Jahre später begleite ich viele Open Space Großgruppenkonferenzen, welch ein Zufall.
Ende der 80er Jahre lerne ich Heinz Kersting kennen, Supervisor und Professor in Aachen. Ich war gerade mit meiner Supervisonsausbildung fertig und wir trafen uns in Hannover, wo er mit Barbara Hamann einen Workshop durchführte. Heinz hatte immer seinen Bücherkoffer dabei, Aluminium mit oben liegendem Klappmechanismus. Wer ihn kannte, erinnert sich sicher an seine Vertriebsfertigkeit. Völlig unspektakulär, nicht inszeniert, aber der Bedeutung eine andere Bedeutung verleihend und immer schmunzelnd: „hier, lies mal, das wird dir gefallen…“. Zwei Bücher waren es: Zum einen „Irritation als Plan – Konstruktivistische Einredungen“ von Theodor Bardmann, Heinz Kersting, Christoph Vogel und Bernd Woltmann sowie „Kommunikationssystem Supervision – Unterwegs zu einer konstruktivistischen Beratung“ von Heinz Kersting. Die Kunst spricht nicht, aber die beiden Bücher konnten dies. Sie hatten eine Sprache für das, was ich nicht ausdrücken konnte aber präsent war. „Space 1 – Space 3“ wirken weiter. Meine Fotografien von heute sind ähnlich. Sie entstehen im „Raum“ eher ungewollt, sie sind nicht inszeniert sonder sie passieren. Sie ereignen sich in einer Bewegung, im Innehalten, beim Arbeiten oder im Vorbeigehen im Raum. Was sich nicht ausdrücken lässt, zeigt sich. Und so kann es weitergehen.

21. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

Lothar Eder: Wer schreibt der geht: warum Lesen und Schreiben manchmal in Tabubereiche führt

Es gibt im Alltag Konstanten, auf die man sich verlassen kann. Zum Beispiel, dass es im Winter kälter wird. Oder dass bei einer Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaft Italien gegen uns immer gewinnt. Oder dass man, wenn man in systemischen Foren von „Seele“, „Unbewußtem“ oder dem „Humanum“ spricht (bzw. schreibt) sicher sein kann, im günstigsten Fall auf milde-überlegenes Lächeln zu treffen. Nicht unwahrscheinlich ist auch, dass man gewissermaßen einer unsystemischen Haltung geziehen wird (vielleicht wäre auch das Wort „unsystemische Umtriebe“ angemessen?).
Dieses Geschehen scheint mir völlig nachvollziehbar. Jede Gruppierung, Strömung, Gemeinde („Community“) schafft sich Identitäten, sie schafft sich Überzeugungen und damit – ganz i.S. Luhmanns – Ein- und Ausschlüsse. Mitglieder des Systems reagieren dann mit Zustimmung oder Ablehnung auf Operationen von Akteuren: passen sie zur eigenen „Religion“ oder nicht?
Damit wäre ich beim Punkt: ich habe Luhmann vor 10, 15 Jahren mit großer Begeisterung gelesen und hatte damals den Eindruck, von der Lektüre enorm bereichert worden zu sein (was sicherlich bis heute stimmt). Mir fällt allerdings ein Satz aus den „Sozialen Systemen“ ein, den ich vor Jahren einmal als Leitmotto über ein Buchkapitel gestellt habe. Der Satz lautet: „Einmal in Kommunikation verstrickt, kommt man nie wieder ins Paradies der einfachen Seelen zurück“.
Heute finde ich diesen Satz in mehrfacher Hinsicht falsch. Der Satz tut so, als gäbe es eine Evolution von Erkenntnis, in dem die Auseinandersetzung mit kommunikativen Prozessen weiter vorne steht als diejenige mit der Seele. Der Satz behauptet zudem (implizit), dass Kommunikation ein komplexes Geschehen sei, das Seelische aber „einfach“. Sollte Luhmann dies tatsächlich so gemeint haben, dann irrt er gewaltig. Womöglich (oder gar wahrscheinlich) liegt dies daran, dass er sich mit dem Seelischen gar nicht befasst hat, zumindest nicht in der Tiefe. Dies ist nicht weiter erstaunlich, denn von einem Soziologen erwartet man gewöhnlich keine seelenkundlichen Aussagen. Dennoch aber sind Luhmanns Aussagen zum Seelischen im eigentlichen Wortsinne beachtlich: denn sie sind ja der metatheoretische Rahmen, in dem die Hauptströmung der (deutschsprachigen) Systemischen Therapie das Seelische sieht.
Für eine psychologische Betrachtung aber, auch für eine psychotherapeutische, ist eine Theorie und Therapeutik, welche das Seelische in den erforderlichen Hinsichten berücksichtigt, per se unerlässlich. Dass dies mit einer Luhmannschen Perspektive allein hinreichend geschieht und geschehen kann, daran habe ich mittlerweile erhebliche Zweifel. Um eine Analogie zu gebrauchen: mit einer physikalischen Metatheorie alleine – und sei sie noch so brillant – könnte man schwerlich organische Chemie betreiben.

Das Jahr 2007 bedeutete für mich persönlich eine Wende. Ich verließ das systemische Ausbildungsinstitut, das ich mitgegründet hatte, die Mannheimer Gesellschaft für systemische Therapie (MaGST). Die Neugründung eines anderen Institutes scheiterte. Ich war nun also kein aktiver systemischer Lehrtherapeut mehr. Und was mich wunderte war, dass ich dies als stimmig empfand. Jahre später, bei der Lektüre von C.G. Jung und seinen „seelischen Endabsichten“ im Prozess der Individuation, wurde mir diese Stimmigkeit klar. Ich hatte an einem Scheideweg gestanden, ohne es zu wissen. Ich hatte damals (scheinbar) mehrere Optionen zur Auswahl: mehr im Bereich Coaching und Ausbildung zu arbeiten oder mich auf meine ursprüngliche Identität als Seelenkundler zu besinnen. Und meine innere Antwort war im Laufe von Wochen und Monaten klar: ich bin ein „Psycho“. Wenn man so will, hat meine Seele („mein psychisches System“ zu sagen, geht mir an dieser Stelle reichlich gegen den Strich) das „gewusst“. Es war mir bewusst, dass die Aussicht auf Einkommen und Renommee in anderen Bereichen als der Psychotherapie größer waren, v.a. im systemischen Kontext. Aber ich hatte mich im Alter von 13 Jahren in dieses Fach Psychologie verliebt (damals allenfalls im Besitz einer leisen Ahnung, was es beinhaltet), habe es mit Überzeugung und großer Enttäuschung über den Mangel an Hermeneutik studiert (fast wäre ich gescheitert, zum einen an der Statistikprüfung im 2. Semester, zum anderen an aberwitzigen Blütenträumen, statt eine Diplomarbeit in Psychologie eine Kabarettistenlaufbahn zu beginnen) und war im Besitz einer Approbation und Kassenzulassung für Verhaltenstherapie. Somit besann ich mich auf mein „Kerngeschäft“: meine Psychotherapiepraxis.
Als weiterer veränderungsstiftender Aspekt kam dazu, dass ich mich seit Jahren auf Psychosomatik als therapeutischen und theoretischen Schwerpunkt spezialisiert hatte. Meine Sichtweisen zu einer „systemischen Psychosomatik“ habe ich in mehreren Fachartikeln und einem Buch („Psyche, Soma und Familie. Theorie und Praxis einer systemischen Psychosomatik“, 2007 erschienen) veröffentlicht. In der Beschäftigung mit Patienten, die eine psychosomatische Problematik mitbrachten, wurde mir nach einiger Zeit klar, dass bestimmte systemische Arbeitsweisen nicht oder nur eingeschränkt funktionieren. Zum Beispiel ergibt es wenig Sinn, einen psychosomatischen Patienten nach seinem Therapieauftrag zu fragen. Später, als ich mich mit psychodynamischen Ansätzen beschäftigte, wurde mir klar warum: die Besonderheit psychosomatischer Störungen (letzterer ein in der ST verpönter, aber doch aufgrund seiner Etymologie wie ich finde sehr stimmiger Begriff) liegt eben gerade darin, dass ein ungelöster psychischer Konflikt auf der körperlichen Ebene ausgetragen wird. Er ist vordergründig nicht bewusst und nicht direkt zugänglich. Einen psychosomatischen Patienten zu fragen, was denn am Ende der Therapie herauskommen könnte, ist meiner Meinung nach ebenso effizient als würde ich meinen Kater fragen, ob er sein Futter morgen nicht selber kaufen könne.

Hier ist ein aus meiner Beobachtung weiteres wesentliches Element des systemischen Mainstreams angesprochen. Es wird in der systemischen Literatur oft so getan, als seien Patienten (ich verstehe sie nicht mehr als Kunden) uneingeschränkt über sich selbst auskunftsfähige Subjekte. Meine eigene, durch die Arbeit mit psychosomatischen Problemen angestoßene Sichtweise ist mittlerweile eine andere: Patienten brauchen eine Begleitung, die sie zu einem besseren Verständnis ihrer selbst führt. Ich kann diesen Prozess nicht besser beschreiben als mit der Freudschen Denkfigur: es geht darum, Unbewusstes bewusst und damit zugänglich zu machen. Der Zweck dieses Vorgehens liegt allein darin, dem Patienten die Zusammenhänge seines seelisch-körperlichen Symptomgeschehens zugänglich, verstehbar und damit veränderbar zu machen. Die für mich entscheidende Leitfrage kommt für mich an dieser Stelle allerdings nicht von Freud, sondern von C.G. Jung (den ich nebenbei für den eigentlichen Paten und Meister der Ressourcenorientierung halte): „Was will das (dieses Symptom, diese Krankheit, dieses Problem) von dir?“ Die Systemische Therapie hat nach meiner Einschätzung nicht nur stillschweigend diese Leitfrage übernommen und als eigenes Gedankengut ausgegeben, sie benutzt ohnehin in reichlichem Maße psychodynamische Aspekte: z.B. setzen Modelle wie das der Delegation oder von unsichtbaren Bindungen in Familien unbewusste Prozesse implizit voraus, egal ob man diese so benennt oder nicht (ähnliches gilt m.E. für das Modell der inneren Familie oder das der Externalisierung). Ein weiterer Aspekt: das Bemühen um eine Entpathologisierung therapeutischen
Denkens und Handelns beraubt meiner Meinung nach sowohl Therapeuten als auch Patienten einer wesentlichen Tiefendimension menschlichen Erlebens: derjenigen des Leids. So zu tun, als gäbe es diese Dimension nicht, kommt mir – zugespitzt formuliert – so vor als würde man per Dekret Temperaturen unter Minus 10 Grad abschaffen. Gerade Jung hat, wie ich meine, gezeigt, welch reichhaltige Ressourcen im Anerkennen des Leids einer Symptomatik liegt und im „Verstehen“ der darin enthaltenen „Botschaften“. Allerdings muss man es im Kontakt mit Patienten dann auch aushalten, diesem Umstand Raum zu geben und darauf verzichten, Patienten mit scheinbar lösungsorientierten oder zirkulären Fragen zu „bombardieren“.
Ich denke an ein Zitat des Schriftstellers Daniel Kehlmann: „Es gibt Reiche unterhalb von Vernunft und Sprache“. In der ST, so scheint mir, verschwinden diese Aspekte hinter einer Überbetonung der Besprechung von dem Patienten bewusst verfügbaren und sprachlich auszudrückenden Elementen. Zudem: die fast dogmatische Festlegung, dass eine Therapie in großen Abständen und begrenzt auf maximal 12 Sitzungen erfolgen müsse (gilt die eigentlich noch?) erscheint mir bei einigen – Verzeihung! – Störungen wie die Aufforderung, Kunstfehler zu begehen. Mit psychosomatischen Patienten sind Kurztherapien meist nicht möglich, mit traumatisierten Patientinnen und Patienten (denen oft erst nach längerer Therapiedauer im Rahmen einer haltgebenden therapeutischen Beziehung der Zugang zu traumatisierenden Ereignissen möglich ist) ebenso wenig.
So habe ich mich, ohne es zu beabsichtigen, aus dem Bereich des gültigen systemischen Kanons schreibend, lesend und therapierend hinausbewegt, hinein in gewissermaßen tabuisierte Gefilde. Aus heutiger Sicht würde ich nicht mehr von einer „systemischen Psychosomatik“ sprechen (und schreiben). Es gibt die Psychosomatik als theoretischen Ansatz und Therapeutik, und in diesen Ansatz können (und sollen) systemische Sichtweisen einfließen.

Katalysiert wurde der Veränderungsprozess meiner Perspektive zudem durch die zeitweilige Mitgliedschaft in einem Forschungskolleg an der Universität Hildesheim zum Thema „qualitative Psychotherapieprozessforschung“. Eigentlich sollte hierbei eine Dissertation herauskommen, die ich auch begann, dann jedoch einsehen musste, dass ich dieses Vorhaben neben einer Vollzeitpraxis nicht zu Ende würde führen können. Ich brach die Arbeit ab, nahm aber eine reiche Fülle von Anregungen und Erkenntnissen mit. In diesem Kolleg praktizierten wir eine minutiöse Analyse der konversationalen Geschehnisse in Therapien anhand von Therapietranskripten. Geleitet wurde das Kolleg von dem Soziologen Stephan Wolff und dem Psychologen und Psychoanalytiker Michael B. Buchholz. V.a. durch die Verbindung von Konversations- und Metaphernanalyse, der genauen Betrachtung konversationaler Anschlüsse in Therapien geschah etwas, was ich nicht für möglich gehalten hatte: dass ich als Systemiker jemals würde eine Faszination für Psychoanalyse entwickeln können. Das war ungefähr so, als würde man als Anhänger von Borussia Dortmund plötzlich Sympathien für Bayern München entwickeln (oder umgekehrt): never ever! Zu meinem Erstaunen aber war hier ein Brückenschlag offenbar möglich: die Betrachtung von Konversationsprozessen als eigentliche systemische Domäne zusammen mit einer genauen Betrachtung, wie im metaphorischen Sprachgebrauch von Patienten deren innere Konfliktorganisation in die Konversation einfließt. Eine perfekte Verbindung einer systemischen (kommunikativen, konversationalen) und einer psychodynamischen Perspektive.
So ist es bis heute geblieben. Dieses im Titel angedeutete Gehen ist kein Weggehen. Es ist vielmehr ein Ausschreiten eines weiteren Terrains, eine Erweiterung der Erkundungs- und Erkenntniszone. Heute denke ich, dass der Konversationsbegriff für eine Therapeutik oft sinnvoller ist als derjenige der Kommunikation. Ich kann zudem schwer verstehen, weshalb die systemische Therapie ein anthropologisches Kernthema wie Bindung vernachlässigt und es den Psychodynamikern überlässt, wo es doch eigentlich in ihre „Zuständigkeit“ fällt. Stattdessen konzentriert sie sich meiner Meinung nach zu sehr auf epistemologische Fragestellungen. Und sie wählt sich hierfür eine metatheoretische Rahmung, die von der Philosophin Elisabeth List mit gewisser Berechtigung einmal (bezogen auf Maturana) als „Theorie, die aus der Kälte kam“ bezeichnet wurde. Peter Sloderdijk bescheinigt der Systemtheorie in gewohnt überspitzender Formulierung, den „Autismus von Einzelwesen“ zu fördern: „ […] die Systemtheorie ist die Fortführung des Idealismus mit anderen Mitteln, Und Idealismen entstehen, wenn Denker meinen, etwas gefunden zu haben, was ihnen das Zusammenleben mit anderen erspart. Die einzige Alternative zu einer überspannten Systemtheorie wäre ein hinreichend tief verankerte Anthropologie […]“ (in „Selbstversuch. Ein Gespräch mit Carlos Oliveira“, S. 109). Therapeutisch zu handeln erfordert nicht nur kommunikatives Geschick, es erfordert die Fähigkeit, die hinter den Äußerungen des Patienten stehenden Intentionen, mitgebrachten Haltungen, Erfahrungen zusammen mit ihm (ihr) zu „lesen“. Eine annehmende, begleitende therapeutische Haltung scheint nach aller Erkenntnis hierbei förderlich zu sein. Dieser eher mit Wärme assoziierte Aspekt von Psychotherapie lässt sich, wie ich finde, schwerlich von Luhmann oder Maturana beziehen. Sie findet sich eher in einer personzentrierten systemischen Therapie wie der von Jürgen Kriz, der darin Aspekte der (psychodynamisch begründeten Gestalttherapie) aufgreift. Was ich in der systemischen Therapie gelernt habe ist die Bedeutung von Landkarten. Wenn ich das seelische Terrain betrete, erweisen sich psychodynamische Landkarten als durchaus tauglich. Dies überrascht nicht weiter, denn schließlich war Freud der erste, der das Gebiet systematisch erkundet hat. Und er hat sehr konsequent aus den seelischen Gegebenheiten heraus geschrieben. Wer ihm spekulatives Denken vorwirft, müsste das gleiche Luhmann entgegenhalten. Auch hier hat mein systemischer Hintergrund mit sehr geholfen: er enthält für mich die Ermutigung, Tabus zu brechen und Tabuzonen zu begehen. Und Freud zu lesen (was ich nur in bescheidenem Umfang, aber mit Gewinn getan habe) dürfte fast als maximaler systemischer Tabubruch gelten. Meine erstaunliche Erkenntnis auf diesem Weg lässt sich in einer Frage von Fritz Simon zusammenfassen: „In der Praxis funktioniert es, aber funktioniert es auch in der Theorie?“. Meine persönliche Antwort ist klar: es ist mir vordergründig relativ egal, ob systemische und psychodynamische Theorie konkordant sind oder nicht. In der Praxis (so meine eigene Deutung meines Vorgehens) ist es eine gewaltige Bereicherung, systemische, verhaltenstherapeutische und psychodynamische „Brillen“ zu haben und über entsprechende Haltungen und Vorgehensweisen zu verfügen. So wird hier (und das wird mir genau jetzt beim Schreiben bewusst) einmal mehr ein Sowohl-als-auch deutlich: diesen Weg gegangen zu sein, macht sowohl das Gehen als auch das Bleiben möglich.

20. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

Matthias Ohler: Ich gehöre allen. Mir gehört niemand.

Matthias Ohler, Bad Dürkheim:

So könnte man aphoristisch eine Denkmöglichkeit formulieren, die mir die erste Begegnung mit Texten Humberto Maturanas vor nahezu dreißig Jahren anbot.
Es war schon eine Art Befreiungserlebnis. – So etwas sollte man ja mit aller gebotenen Vorsicht sagen, aber ich traue mich nach sorgsamer Prüfung tatsächlich, es so nennen.
Aphorismen sind, aus meiner Sicht, Erfahrungssätze, die kurz vorm Status der Gewissheit stehen, aber noch durchscheinen lassen, dass sie aus einem oft lange erfahrenen Weg dorthin entstanden sind – und lieber nicht als fraglose Gewissheiten enden wollen.
1986 stand für mich fest, dass ich nach dem Universitätsexamen nach Tibet gehen werde. Wollte Erleuchtung suchen. Da fielen mir durch Vermittlung Hans Rudi Fischers diese Texte von Humberto Maturana ins Leben. – Folge: Ich konnte hier bleiben.
Dies steht auf einer mit persönlichen Kommentaren versehenen Literaturliste, die ich im Rahmen von Weiterbildungen zu einigen Grundbegriffen von Konstruktivismus und Systemtheorie ausgebe, bei der Empfehlung für Maturana, Humberto: Erkennen. Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig/Wiesbaden 1982, Vieweg.
Tatsächlich verstand ich zunächst nur Bruchteile dessen, was mir in diesen alle meine Konzentration fordernden Texten angeboten wurde. Ich verstand aber sofort, dass es hier für mich auch um Chancen ging, ganz neue Ideen zu bekommen zur BeHandlung einer von mir so erlebten Grundspannung des Daseins: allein sein und zusammen sein mit Anderen. Einige heftige Konflikte, beispielsweise in Freundschaften und unserer anarchistischen Theatergruppe, hatten mich mit dieser Grundspannung immer wieder in unsanfte Berührung geraten lassen. In Maturanas Konzeption lebender Systeme als autopoietische Systeme zogen sehr neue, einleuchtende Ideen auf, die helfen konnten, die paradox anmutenden Anforderungen, die sich mir stellten, akzeptieren, ja begrüßen und auf jeden Fall besser aushalten zu können, weil ich erlebte, wie ich handlungsfähiger wurde. Besonders im Kontakt mit anderen Ideen, wie beispielsweise den Sprachspielen als Untersuchungsmethode in Ludwig Wittgesteins Philosophischen Untersuchungen oder phänomenologischen Analysen wie Jean-Paul Sartres Der Blick in Das Sein und das Nichts entfaltete sich das Autopoiese-Konzept in einer eigenen Autopoiese von Lebensbewältigung über nützliches Philosophieren und sinnstiftende Theorie, die sich immer in der Prüfung am eigenen Erleben, Tun und Aushalten zu bewähren hatte.
Die Erfahrungen in der seither ununterbrochenen Beschäftigung mit größer angelegten theoretischen Entwürfen haben mir immer wieder gezeigt, dass Theorie zu betreiben im wahrsten Sinne des Wortes ein lohnendes Geschäft ist. Der return on investment ist in der immer aufs Neue erfahrenen Erhöhung von Selbstwirksamkeit zu sehen, die diese Beschäftigung hervorbringt. Am deutlichsten, wenn man selber mit Freuden theoretisiert und dabei lernt, aufzupassen, welche Folgen sich als nützlich herausstellen – und welche nicht.
Wie fragt man gut nach dem Guten? Wie erkennt man Einladungen zu fragwürdigen anthropologischen Konzepten und schlägt sie gewinnbringend aus? Wie verhindert man, für weise gehalten zu werden – besonders von sich selbst – und bleibt fähig, zu Entscheidungen beizutragen, die sich als weise heraus stellen könnten?
Im Zentrum guter Bildung steht nicht ein Katalog von „tools of tooligans“, sondern die Suche nach Verlässlichkeit in der Vorläufigkeit. Nennen wir es vorerst Sichere Kontingenz. Das muss kein Ende finden.

19. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

Björn Enno Hermans: Vom Supervisor zum Schreiben ermuntert…

Gerne trage auch ich eine Geschichte zum Adventkalender des systemagazin bei, die etwas mit meiner ersten wirklichen Schreiberfahrung (so etwas wie Diplomarbeit u.ä. mal nicht mitgezählt) zu tun hat. Und es hat mit dem systemagazin und seinem Betreiber Tom Levold zu tun, dem ich dafür noch heute sehr dankbar bin.
Aber wie kam es dazu? Ich arbeitete 2006 in der Dortmunder Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie (Elisabeth-Klinik) als Psychologe und Stationstherapeut auf der Psychotherapiestation für Jugendliche.
Seit etwa zwei Jahren war Tom Levold unser Supervisor und so kam es, dass er uns auch von seinem damals noch recht neuen und jungen Projekt, dem systemagazin, berichtete.
Begeistert las ich fast jeden Tag die neuen Beiträge und nach einer Supervision kamen Tom und ich noch kurz ins Gespräch. Ich berichtete ihm, dass ich im März zur Systemischen Forschungstagung nach Heidelberg fahren würde und darauf schon sehr gespannt sei. Tom sagte, dass er noch nicht wisse, ob er teilnehmen könne und fragte mich sofort, ob ich nicht Lust hätte, einen Tagungsbericht für das systemagazin zu verfassen. Etwas „veradttert“ sagte ich sofort ja, da ich mich über die Wertschätzung und das offensichtliche Zutrauen dieser Aufgabe freute. Auf der anderen Seite begannen Gedanken, wie das wohl gut zu bewerkstelligen sei – einen solchen Bericht hatte ich schließlich noch nie geschrieben und ich wollte mich bei der systemischen Leserschaft sicher auch nicht gleich blamieren. Parallel hatte mich Tom ermuntert, doch vielleicht auch einmal über eine Rezension nachzudenken. Das fand ich eine wirklich gute Idee und beschloss mich mit einer solchen quasi schon mal „warm zu schreiben“, bevor ich dann im März nach Heidelberg fahren würde. Gesagt getan und so war die Rezension eines notfallpsychologischen Handbuchs fertig und schon im systemagazin veröffentlicht, bevor ich dann nach Heidelberg zur Forschungstagung fuhr. Dort war ich dann tatsächlich aufgeregt vor lauter Inhalten und systemischer Prominenz. Ganz entgegen meiner eigentlichen Gewohnheit machte ich mir ständig Notizen, um auch ja nichts wichtiges zu vergessen. Schon auf der Rückfahrt im Zug tippte ich dementsprechend auch schon die ersten Zeilen in den Laptop und war auch nach der Rückkehr bemüht, den Bericht möglichst zeitnah fertig zu stellen. Gar nicht so einfach, denn vor lauter detaillierten Notizen und Erinnerungen fiel es schwer, zu priorisieren und einen möglichst intressanten Sprachstil zu finden. Dementsprechend war ich dann auch wieder etwas nervös, als ich das fertige Werk an Tom gemailt hatte. Würde es ihm gefallen, oder vielleicht auch gar nicht? So schlimm war es dann nicht, denn der Bericht wurde ohne Veränderungen im systemagazin veröffentlicht.
Meinen heutigen Adventkalenderbeitrag habe ich zum Anlass genommen, den Text von damals noch einmal im systemagazin zu lesen. Fast hatte ich befürchtet, mit dem zeitlichen Abstand von heute vielleicht mit dem Produkt nicht mehr zufrieden zu sein.
Doch, ganz im Gegenteil, konnte ich noch einmal schöne Erinnerungen an die damalige Tagung in Heidelberg an mir vorbeiziehen lassen.
Diese ersten Gehversuche für das systemagazin im Jahr 2006 haben mich dann auch motiviert, weitere Veröffentlichungen in Zeitschriften und Büchern in Angriff zu nehmen. Und wenn ich 2014 zu Beginn der ersten europäischen Forschungstagung in Heidelberg das Grußwort der DGSF sprechen darf, werde ich mich sicher an 2006 und an den Tagungsbericht zurückerinnern. Ich bin also wirklich dankbar, mit so einer einfachen Frage auf die Spur von Veröffentlichungen gesetzt worden zu sein. Danke Tom! 

18. Dezember 2013
von Tom Levold
Keine Kommentare

Joachim Hinsch: Leichter wäre es gewesen, einen Beitrag zu schreiben, bevor ich die anderen gelesen habe. Aber dazu müsste man halt schneller sein

Mein Lernen war immer eher durch persönliche Begegnungen und Nebensächliches geprägt, weniger durch die einsame Lektüre wichtiger Bücher. Der Wechsel von der psychoanalytischen zur strukturellen Familientherapie passierte mir dadurch, dass Welter-Enderlin den zentralen Begriff des Widerstandes der Psychoanalyse in ein anderes – systemisches – Licht setzte, das mich total faszinierte. Zum Verständnis des Problemsystems wiederum, das uns Kurt Ludewig in einem Seminar in Wien vermitteln wollte, kam ich nicht bei diesem Seminar, sondern weil ich Kurt im Rahmen einer „Dienstreise“ in meiner Heimatstadt Hamburg besuchen wollte, ihn sozusagen zu diesem Zwecke utilisierte und ihm dort bei seinen Therapien zuschauen konnte. Also quasi ein Heimaturlaub auf Kosten des Arbeitgebers. Den ersten Artikel, den ich gemeinsam mit Egbert Steiner in der Familiendynamik („Metaphern“) veröffentlichen konnte, entstand dadurch, dass Egbert hinterm Spiegel saß und in seiner großen Belesenheit entdeckte, was ich dort unter dem Aspekt eines systemischen Verständnisses praktizierte. So lernte ich durch mein eigenes Tun, weil er dieses Tun in eine systemische Sichtweise brachte. Ich war sehr stolz auf uns und unseren Artikel, auch wenn ihn offensichtlich außer dem Gutachter niemand gelesen hat. Ein anderer Artikel über das Jugendamt wurde von Tom Levold gelesen und in sein wunderbares Konzept vom Problembesitz gebracht. So hatte ich auch dazu einen Zugang. Unter diesem Aspekt konnte ich übrigens später die Trilogie von Stieg Larsson lesen, wo er das Leben der Lisbeth Salander einerseits aus der Sicht der Jugendamts- und Psychiatrieakten  und andererseits aus seiner eigenen Sicht erzählt. Zwei Welten, die sich aus  unterschiedlichem Problembesitz ergeben. Aber nie war und bin ich mir sicher, ob ich die großen Denker unserer Zunft wirklich verstanden habe. Doch da kam mir ein kleiner Beitrag von Fritz Simon im Internet über Fußball und System in die „Finger“, wo er verständlich macht, dass Regeln ein System machen, Menschen dessen Umwelt sind. So begriff ich Systeme jetzt wirklich (?) und freute mich, dieses Verständnis auch in meiner Erinnerung an die Kinderlektüre „Pinocchio“ wieder zu finden: die Marionette, die durch eine dumme Laune einer Fee sich ohne Fäden/Erwartungen bewegen konnte und dadurch in ziemlich viele Probleme geriet. Zum guten Schluss kommt er dann doch wieder an die Strippen menschlicher Erwartungen und wird ein braver Junge. Ganz anders als Hänsel und Gretel, die sich nicht an die Erwartungen halten. Gretel verstreut Brotkrümel, was jeder Erwartung an ein halbwegs vernünftiges Mädchen widerspricht. Deshalb streiten sich Hänsel und Gretel aber nicht, was man doch wohl erwarten könnte, sondern suchen sich eine reiche Frau, töten sie, klauen ihr Gold und gehen zum Vater zurück, was nur dadurch gerechtfertigt ist, dass die Mutter sich als die wahrhaft Böse herausstellt.
Die Liste von Romanen, Erzählungen, Märchen, Liedern und Gedichten, Filmen, die unser therapeutisches Tun bereichern können, ist unendlich, muss aber wohl von jeder TherapeutIn selbst entdeckt werden, obwohl ich große Lust hätte, viel mehr zu erzählen.
Natürlich haben mich auch manche Bücher inspiriert, besonders in den letzten Jahren Luhmann. Ich weiß nicht, ob ich ihn so verstanden habe, wie er es sich trotz aller Kontingenz wohl wünschen würde. Aber er hilft mir unglaublich, die Kommunikation, die Paare trennt und sich aufeinander beziehen lässt, zu verstehen, Ärger in Verstehen zu verwandeln, zu begreifen, dass der Anspruch von Paaren, einander zu verstehen, unerfüllbar ist und dass ich sie auch nicht verstehen muss, aber trotzdem hilfreich sein kann.