Bereits am 4. März hat die DGSF eine Erklärung veröffentlicht, in der sie den Krieg in der Ukraine verurteilt, auf die katastrophalen Folgen für die Zivilgesellschaft und besonders die Kinder und Jugendliche hinweist und dazu aufruft, diesen konkrete Hilfen zukommen zu lassen. Dem Vernehmen nach war ursprünglich geplant, diese Stellungnahme in gemeinsamer Herausgeberschaft mit der Systemischen Gesellschaft zu veröffentlichen. Ohne dass die Gründe dafür erkennbar wären, ist das bis heute nicht passiert. Auf der Website der SG findet sich auch bislang kein eigener Text zur Situation in der Ukraine. systemagazin dokumentiert heute – etwas verspätet – die Erklärung der DGSF:
Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF):
Der verbrecherische Angriffskrieg in Europa sorgt für Bestürzung, Trauer und Angst. Der Krieg bringt unermessliches menschliches Leid und humanitäre Notlagen. Der systemische Fachverband DGSF verurteilt die kriegerischen Handlungen scharf und solidarisiert sich mit den Betroffenen. Im Rahmen unserer Möglichkeiten machen wir uns stark für die großen Herausforderungen, die sich für unser Land daraus ergeben. Als Schnittstelle zwischen Mitgliedschaft und Politik setzt sich die DGSF für eine effektive Unterstützung in Not geratener Menschen ein und bietet Möglichkeiten zum Informationsaustausch und Vernetzung an.
Nach einer Woche Krieg in der Ukraine sind bereits eine Million Menschen aus dem Land geflohen (1), unter ihnen hauptsächlich Frauen mit Kindern und Jugendlichen. Es müssen so schnell wie möglich sichere Fluchtwege geschaffen sowie familiengerechte Unterkünfte inklusive materieller sowie psychologischer Hilfe für Kinder und Familien organisiert werden.
Die DGSF unterstützt in diesem Zusammenhang vollumfänglich den offenen Brief der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) vom 1. März 2022 und die Erklärung der European Family Therapy Association (EFTA).
Der offene Brief von Prof. Dr. Karin Böllert (AGJ-Vorsitzende), Prof. Dr. Wolfgang Schröer (BJK- Vorsitzender von 2019 bis 2021) und der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendpolitik des Deutschen Jugendinstituts (DJI) verweist auf die aus dem Krieg in Europa erwachsenen, besonderen Herausforderungen und dringenden Handlungsbedarfe der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.
So sind die Kinder- und Jugendpolitik, die Kinder- und Jugendhilfe und alle pädagogischen Organisationen, die mit jungen Menschen zusammenarbeiten, aktuell aufgefordert, Ängste der jungen Menschen ernst zu nehmen, sie in dem Umgang mit beunruhigenden Erfahrungen zu unterstützen und die gegenwärtige Situation gemeinsam mit ihnen zu thematisieren sowie ihr Eintreten gegen Krieg und für Frieden zu fördern und zu begleiten.
Darüber hinaus appelliert die DGSF an die Verantwortung der Bundesregierung, dafür zu sorgen, dass eine unbürokratische schnelle Unterbringung von Kindern und Jugendlichen und ihren Betreuer*innen und Bezugspersonen aus Kinderheimen in der Ukraine, die aktuell bereits mit Bussen in deutschen Städten eintreffen, erfolgt. Es darf nicht passieren, dass, wie vereinzelt geschehen, vor Ort über den Status dieser Kinder (unbegleitete oder begleitete Minderjährige) und die darauf aufbauende Zuständigkeit der Jugendhilfe oder der Ausländerbehörde/des Sozialamts Unsicherheiten bestehen, die eine schnelle Aufnahme und/oder Unterbringung verhindern. Hier muss die Zuständigkeit der Jugendhilfe anerkannt werden und gleichzeitig müssen kurzfristige, pragmatische Lösungen gefunden werden, die ganzen Gruppen ermöglichen, gemeinsam ohne weitere Beziehungs- und Kontaktabbrüche untergebracht zu werden. In dieser Notsituation muss es bei mangelnden Alternativen dem kommunalen öffentlichen Träger auch erlaubt sein, Unterkunftsmöglichkeiten bereitzustellen, die zunächst nicht den vorgeschriebenen Jugendhilfestandards genügen. Wir verweisen auch auf die Notwendigkeit, jetzt in Deutschland den Boden für einen konstruktiven Dialog zwischen Kindern und Jugendlichen aus russischen, ukrainischen, deutschen und Familien anderer Nationen zu bereiten bzw. zu festigen. Es geht darum, in der nächsten Zeit achtsam zu sein für Diskriminierungen russischer Kinder und ihrer Familien und Negativzuschreibungen aufgrund einer Nationalität zu verhindern. Hier sind insbesondere die Bildungssysteme Schule und Kindergarten gefordert, mit den Kindern über die Ereignisse des Krieges differenziert und kindgerecht zu sprechen und vermehrt Chancen zu bieten für das Wachsen diskriminierungsfreier Beziehungen für eine gute Zukunft aller Kinder! Gemeinsam mit anderen Fachverbänden empfinden wir großen Respekt für die Ukrainerinnen, die von Bomben und Besatzung bedroht sind, aber nicht aufgeben.
Wir fühlen aber auch mit den jungen russischen Soldat*innen, die unfreiwillig in den Krieg geschickt werden und ihr Leben riskieren müssen. Wir fühlen mit allen Opfern und ihren Hinterbliebenen mit, die durch diesen Krieg bereits ihr Leben verloren haben bzw. verlieren, mit allen Verwundeten und mit allen Familien, die durch den Krieg getrennt wurden bzw. werden und mit der Ungewissheit des Wiedersehens leben müssen. Unter #Nein zum Krieg! protestieren zahlreiche mutige Russ*innen gegen den Krieg. Die DGSF unterstützt den offenen Brief von 380 russischen Wissenschaftler*innen und Künstler*innen, die sich gegen den Krieg positionieren und die sofortige Einstellung der kriegerischen Handlungen gegen die Ukraine fordern.
Auch möchten wir darauf aufmerksam machen, dass am 27. Februar 2022 zahlreiche russische Kinderbuchschaffende mutig in einem offenen Schreiben den sofortigen Rückzug der russischen Truppen aus der Ukraine gefordert haben und argumentieren: „Kinderliteratur spricht mit Kindern über die Zukunft, bereitet sie auf ein anständiges Erwachsenenleben vor. Wir können und wollen mit den Kindern nicht über das Leben sprechen, das Sie ihnen nun bieten. Wenn Sie Russland in diesen Krieg hineinziehen, rauben Sie den Kindern die Zukunft ihres eigenen Landes. Wir fordern den sofortigen Abzug unserer Truppen aus dem Gebiet der Ukraine.“
Wir weisen auf diese beiden Briefe hin mit dem Ziel, Aufmerksamkeit auch für die vielen Menschen in Russland zu schaffen, die aus dem politischen System heraus in den Widerstand gehen. Aus der Systemtheorie kennen wir das Phänomen der Autopoiese, der Selbststeuerung von Systemen. Bemühen wir uns, die Kräfte des passiven und aktiven Widerstands in Russland durch Öffentlichkeit zu stärken und den ukrainischen Kindern und Jugendlichen und ihren Begleit- und Beziehungspersonen, die bereits in Deutschland sind und noch kommen werden, einen geschützten Rahmen zu bieten, langfristig ihre traumatischen Erfahrungen dieses Krieges verarbeiten zu können.
Anke Lingnau-Carduck und Dr. med. Filip Caby, DGSF-Vorstandsvorsitzende
Birgit Averbeck, DGSF-Fachreferentin für Jugendhilfepolitik
DGSF e. V., Jakordenstraße 23, 50668 Köln
www.dgsf.org averbeck@dgsf.org
Anmerkungen:
(1) Quelle: Kommentar des UN-Flüchtlingshochkommissars Filippo Grandi zu den aktuellen Entwicklungen in der Ukra- ine vom 3. März 2022; www.unhcr.org/dach/de/74389-1-million-fluechtlinge-sind-innerhalb-einer-woche-aus-der-ukraine-geflohen.html