In der 12. Ausgabe des International Journal of Collaborative-Dialogic Practices, das u.a. von Harlene Anderson herausgegeben wird, erschien im Februar vergangenen Jahres ein Artikel von Klaus Deissler, Ingo Wolf und Ahmet Kaya, in dem sie ihr sozialkonstruktionistisches Konzept von Psychotherapie als dialogischen Prozess der Zusammenarbeit vorstellen, den sie von einem expertenorientierten Psychotherapie-Verständnis abgrenzen. systemagazin dankt den Autoren für die Zurverfügungstellung ihres Textes in einer deutschen Übersetzung.
Klaus G. Deissler, Ingo Wolf, Ahmet Kaya
Sprache existiert nur im Gespräch.
Hans-Georg Gadamer
Zusammenfassung
Bis heute konzentrieren sich Forschung und Praxis der Psychotherapie auf Expert:innenwissen aus vergangenen therapeutischen Prozessen, d.h. auf empirisch ermittelte Regeln oder vergangene persönliche Erfahrung mit Klient:innen. Unter Verwendung dieser Ableitungen versuchen Expert:innen hauptsächlich Lösungen für die Probleme ihrer Klient:innen bereitzustellen, indem sie die Komplexität, Mehrdeutigkeit und Offenheit der gegenwärtigen dialogischen Zusammenarbeit auf postfaktische Prinzipien reduzieren. Im Einklang mit John Shotter, 2016, kann man sie auch als solche Prinzipien bezeichnen‚ die von vollendeten Fakten[2] abgeleitet wurden.
Dabei neigt man dazu, die aktuelle Entfaltung dialogischer Beziehungsgeflechte – gegenwärtige äußere Dialoge, gegenwärtige innere Dialoge, Erwartungen und Wünsche für die Gegenwart und Zukunft – außer Acht zu lassen und die aktuellen und zukünftigen lokalen Kontexte zu vernachlässigen. Dies bringt es mit sich, dass in fachlichen Überlegungen präfaktische Sensibilität und Verwunderung für die Diskontinuitäten, unvorhersehbare Tatsachen und die gemeinsame Schaffung neuer Bedeutungen selten beachtet und wertgeschätzt werden. In unserem Verständnis von Psychotherapie als dialogische Zusammenarbeit plädieren wir für eine «philosophische Haltung» (Anderson, 1999), die die präsente dialogische Sensibilität (Deissler, 2016) betont, um die präfaktischen therapeutischen Prozesse besser zu erfassen. Klient:innen und Fachleute gewinnen ein sensibleres und responsiveres Verständnis für die einzigartigen dialogischen Momente der gegenwärtigen Zusammenarbeit zwischen Therapeut:in und Klient:in. Durch das gemeinsame Fokussieren präfaktischer Prozesse konstruieren Klient:in und Therapeut:in durch dialogische Zusammenarbeit Neues und eröffnen so Möglichkeiten für das Noch-Nicht-Gesagte, Noch-Nicht-Gemachte und Noch-Nicht-Bekannte.
Schlüsselwörter: präfaktisch; dialogische Zusammenarbeit; präsente dialogische Sensibilität; handlungsleitende Antizipation; Nichtwissen
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