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Lösungsorientierte Beratung mit getrennten Eltern

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Lösungsorientierte Beratung hört sich oft einfacher an, als es ist. Dies gilt ganz besonders in der Beratung mit Eltern, die sich bereits getrennt haben und miteinander als Partner nichts mehr zu tun haben wollen. Hier sind Konflikte vorprogrammiert, die an lösungsorientierte BeraterInnen besondere Anforderungen stellen. Sabine Holdt und Marcus Schönherr arbeiten als PsychologInnen seit 1996 in der Familienberatungsstelle des FamThera-Instituts in Leipzig mit getrennt lebenden Eltern an der Bewältigung ihrer Nachtrennungskonflikte und der Regelung ihrer Sorge für die gemeinsamen Kinder. Über ihren Arbeitsansatz haben sie ein Praxishandbuch geschrieben, das 2015 im Klett-Cotta-Verlag in der Reihe Leben lernen erschienen ist.

Jochen Schweizer hat das Buch gelesen und resümiert: ein didaktisch gutes, spannend zu lesendes und anregungsreiches Buch aus dem Leipziger FamThera-Institut, dem man seine lange Erfahrungsbasis (Beratung getrennt lebender Eltern seit 1995) und das Engagement seiner Autoren für ihre Arbeit und für die Gestaltung dieses Buches anmerkt. Aber lesen Sie selbst…

Jochen Schweitzer, Heidelberg:

Dieses Buch lässt sich mit verschiedenen Brillen gewinnbringend lesen und rezensieren. Ich erlaube mir die gewohnte Reihenfolge umzukehren und beginne mit seiner literarischen Form. Mit dieser Brille stoße ich auf fünf spannende Stories. In diesen kämpfen die fünf Ex-Ehepaare »Esche«, »Kiefer«, »Linde«, »Weide« und »Zeder« miteinander und mit ihren beiden Beratern. Sie sind auf der Suche nach Verständigung zugunsten ihrer Trennungskinder. Aber ihr Weg dorthin ist gepflastert mit Verdächtigungen und Unterstellungen, Drohungen und Gerichtsklagen, telefonischen Beschwerden und geplatzten Gesprächsterminen. Die Beraterin und der Berater, Diplomaten im Einsatz im Bürgerkriegsland gleich, ringen mit ihnen um Nichtangriffspakte, Waffenstillstände, Abrüstungsschritte und Verhandlungsschritte. Dies Ringen gleicht einem Auf und Ab, jeder Fortschritt kann am nächsten Tag wieder dementiert oder zunichte gemacht sein. Aber die Zuversicht und Durchhaltefähigkeit der Berater, wie sie allerkleinste Friedenssignale erkennen und mit den Kriegsparteien zelebrieren, tragen durch das dramatische Geschehen hindurch. Am Ende steht nicht immer ein Happy End. Aber die Lage ist immer zumindest etwas weniger schlimm als am Anfang.

Diese fünf literarisch gut geschriebenen Geschichten sind eingebettet in ein kluges didaktisches Konzept. Jede Geschichte beginnt mit einem optischen »Who is Who«- Überblick über die Konfliktbeteiligten, einer Kombination aus Genogramm und Helferkarte sowie einer halbseitigen Beschreibung der Einstiegskonstellation. Dann folgt eine grafische Zeitlinie des Beratungsverlaufs. Im Stile des von Peter Nemetschek bekannt gemachten »Lebensflussmodells« verlaufen in diesen Grafiken die Linien der beiden Ex-Partner in gemeinsamen Beratungsphasen parallel und gehen während getrennter Beratungsphasen auf Abstand voneinander. Auf einen Blick kann man die Zahl der Beratungskontakte und deren Formen sowie die Dauer der Beratung sehen. Nach jeder Zeitlinie werden die einzelnen Ereignisse ausführlich und anschaulich in ihrer Abfolge als Text beschrieben. Am Ende folgt eine »Draufsicht«, eine angenehm kurze Reflektion über die Dynamik und Ergebnisse der jeweiligen Beratung.

Die fünf Fallgeschichten sind sorgfältig über das Buch verteilt (S. 13, 49, 103, 135, 184). Jede illustriert eine andere Einstiegskonstellation. Die Trennung ist noch ganz frisch oder liegt schon länger zurück. Die Eltern bekämpfen einander unversöhnlich oder belasten sich mit ihren Schuldzuweisungen und hohen Ansprüchen selbst. Das Familiengericht ist massiv oder geringfügig involviert. Die Eltern sind der deutschen Sprache hervorragend oder überhaupt nicht mächtig und ein Dolmetscher muss hinzukommen. Jede Fallgeschichte führt aber auch in einen weiteren Aspekt des Beratungsvorgehens ein. Mit Familie »Esche« lernen wir die ersten Schritte und die Deeskalationsstrategien kennen, mit Familie »Kiefer« die grundlegenden Arbeitsprinzipien und das Vorgehen bei einzelnen Kindeswohlregelungen. Bei Familie »Linde« wird gezeigt, wie Elternidentität zurückgewonnen und die Kindsperspektive einbezogen werden kann. Familie »Weide« ermöglicht uns, eine Vergangenheitsbewältigung des Paares sowie den Abschluss der Beratungen und die Berichte an das Familiengericht näher kennenzulernen. Bei Familie »Zeder« rückt am Ende das Arbeiten mit Dolmetschern und unter ungewohnt großem Zeitdruck in den Blick.

Neben der Freude an den gut geschriebenen Geschichten und der klugen Didaktik habe ich auch inhaltlich dem Buch eine Reihe von Anregungen entnommen. Dazu gehören die vielen Wege, in hochgradig erregten und kon iktbeladenen Situationen einen haltgebenden Rahmen zu erzeugen durch Vorgespräche, Beratungsvereinbarungen, Gesprächsspielregeln, bedarfsweise getrennte Einzelgespräche bis hin zur Pendeldiplomatie und schließlich durch das Anbieten von Tee in zarten Teetassen. Dazu gehören viele »bewährte Praktiken«, die getrennten Eltern vorgestellt und angeboten werden können zur Regelung konfliktträchtiger Alltagsprobleme beim getrennten Erziehen ihrer gemeinsamen Kinder – bei Informationsübermittlung, Wochenplangestaltung wechselseitiger Vertretung bei Erkrankungen, Feiertagen oder dem Einbezug neuer Partner.

Über die Beratung getrennt lebender Eltern hinausgehend entnehme ich dem Buch einige allgemeine Anregungen für die systemische Beratung in Hochkoniktsituationen. »Führen« (Rahmen setzen, Spielregeln sichern) hat hier gegenüber dem »Mitgehen« (das Problem verstehen, kontextualisieren, utilisieren) zuweilen höhere Priorität. Schriftliche Vereinbarungen haben oft eine längere Halbwertszeit als rein mündliche Übereinstimmungen; deshalb lohnt es, auf sie unermüdlich hinzuarbeiten. Gerichtsentscheidungen haben gelegentlich erstaunlich beruhigende Wirkungen auf die Konfliktparteien und können auf kluge Weise in den zeitlichen Ablauf systemischer Beratung einbezogen werden. Intensives und ausdauerndes Streiten gegen die andere Partei (hier: den Ex-Ehepartner) kann als ein Ausdruck des hohen Engagements für eine gute Sache (hier: das Wohl des gemeinsamen Kindes) positiv umgedeutet werden. Dass ein Konflikt nicht besser, aber auch nicht schlimmer geworden ist, kann zuweilen ein wichtiger Beratungserfolg sein.

Zusammenfassend: ein didaktisch gutes, spannend zu lesendes und anregungsreiches Buch aus dem Leipziger FamThera-Institut, dem man seine lange Erfahrungsbasis (Beratung getrennt lebender Eltern seit 1995) und das Engagement seiner Autoren für ihre Arbeit und für die Gestaltung dieses Buches anmerkt.

(Mit freundlicher Genehmigung aus Kontext 1/2016)

 

 

Inhaltsverzeichnis, Vorwort und Leseprobe

Die website der Beratungsstelle von FamThera

 

 

Sabine Holdt & Marcus Schönherr (2015): Lösungsorientierte Beratung mit getrennten Eltern. Ein Praxishandbuch. Stuttgart (Klett-Cotta).

210 Seiten, broschiert
ISBN: 978-3-608-89156-0
Preis: 25,00 €

Verlagsinformation:

Wenn Eltern minderjähriger Kinder sich trennen, sind Konflikte vorprogrammiert, die oft sehr emotional und kontrovers ausgetragen werden. Doch wie finden zerstrittene Eltern zu individuell passenden Lösungen für die Neuorganisation der Familie? Beraterinnen und Berater sind herausgefordert, einen hilfreichen Prozess in Gang zu setzen, in dessen Ergebnis die getrennten Eltern wieder mehr Selbstwirksamkeit und Autonomie erlangen. Das Praxishandbuch bietet eine Vielzahl konkreter Interventionsvorschläge und ausführliche Fallbeispiele für den gesamten Beratungsprozess von der Anmeldung bis zum Abschluss. Das erste Handbuch, das auch auf die Herausforderung durch hochstrittige Paare eingeht – mit vielen Beispielen und konkreten Interventionen.

Über die AutorInnen:

Sabine Holdt, Studium zur Diplompsychologin an der Universität Leipzig. Im Anschluss daran Weiterbildung zur Systemischen Therapeutin/Paar-und Familientherapeutin und zur Lehrenden für Systemische Therapie (DGSF). Approbation als Psychologische Psychotherapeutin. Ausbildung zur Hypnotherapeutin. Seit 1996 in der Familienberatungsstelle des FamThera Instituts (www.fam-thera.de) tätig. Therapeutische Erfahrungen in der Arbeit mit Einzelnen, Familien und insbesondere mit Elternpaaren. Langjährige Supervisions- und Lehrtätigkeit in der Fort- und Weiterbildung. Stellvertretende Ausbildungsleiterin des FamThera Instituts.

Marcus Schönherr, Im Erstberuf Theatertischler. Abitur auf der Abendschule. Studium der Klinischen Psychologie in Leipzig. Postgraduales Studium zum Fachpsychologen der Medizin, später Approbation als Psychologischer Psychotherapeut. Ab 1990 Weiterbildung zum Familientherapeuten in München. DGSF-Zertifizierung als Systemischer Supervisor und Lehrender für Systemische Therapie. 1991 Mitbegründer des FamThera Instituts (www.fam-thera.de). 1996 Eröffnung einer Familienberatungsstelle in Trägerschaft des Instituts, seitdem deren Leiter. Vielfältige Erfahrungen in der Beratung und Therapie von Familien, insbesondere von Elternpaaren. Leitet bei FamThera die Weiterbildung „Erlebnisorientierte Paartherapie“.

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