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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Liebe im Diminutiv

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Im Jahre 2002 hat die im vergangenen Jahr verstorbene systemische Paartherapeutin Rosmarie Welter-Enderlin allwöchentlich Sonntags in der Neuen Zürcher Zeitung eine Kolummne mit dem schönen Titel„Paarlauf“ veröffentlicht, in der sie kleine Beobachtungen und Geschichten aus ihrer paartherapeutischen Praxis für ein größeres Publikum zugänglich machte. Rudolf Welter hat aus diesen Beiträgen eine kleine Broschüre zum Andenken an Rosmarie Welter-Enderlin gestaltet. Mit seiner freundlichen Erlaubnis können die LeserInnen des systemagazin heute und an den kommenden Sonntagen die Texte auch online lesen:

Liebe im Diminutiv
Paartherapie hat Konjunktur und ist ein beliebtes Sujet für Karikaturen, die den Eheberater (seltsamerweise immer ein Er) gelangweilt hinter seinem Pult zeigen, während gegenüber ein Mann elend im Stuhl hängt und eine übergewichtige Frau wütend auf ihn einredet. Konjunktur haben in meiner Praxis auch Fragen von Journalisten, die sich halbprofessionell mit Liebe befassen. Etwa solche: «Wie viele glückliche Pärchen kennen Sie eigentlich?», fragt mich einer und verzieht den Mund, während ich mir im Geist seine Freundin vorstelle, die die Koffer gepackt hat und dem Pärchenmythos entsprungen ist. Der arme Mann! Und redet immer noch im Diminutiv von der Liebe.
Weil ich beruflich mit Therapie und Beratung zugange bin, erfüllen mich solche Fragen und Klischees mit zwiespältigen Gefühlen: Die Psychologisierung des Alltags und die emotionale Erhitzung unserer persönlichen Welten finde ich zum Ersticken. Herzklopfen vor Rührung bekomme ich hingegen, da die Menschen so viel halten von der Hoffnung, aus ihren Wirklichkeiten Möglichkeiten zu schaffen. Und Herzklopfen vor Neugier auf ihre Geschichten zu meinen Fragen, was die Dinge aus ihnen gemacht haben, wie sie jetzt aus ihren Geschichten Zukunft machen. Ab und zu geschieht mir jedoch schon in der ersten Stunde, was ich das Lisi-Syndrom nenne: Ärger über die Unersättlichkeit meiner Klienten, ähnlich wie ich ihn bei Lisi, unserer Katze, habe, wenn sie mich in die Zehen beisst und sich unter meine Füsse stellt und jammert, bis ich ihren Teller fülle.
Menschliche Unersättlichkeit, verbunden mit dem fürchterlich hohen Anspruch an die Liebe, hat selten mit charakterlichen Defiziten, umso mehr aber mit dem zu tun, was wir als gesellschaftlich erzeugten Individualismus und Narzissmus bezeichnen: die Freiheit, unseres eigenen Glückes Schmied zu sein – und als ihre Kehrseite den Zwang, jeden Tag unser Leben neu zu entwerfen. Wer es nicht schafft, glücklich zu sein, ist gemäss dieser Ideologie selber schuld und darf von niemandem erwarten, Futter in seinen Teller zu bekommen.
Die wenigsten von uns sind in einer Kultur aufgewachsen, die uns Übungsfelder für Probedenken und Probehandeln vermittelt hat. Paartherapie heisst darum, dass ich die Bedingungen schaffe, welche Frau und Mann (oder Mann&Mann und Frau&Frau) ein Zwiegespräch mit den Füssen auf ihren eigenen Böden ermöglichen, die Bedingungen, die zu einer Begegnung zwischen zwei Menschen führen. Im Dreieck mit mir als Begleiterin.

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