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Kinder sind keine Tyrannen. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) zur WDR-Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind“

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Vor kurzem hat die Ausstrahlung einer Dokumentation über die Praktiken des Bonner Kinder- und Jugendlichenpsychiaters und prominenten Autors Michael Winterhoff am 9.8.2021 im WDR Aufsehen erregt. Von der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF) liegt folgende Stellungnahme vom 3.9.2021 vor:

Stellungnahme der DGSF zur WDR-Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind“

Der TV-Beitrag „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ von Nicole Rosenbach (Die Story, Erstausstrahlung am 9. August 2021, WDR-Fernsehen) befasst sich mit der Arbeit des auch als Bestsellerautor bekannten Kinder- und Jugendpsychiaters Dr. Michael Winterhoff. Der Bonner Facharzt arbeitet mit Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen zusammen und behandelt Kinder aus stationären Einrichtungen. Seine Behandlungsmethoden werden in der Dokumentation heftig kritisiert. Als Autor wurde Winterhoff vor allem mit dem Sachbuch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ bekannt, ein Bestseller aus dem Jahr 2008.

Als größte systemische Fachgesellschaft mit über 8000 Mitgliedern (u. a. systemisch- therapeutisch/-beraterisch arbeitende Sozialarbeiter*innen, Pädagog*innen, Sozialwissenschaftler*innen, Erzieher*innen, Psycholog*innen, Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen) sehen wir uns zu einer Stellungnahme veranlasst, da wir gerade an der Schnittstelle Psychiatrie, Psychotherapie und Jugendhilfe Kinder und deren (Familien-)Systeme im Blick haben und das im Film gezeigte Material systemischen Grundannahmen und -haltungen eklatant widerspricht.

Aus systemischer Sicht ist eine wichtige Grundannahme für die therapeutische, beraterische und erzieherische Arbeit mit Menschen, dass diese nicht „direktiv instruierbar“, also zu einem ganz bestimmten, von anderen festgelegten Verhalten zu veranlassen sind.

Kinder benötigen für eine gesunde Entwicklung sichere Bindungen zu ihren Eltern, Schutz und das Gefühl der Zugehörigkeit zu ihrer Familie. Sie benötigen Anregung, Förderung, Ermutigung und Erziehung und das in erster Linie in und durch ihre Bezugspersonen. Die Bindungsforschung bietet Erkenntnisse über den engen Wechselkontakt zwischen dem motivationalen System „Bindung“ und dem zweiten motivationalen System „Exploration“. Ein Leben lang stehen diese beiden Systeme zueinander in Bezug. Unsicherheit und Angst aktivieren das Bindungssystem und erst nach seiner Beruhigung aktiviert sich das Explorationssystem und es gibt den Mut, die Welt weiter zu erkunden und verändernde Erfahrungen zu machen. Die Aussagen in dem Filmbeitrag widersprechen diesen Prämissen und sind zutiefst irritierend.

Kinder, Jugendliche und ihre Familien sind – als „lebende, komplexe Systeme“ – gleichzeitig in der eigenen Autonomie, ihrer einzigartigen Individualität und in ihrer Würde anzuerkennen. Kinder, die sich auffällig verhalten und ihre Eltern herausfordern, tun dies aus einer inneren Not heraus und nicht, um Eltern zu tyrannisieren! Wenn Kindern und Eltern geholfen werden soll, muss es in erster Linie um ein ganzheitliches Fallverstehen gehen und nicht um eine linear-kausal abgeleitete, standardisierte Symptom-Diagnose-Pharmakotherapie-Trias. Nur die Erfassung von individuellen Familiendynamiken und eine Beteiligung der betroffenen Familienmitglieder an pädagogischen, therapeutischen und medizinischen Maßnahmen führen zu langfristig tragfähigen Lösungen.

Dies fordert von professionell Erziehenden und Therapierenden eine Haltung, welche die Selbstorganisation, die bisherigen Lösungsversuche, Ressourcen und individuelle Stärken von Kindern, Jugendlichen und deren Familien anerkennt. Ausgehend von dieser Haltung werden Menschen dabei unterstützt, sich in ihrer Selbstwirksamkeit und Kompetenz zu erfahren. Dies bedeutet auch, Menschen in ihren komplexen Zusammenhängen wahrzunehmen, systeminterne Lösungswege anzuerkennen, zu verstärken und wertzuschätzen.

Patient*innen und deren Familien ist mit dem gebührenden Respekt, Interesse und hoffnungsgebender Zuversicht zu begegnen. Das Ziel sollte sein, gemeinsam mit ihnen neue Möglichkeitsräume zu schaffen und auf die individuellen Bedarfe der Familiensysteme zu achten.

In den Büchern Winterhoffs und in der WDR-Dokumentation zeigt sich diese Haltung in keiner Weise. Es wird vielmehr das scheinbare Versagen der Eltern und des Schulsystems präsentiert sowie eine lineare Sichtweise auf Erziehungsziele. In gezeigten Fällen aus der Praxis Winterhoffs konzentriert sich die Behandlung offensichtlich auf die Vergabe von Psychopharmaka.

Kinder werden als Ergebnis von schwacher Erziehung als „Tyrannen“ bezeichnet. Das abwertende Narrativ setzt den Kontrapunkt zu dem, was Kinder in Rückkopplung von uns Erwachsenen zum gesunden Aufwachsen dringend benötigen: als wertvolle und leicht verletzbare Menschen gesehen und wahrgenommen zu werden.

In dem Fernsehbeitrag wird auch die Schattenseite einer systemübergreifenden Kooperation zwischen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Jugendhilfe deutlich. Systemübergreifende Kooperationen sind dann hilfreich, wenn es das gemeinsame Ziel gibt, Kindern im Kontext ihrer Familien ein gesundes Aufwachsen zu ermöglichen. Und systemübergreifende Kooperationen sind dann hilfreich, wenn die Kooperation auf Augenhöhe stattfindet, jedes System dabei bei seiner spezifischen Kompetenz bleibt, die Betroffenen nicht als Objekte staatlicher und medizinischer Fürsorge betrachtet, sondern beteiligt werden und regelmäßige kritische Selbstreflexionen des Miteinanderagierens stattfinden. Problematisch wird die Kooperation – wie in dem TV-Beitrag zu sehen – wenn die Systeme hierarchisch agieren, die Jugendhilfe ihren eigenen Auftrag verlässt und die Verordnungen eines Kinder- und Jugendpsychiaters auch dann noch unreflektiert umsetzt, wenn es Kindern dadurch augenscheinlich schlechter geht.

Winterhoff spricht Eltern, Angehörigen oder Bezugspersonen und professionellen Akteur*innen, die eine andere Sicht auf die Situation haben, eigene Kompetenzen und Fähigkeiten ab. Er wendet Druck an und droht mit Einschaltung einer Aufsichtsbehörde oder eines Gerichtes. Dies verunsichert die Betroffenen und schwächt die Bereitschaft der Eltern, an einer nachhaltigen Lösung mitzuwirken. Gänzlich vermisst wird eine kontinuierliche psychotherapeutische Begleitung der Kinder und deren Bezugspersonen, die ein Leben in gelungener Selbstorganisation zum Ziel hat.

Die im Film gezeigten Praktiken betreffen viele junge Menschen und Einrichtungen der Jugendhilfe. Sie lassen sich nicht zuletzt auf ein Bedürfnis nach Vereinfachung zurückführen, welches sich nicht an den Bedarfen der Menschen orientiert, sondern an dem Wunsch nach einer kostengünstigen Jugendhilfe und einem sparsamen Gesundheitswesen. Die Dokumentation macht deutlich, dass Hilflosigkeit, (Kosten-)Druck und Überforderung nicht nur in den Familien der Kinder, sondern auch in den Systemen Jugendhilfe und Gesundheitswesen kaum Kraft für kritisches Hinterfragen, entschiedenen Widerstand und Durchsetzungsvermögen zum Wohle der Kinder wachsen lässt.

Dies ist tragisch, da gerade der Einbezug von Familie im Rahmen von Hilfen zur Erziehung, in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und in der systemischen Familientherapie wissenschaftlich fundierte Möglichkeiten aufzeigt, um Familien und Kindern gemeinsam Entwicklungsräume zu bieten, in welchen familiäre Beziehungen gestärkt und Selbstwirksamkeit erfahren werden kann.

Wir blicken mit großem Respekt auf den Mut und die Kraft der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen, die in dieser Dokumentation über ihre Geschichte mit solch gravierend verletzenden Erfahrungen gesprochen haben. Ihnen gebührt großer Dank für die Möglichkeit einer gründlichen Aufarbeitung der Geschehnisse durch diese Veröffentlichung.

Als Fachverband empfehlen wir, die in der Filmdokumentation gezeigten „einfachen Lösungen“ intensiv zu reflektieren. Wir setzen uns dafür ein, dass ein hilfeorientierter Kinderschutz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe in den Fokus rückt und gleichrangige systemübergreifende Kooperationsstrukturen integriert werden, gesichert durch eine gute finanzielle und personell hochqualifizierte Ausstattung in den Systemen des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe!

Dr. Filip Caby, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Familientherapeut und Sachverständiger, DGSF-Vorsitzender
Anke Lingnau-Carduck, Diplom-Sozialpädagogin, Familientherapeutin, DGSF-Vorsitzende
Prof. Dr. Matthias Ochs, Psychologischer Psychotherapeut, stv. DGSF-Vorsitzender
Birgit Averbeck, Diplom-Sozialpädagogin, DGSF-Fachreferentin, Jugendhilfe/-politik und Soziale Arbeit
Carla Ortmann, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin i. A., DGSF-Fachreferentin, Gesundheitspolitik

DGSF e. V., Jakordenstraße 23, 50668 Köln www.dgsf.org | info@dgsf.org

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4 Kommentare

  1. Brigitte Ott sagt:

    Super Stellungnahme von der DGSF! Vielen Dank dafür!
    Ich habe die Dokumentation im WDR gesehen und war entsetzt über die Berichte von Kindern, Jugendlichen, Erziehungsverantwortlichen und verantwortungsvollen Fachleuten. Allein Kinder als Tyrannen zu bezeichnen entbehrt jeglichen respektvollen und professionellen Umgangs mit Menschen und widerspricht zutiefst systemischer Haltung. Es ist unglaublich wie Eitelkeit und Machtorientierung eines Einzelnen von Medien und hilflos erscheinenden Jugendhilfeinstitutionen und nicht zuletzt von der Justiz widerspruchslos genährt werden. Dass mit diesen scheinbar einfachen Lösungen, Kinder, Jugendliche, Eltern und Pädagog_innen allein gelassen werden oder zu Versuchskaninchen degradiert werden, sollte uns zu denken geben. Es gibt keine Wahrheiten und einfachen Lösungen, sondern alles muss verhandelt werden auf Augenhöhe mit Respekt und Achtung vor den Entscheidungen aller Beteiligten. Das hat dieser Bericht sehr deutlich gemacht.
    Brigitte Ott (PPSB Hamburg)

  2. Lothar Eder sagt:

    Die Stellungnahme der DGSF speist sich ganz offenbar aus der Empörung über Winterhoffs Vorgehen, verbindet dies aber mit einem völligen Fehlen einer Beschreibung von Fakten, was eigentlich genau kritisiert wird. Was soll man damit anfangen, wenn man den Film nicht kennt?
    Winterhoffs Buch – sein praktisches Vorgehen ist mir nicht bekannt – fand ich außerordentlich hilfreich. Er beschreibt Reifungsdefizite der jüngeren Generation, die im (therapeutischen) Alltag systematisch beobachtet werden können. Z.B. wenn zur Sprechstunde beim Professor an der Uni die Eltern des studierenden jungen Menschen erscheinen, um sich nach den Anforderungen für die anstehende Hausarbeit zu erkundigen.

  3. Rita Schawer sagt:

    Ich bin jetzt nicht ganz sicher, warum eine Kritik an der Arbeit Winterhoffs kritisiert wird, wenn es sich die Arbeit Winterhoffs ist, die durch die Gesellschaft infrage gestellt wird. Oder wie ist das zu verstehen? Für eine Rückmeldung bedanke ich mich im Voraus.

  4. Traurig der Beitrag im WDR, sehr schön die Stellungnahme der DGSF. Die Arbeit in Komplexität ist anstrengend und braucht Zeit. Und die Eltern kommen ja, und wollen, dass der Tyrann funktioniert. Nein tut er nicht. Es erfordert so viel Liebe, Verständnis und Fingerspitzengefühl und Fachwissen. Und eben diese komplexe Unterstützung. Woher sollen die Medien das wissen….. dabei könnten sie so hilfreich sein. In diesem Sinne- danke für diese Stellungnahme.
    K. Bärhold

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