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Lisa Reelsen: „Leben, um davon zu erzählen“ (G.G. Márquez)?

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Hören kommt vor Sprechen, Lesen vor Schreiben… so heißt es in der Literatur zum Fach „Deutsch als Fremdsprache“.
Gereimtes zu hören gefiel mir sehr früh, die gesungenen Lieder meiner Mutter, ihre witzigen Sprüche und Spiele mit Sprache. Die Zitate von Joachim Ringelnatz und  Heinz Erhardt, die mein Onkel bei seinen sonntäglichen Besuchen fast nebenbei zum Besten gab, liebte ich. Ich blätterte mich durch die dicken Willhelm-Busch- Bücher meines Vaters und amüsierte mich über die Zeichnungen. Fips, der Affe … Als ich lesen konnte, tackerte ich mir wohl selbst ein ordentliches Repertoire lustiger, „sinnloser“ Verse in mein Stammhirn. Zu fast jeder Zeit kann ich sie heute noch abspulen.
In der Grundschule las ich mich eher durch die Internats-, Pferde, und Abenteuerbücher für Mädchen. Allesamt waren sie einfach gestrickt, es gab die klare Trennung zwischen Böse und Gut und am Ende gingen alle Geschichten wunderbar friedlich aus. Deshalb mochte ich sie wohl. Bei jedem Einkauf mit meinen Eltern bettelte ich und ich bekam sie auch.
Der Versuch, mich in der „richtigen“ Literatur zu bewegen, ging – 9-jährig – sehr schnell schief… zunächst jedenfalls. Denn im Gymnasium arbeiteten wir 1969 mit dem Lesebuch „Wort und Sinn“, damals ein für Kinder wenig ästhetisch ansprechendes Buch. Viele, sehr viele kleingedruckte Texte, daneben – fast als missglückte Entschuldigung für die vielen Buchstaben – einige wenige Bilder aus der Kunst, zwar in Hochglanz gedruckt, doch dafür schwer: Caspar David Friedrich war vertreten und ich kann mich an ein Gemälde erinnern, das Heinrich den VIII. abbildete, welches wir beschreiben sollten. Ich versagte darin völlig, fand wohl nicht die passenden Worte.
Dann nahm ich das Lesebuch eines Abends mit ins Bett. „Die rote Katze“, dieser vielversprechende Titel für ein Kind, reizte mich. Doch diese, für mich mehr als traurige Geschichte von Luise Rinser, ließ mich verzweifelt die halbe Nacht weinen und  Lesebücher, die wir in der Schule nutzten, nahm ich nie wieder freiwillig in die Hand. Luise Rinser entdeckte ich erst viel später wieder neu. Der Deutschunterricht bis zur 10. Klasse war extrem langweilig, das Lesen empfand ich vor allem in der Pubertät als lästig und nervtötend. Durch die Interpretationsmanie mancher Lehrer, und das Sezieren von Texten u.a. mit der Frage: „Was möchte uns der Autor damit sagen (und wehe, ihr ratet nicht richtig)?“ ließ mich die Literatur meiden. Auch an den Texten von Brecht fand ich erst nach dem Abitur Gefallen. Doch mein Französischlehrer in der 11. Klasse machte uns mit Sartre vertraut. „Huis clos“ – und er ließ uns die darin beschriebene Situation imaginieren. Drei Eingeschlossene in einem Zimmer in der Ewigkeit und unsterblich… Keine traditionelle Interpretation, dafür subjektive Annäherung an den Inhalt und dann an die Form. Er war begeistert und diese Begeisterung schwappte auf viele von uns über, auch auf mich. Dann erzählte er von Albert Camus. Bevor wir „Der Fremde“  zu lesen begannen, ging ich davon aus, dass er eine Frau meinte. Ich hatte sie anfangs unter Alberca Mus abgespeichert. Ich musste darüber lachen, als ich vor ein paar Wochen in der Zeit einen langen Artikel über ihn las. Der Zugang zum Absurden über Ionesco und Beckett bereicherte mich ebenfalls und ich begann das Theater zu lieben.
Mit dem Schreiben war es ähnlich. Anfangs gerne schreiben, dann schreiben müssen und anschließend nicht mehr wollen. Später wieder genießend, so auch eine besondere, seit 20 Jahren dauernde Brieffreundschaft innerhalb Deutschlands, die der Technik trotzt und vielleicht deshalb so wärmt.
Als Zwölfjährige sah ich eines Abends 1973 das Fernsehspiel „Der Zweck heiligt die Mittel“. Ein Film mit Fritz Ungelter als Regisseur und Jörg Pleva als einen der Hauptdarsteller. Das Beziehungsgeflecht der Personen in diesem Film war dermaßen komplex – zumindest für mich, und gleichzeitig so faszinierend, dass ich noch am Abend begann, diese Geschichte aufzuschreiben, damit ich sie nicht vergaß. Jörg Pleva starb in diesem Sommer 2013 und ich erinnerte mich an die nächtliche Aktion. Es ging um ein Familienunternehmen, das weiß ich noch und um verschiedene Ideen, die aufeinander trafen. Man blockierte sich gegenseitig und griff zu unschönen Mitteln, die Situation zu lösen, daher wohl der Titel. Ob es ein guter Film war oder nicht… – mich hatte er jedenfalls beeindruckt und zum Schreiben veranlasst.
Trotz oder wegen meiner Liebe zu Literatur und Theater und der für mich damit verbundenen einzigartigen Möglichkeit, mich mit den Gedanken anderer, auch denen von fantasierten Personen, in einer dichten Form auseinanderzusetzen, studierte ich zunächst nicht Deutsch, sondern u.a. Mathematik. Das Examen konnte ich nicht gleichzeitig mit den Mitgliedern meiner Lerngruppe ablegen, da mich eine fette Grippe über zehn Tage ins Bett geschleift hatte. Ein Freund aus dieser Gruppe brachte mir „Hundert Jahre Einsamkeit“ vorbei, durchaus ironisch gemeint von ihm, da ich doch schon so lange malad im Bett hing. Er habe es ausgewählt, da es an der Kasse im Buchladen lag, meinte er und da immerhin eine Zahl im Titel vorkäme. Selbst lese er ja nicht, fügte er noch hinzu. Es war 1982 und Gabriel García Márquez hatte den Nobelpreis für Literatur gewonnen. Vor dem dicken Buch hätte ich wohl schon vor dem ersten Satz kapituliert, doch lag ich flach, hatte viel Zeit und als der Kopfschmerz nachließ, begann ich zu lesen. Um den Überblick der vielen Personen mit dem Namen Antonio Buendía nicht zu verlieren, malte ich mir auch dazu einen Stammbaum. Das Buch las ich in wenigen Tagen durch und es hat mich verändert. Ich legte es eine Weile sogar stets in meine Nähe und bedauerte es ausgelesen zu haben. Lateinamerikanische Literatur las ich von diesem Zeitpunkt an kreuz und quer, wie süchtig danach. Ich denke an „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ und mein Erstaunen darüber, dass auch in diesem Buch die dargestellten Beziehungen für den Leser nicht entwickelt werden. Sie sind einfach da, sie brechen ebenso plötzlich ab und machen stutzig. Ich erinnere mich, dass darin sehr ausführlich über mehrere Seiten die erfolgreiche Rettung eines Papageis aus einem Baum beschrieben wird. Auf den nächsten Seiten wird fast im Nebensatz ganz beiläufig erwähnt, dass der Mann, der Retter des Papageis, dann gestorben ist. Keine weiteren Erläuterungen. Das ist sie, diese selbstverständliche Unmittelbarkeit, über die ich anfangs beim Lesen gestolpert bin und die ich jetzt oft als Antwort auf die Frage, warum ich Südamerika so mag, gebe. Durch Kolumbien bin ich gereist, auf den Spuren von Márquez. Mittlerweile habe ich viele Romane auf dem iPad, nur um manchmal auf Reisen ein paar Sätze in den schon gelesenen Büchern nachzulesen.
Ganz sicher wegen der lateinamerikanischen Literatur zog es mich nach dem Studium beruflich nach Südamerika, wo ich schon einige Zeit meines Lebens verbracht habe, drei Jahre in Argentinien, drei Jahre in Mexiko und nun schon wieder zwei Jahre in Chile. Ich halte u.a. Seminare zu „Kreativem Schreiben“ im Rahmen des Faches „Deutsch als Fremdsprache“, lasse schreiben und erzählen, während ich selbst schreibend am PC eher mit Protokollen von Beratungen nach Schulbesuchen zu tun habe. Die Studenten, die sich zunächst oft nicht trauen, lassen sich dann doch auf den Schreibprozess ein und freuen sich an den Ergebnissen. Und nun habe ich einfach auch mal wieder ein bisschen was anderes aufgeschrieben. Mehr soll es auch nicht sein. Dass ich übrigens mein Mathe-Examen noch gut bestand, verdanke ich dem nicht les
enden Studienfreund, der mich bis zum Nachholen der Prüfungen kurzfristig wieder auf die Welt der Zahlen einstimmte.
Den Zugang zu systemischen Texten fand ich auch erst nach und nach. Die Fachliteratur eröffnete mir eine weitere Welt. Sie strengt mich oft an, ähnlich wie die Unmittelbarkeit hier in Chile, doch ich möchte beide nicht missen. Jetzt setze ich mich auf meinen Balkon, genieße den sehr warmen Sommer hier in Santiago und beginne das Buch von Harald Irnberger zu lesen, eine Biografie von G.G. Márquez mit dem Untertitel „Die Magie der Wirklichkeit“, die ich schon seit langer Zeit besitze, für die ich mir jedoch noch keine Zeit genommen habe. Ich glaube, ich beginne mit dem Kapitel „ Befreiung durch die Kraft der Einbildung“.
»Nicht, was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“ (G.G. Márquez)

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