Peter Fuchs, Soest: Kanonische Phraseologien in der Zunft der systemischen Therapie und anrainender Sozialberufe
Ich weiß, dass ich mich auf verbotenes Gelände begebe, in eine Zone der Tabuisierung. Aber ich lege meine angeborene Scheuheit für diesmal ab. Denn das, worüber ich schreiben werde, kann nicht sein, weil es nicht sein darf. Aber dennoch gibt es dies: eine endemisch wohlmeinende, gefühlig-moralische Phraseologie in systemischer Psychotherapie und systemischer Sozialarbeit. Sie wird sogar gelehrt. Und das ärgert mich maßlos. Die Szene, von der ich rede, scheint nur aus moralischen Überbietungsformeln zu bestehen, die in jedem anderen Fach (sagen wir: in der Physik, in der Soziologe, der Biologie, der Systemtheorie etc.), eigentlich niemanden ernsthaft überzeugen können, denn all jene Formeln kranken an offenbar unheilbarer Sachfremdheit, Pathos und Phrase genannt. Ich gebe einige davon zu bedenken.
„Unser Leitbild, unser Wertehintergrund, unser Wir etc.“
Da ist zum Beispiel ‚unser Leitbild‘, unser Wertehintergrund, unser ‚Wir‘. Wenige wissen, was diese Ausdrücke bedeuten. Leitbilder sind Phantasmen von Gruppen, die sich darüber verständigt haben, wie die Welt sein soll, und dieses Wissen anderen Leuten, die einem ‚Wir‘ zugerechnet werden, obstinat aufdrängen. Wir alle sind, heißt es, einem Leitbild verpflichtet oder werden dazu verpflichtet, uns zu verpflichten auf solche zugemuteten Verpflichtungen. Pflichtenkollisionen sind zwischen diesen Verpflichtungen nicht vorgesehen.
Noch anders gesagt: Leitbilder sollen Gefolgschaften bilden, sei es in Konzernen, sei es in psychotherapeutischen Kontexten. Wenn jemand folgt, ordnet er sich einer ‚Gemeinschaft‘ ein, deren Mitglieder nicht mehr selbst zu denken brauchen, weil für sie gedacht wird – vom ominösen ‚Wir‘. Sogar der ‚Wertehindergrund‘ ist der von uns allen, denn: Wir sind alle irgendwie eins, ob vegetarisch oder karnivor, ob Sozialistin oder konservativ Grüner.
Sicher ist, dass eine Praxis nicht den Hauch eines eigenen Profils gewinnt, wenn sich alle auf dasselbe Leitbild, auf den gleichen (verordneten und nicht selten dogmatischen) Wertehintergrund einlassen. Darin steckt nicht die mindeste Kreativität, sondern einfach nur ein aufgepumpter Konformismus. Nichts ist entlarvender als Verkündigungen, die sagen: Wir sind kreativ und innovativ und individuell. Das ist ein Widerspruch in sich selbst. Und alles andere als qualitätsfördernd.
„Wertschätzende Offenheit als Grundlage gelingender Kommunikation“
Eine passende Sponti-Weisheit lautet: „Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein.“ Wertschätzende Offenheit, das scheint diese alte Weisheit zu bestätigen. Denn wer ‚wertschätzt‘, schätzt Werte, aber offenbar nicht alle, denn jeder Wert schließt andere Werte aus, und je mehr Werte geschätzt werden, desto ausgedehnter wird die Zone nicht-geschätzter Werte. Das ist nicht zufällig ebenso wie bei Moral: Sie unterscheidet zwischen Achtung/Missachtung. Wer bestimmtes achtet, muss notgedrungen vieles ächten. Moral ist keineswegs und wie automatisch gut, sie kann verheerend wirken.
Aber die Rede ist auch und verwirrenderweise von ‚gelingender Kommunikation‘. Verwirrend ist: Kommunikation gelingt ersichtlich immer, wenn sie stattfindet. Wenn eine Bankräuberin mit einer Pistole in der Hand Geld vom Bankangestellten fordert, so ist die Kommunikation gelungen, wenn ihr der zitternde Mann das Geld gibt; wenn jemand zu seiner Lebenspartnerin sagt: „Ich liebe Dich, Du kannst mich gar so sehr lieben wie ich Dich!“, kann die Replik lauten: „Nööö … kann ich nicht und will ich nicht. Ich wäre ja bekloppt …“, dann hat die Kommunikation schlicht und einfach funktioniert. Und wenn der Mann sagt „Dann gehe ich!“ und die Frau erwidert „Prima, Gott sei gedankt, hau endlich ab!“, kann man kaum von einer misslingenden Kommunikation sprechen.
Es sei denn: Man hat einen Friede-Freude-Eierkuchen-Begriff von Kommunikation. Das scheint allenthalben der Fall zu sein: diese Vermeidung der Referenz auf die Komplexität des Kommunizierens. An diese Stelle tritt die Idee, Kommunikation gelinge, wenn sie irgendwie ‚gut‘ ausgeht, harmonisch, konsensuell, schlimmer noch: nett. Das passt zu habituellen Konfliktvermeidungsstrategien, die weder Konsens über Dissens noch Dissens über Konsens vertragen können.
„Im Zentrum sehen wir die Menschen, mit denen wir arbeiten, den ganzen Menschen mit all seinen Qualitäten, das Recht eines Jeden auf seinen Platz in unserer Gesellschaft, das Recht eines Jeden auf seinen eigenen Lebensentwurf.“
Nun, ich will wieder ganz ehrlich sein. Dieses Zitat ist köstlich. Es wimmelt von Unbedachtheiten. Da ist wieder – natürlich – jenes obskure ‚Wir‘, das noch nie jemand gesehen hat, von dem aber gesprochen wird, wenn man eine wärmende, schwarmartige, gleichsinnig zuckende Gemeinschaft vor Augen hat. Aber das ist noch ganz harmlos, denn wir (wer?) sehen die Menschen, mit denen wir arbeiten, nicht jedoch einfach Leute, die Psychotherapeut/innen einen Auftrag, ein bestimmtes, präzise eingeschränktes Mandat erteilen, sondern eben die Menschen als solche. Man sieht sogar den ganzen Menschen (nackt?), so als ob das Ganzes/Teil-Schema nicht schon längst intellektuell erledigt wäre und als wäre der Mensch noch das Maß aller Dinge und nicht das Maß aller Schneider (Hans Arp).
Ganzheitliche Betreuung, das würde auch Sexualität, Intimität usw. einschließen. Das kann wohl nicht gemeint sein. Und man sieht darüber hinaus den ganzen Menschen mit all seinen Qualitäten. Was – um Gottes und der Teufel willen – sind aber genuin menschliche Qualitäten? Wo lungern sie herum? Qualitas ist das ‚Wie einer Beschaffenheit‘, das (soweit die Wissenschaft) durch Sozialisation zustande gekommen ist – ausnahmslos.
Wer definiert, was wirklich wirklich menschliche Qualitäten sind: der Papst? Oder die Psychotherapie? Sind therapeutische und soziale Berufe verfügungsberechtigt, wenn es um menschliche Qualitäten geht? Wenn sie sich tatsächlich für solche Berechtigten halten und daran glauben, dass sie sind, wovon sie glauben, dass sie es seien, könnte man dann noch von Professionalität reden? Oder wäre es nicht gleich besser, von Ideologie zu sprechen?
Dass jeder seinen Platz in der Gesellschaft hat, ist umstritten, aber ist dann dieser Platz kein Platz, wenn jemand im Gefängnis ist? Und kann man das Recht auf je eigene Lebensentwürfe einklagen? Ein oft vernehmbarer Einwurf: Ich halte mich an nichts. I would prefer not to … (Bartleby). Das ist wahrlich männlich/weiblich gesprochen, aber begründet keine Individualität, sondern führt nur vor die Schranken der Gerichte oder in die Landeskliniken, wo das Individuelle nicht so sehr geschätzt wird, wenn es die echten Rechte anderer verletzt.
All dies sind gewiss rhetorische Fragen, die man nicht stellen müsste, wenn man sie nicht zu stellen hätte in einem Kontext, der dogmatisch rhetorisch sich für vortrefflich hält.
„Darum bieten wir an: Sprachrohr zu sein, Lösungen im Dialog zu entwickeln, uns darauf einzulassen, individuelle Lebensgeschichten eine Zeit lang zu begleiten, Menschen als verantwortliche Akteure ihrer eigenen Entwicklung zu begreifen und Orientierung zu geben durch authentische, natürliche Betreuungsstrukturen.“
Die erste Metapher ist wolkig und heiter. ‚Wir‘ bieten an: Sprachrohr zu sein. Das ist erst einmal eine stilistische Entgleisung. Ein ‚Wir‘, ein Sprachrohr (Flüstertüte?), womöglich konisch geformt? Und wieso will und darf jemand für jemanden, gar für viele Jemande lauthals sprechen? Weil sie offenbar selbst nicht (richtig!) sprechen können? Jedenfalls scheint das ‚Wir‘ davon auszugehen, dies einfach zu können, vor allem: zu dürfen.
Lösungen werden im Dialog entwickelt. ‚Wir‘ Besonderen lassen uns sogar darauf ein. Das ‚Wir‘ ist so nett, es ist so freundlich, sich einzulassen (einzubringen); aber vielleicht ist es nur ‚herablassend‘. Dafür spricht auch, dass Begleitung angeboten wird, obwohl sie doch der Profession nach eigentlich nur – wenn schon, denn schon – reziprok möglich ist. Man begleitet sich doch immer gegenseitig, der Mandant also auch die Therapeuten. Man sollte aber hinzufügen, dass ‚Begleiten‘ ohnehin eine Pathosformel ist, zulässig höchstens, wenn man sein Kind auf dem Weg zum Kindergarten begleitet, mitunter ‚geleitet‘.
Eine Zeit lang …? Warum nicht gleich: ‚ein Stück weit‘? Danach wird der Mandant wieder freigegeben für seine individuelle Lebensgeschichte. Er ist schließlich ein verantwortlicher Akteur seiner eigenen Entwicklung, ein Satz, der nach Darwin, Freud und mit allen soziologischen Einsichten eigentlich nur noch lächerlich wirkt, aber auch nach all den Katastrophen, die die Menschheit hinter sich hat. Flüchtlinge, sind sie verantwortliche Akteure ihrer eigenen Entwicklung? Ich höre es wohl, jedoch …
Orientierung wird gegeben, das ist erfreulich, aber woher kommt sie? Wohin soll orientiert werden? Welche Dogmen stecken dahinter? Welche Methoden darf man erwarten?
Nun, die Methoden sind natürlich ‚natürlich‘, unbeschadet des Umstandes, dass noch nicht bekannt geworden ist, was denn ‚Natur‘ sei. Automatisch gut wie ein Vollwertkürbisbrötchen? Da muss man Vulkane, Haie, giftige Schlangen fragen. Aber sei´s drum. Es kommt ja noch unausweichlich das Wort ‚authentisch‘. Es kommt immer, man hat es gelesen (im Studium). Es wirkt überzeugend. Das Problem ist nur, dass Betreuungsstrukturen per definitionem nicht authentisch sein können. Jeder und jede (auch die Mandanten) wissen, dass für Betreuungen Zahlungen erfolgen müssen; wenn nicht, keine Leistungen dieser Art.
Allerdings hätte man mitsehen können (nach all dem authentischen Studium), dass jede Mitteilung, die authentisch sein soll, sich selbst dementiert. Das sage ich ‚natürlich‘ authentisch.
Und natürlich aufrichtig. Aufrichtig sage ich auch, dass ich niemanden verletzen wollte, allenfalls ein bisschen stutzig machen. Dass dies ein Satz ist, der im Genre eines Floskelwerks zur Bekundung von Nettigkeit spielt, ist klar. Natürlich und authentisch gesagt: Ich bin sehr wütend – als Choleriker, wie meine Frau formulieren würde, aus ethischen Gründen, wie ich es ausdrücken würde, was sich ja wiederum von selbst versteht in der Szene, die wir vor Augen hatten.
P.S.: Wenn jemand weitere Beispiele kennt, er oder sie möge sie mir schicken. Vielleicht wird ein Wörterbuch daraus. Satiren und Cartoons zum Thema gibt es ja schon genug.
Guten Morgen Herr Eder
Morgenstund hat Gold im Mund, vielleicht. Nun, wenn Sie schreiben, dass Psychotherapie „das Herstellen einer Atmosphäre (ist), in welcher der Patient entspannt auf seine Verhältnisse, seine Themen, Knoten usf. schauen kann“, kann ich dann zustimmen, wenn psychische Turbulenzen ihm diesen Zugang erstmal nicht verstellen. Die Frage ist nur, ob er dann eigentlich schon nicht mehr Patient i.e.S. ist. Meine Erfahrung (bei aller Sympathie für Sloterdyk oder Byung Chul Han) geht doch eher in die Richtung, dass Patienten kommen oder geschickt werden, weil sie sich oder ihre nahen Angehörige deren Emotionen, Handeln und Verhalten nicht mehr aushalten. Und hier braucht es m.E. Fachleute, die sich entlang einer (oder gerne auch mehrer) Theorie/n in dieser komplexen Systemdynamik orientieren können, um sich selber und den „roten Faden“ nicht zu verlieren und schliesslich die Komplexität in therapeutischem Tun auch wieder vereinfachen zu können. Und das ist oft harte Knochenarbeit und in diesem Sinne fühle ich mich als Handwerker oft dem LKW fahrer auch verbunden. Allerdings hat dieser m.E., bei allem Respekt für sein Metier un den belastenden und Aufmerksamkeit verlangenden Berufsalltag, wohl doch etwas einfacher.
Morgengruss
Martin Rufer
Lieber Herr Rufer,
ich vermute, daß die Leute, die zu Ihnen kommen, die gleichen Motive haben wie die, die zu mir kommen. Worauf ich mich bezogen habe ist die Atmosphäre, die herzustellen ist und die m.E. Voraussetzung dafür ist, das, womit der Patient Schwierigkeiten hat, betrachten und eine Neu-Organisation anregen zu können. Das setzt einfach Entspannung in der Therapiesituation voraus; ich vermute, daß wir uns da nicht sehr unterscheiden.
Daß dieses Herstellen von Entspannung paradoxerweise Knochenarbeit ist, da stimme ich Ihnen nach 30jähriger Arbeit in diesem Beruf sehr zu. Wenn man mich aber am Ende eines Therapietages fragen würde, wieviel Theorie ich für meine Arbeit gebraucht habe, würde ich womöglich antworten: wahrscheinlich eine Menge, aber der Patient und ich haben es wahrscheinlich nicht gemerkt.
Gute Grüße zum Morgen,
Lothar Eder
Ja, was das „Nicht merken theoretischen Wissens“ anbetrifft, gehe ich insofern mit Ihnen einig als ein solches für Therapeuten mit viel Erfahrung ein implizites ist und für Patienten mit wenig Erfahrung eines, das sie ihrem Therapeuten in Treu und Glauben vertrauensvoll zuschreiben. Etwas schwieriger wird es, wenn sie z.B. auch als Lehrender herausgefordert sind verständlich zu machen, warum das zu tun und jenes zu lassen, was denn und warum in der Therapie wirkt und was für Patienten Sinn macht, was mit was (nicht) zusammenhängt, wie sich individuelle, partnerschaftliche und familiäre Krisen (dys-)funktional verstehen lassen, woran ich mich bei der Navigation/Steuerung von Turbulenzen orientiere usw. Da hilft es mir als Lehrender in Kooperation mit Lernenden, wenn ich das nicht nur praktisch anschaubar (Life oder Video), sondern auch stringent nachvollziehbar (replizierbar) machen kann, damit unser Metier um mit Peter Fuchs zu sprechen nicht zum „Geschwurbel“ oder zum „desorientierten Herumrudern im Zeug von Zeugleuten“ wird.
Immer noch mit Morgengruss
Martin Rufer
Bei Ihrer Unterscheidung von praktizierter Therapie und diesbezüglicher Lehre kann ich gut mitgehen – und denke, daß auch im Lehren nur ein Ausschnitt explizit beschreibbar ist; der andere Teil, das Atmosphärische, Intuitive wird sich immer nur erahnen lassen.
Grüße zur Nacht, Lothar Eder
Lieber Herr Rufer,
ja, dies entspricht weitgehend meinen Auffassungen. Hinzufügen würde ich nur, dass es Möglichkeiten gibt, an bestimmten Stellen weiterzudenken. So könnte man mit Husserl von ‚Bereichs- oder Regionalontologien‘ ausgehen, die ich gewöhnlich ‚fungierende Ontologien‘ nenne. Damit ist nichts weiter benannt als der Umstand, dass die Weise, in der wir in der Welt situiert sind, es in der Moderne nicht mehr zulässt, das EINE Sein, den EINEN logos zugrunde zu legen, um sich die Weltverhältnisse zu ordnen, sondern diese Eins sprengt (oder das Wissen um diese Sprengung inzitiert). Wir existieren, wenn ich das dramatophil ausdrücken darf, in einer Vielzahl von Ontologien. Ich bin, um nur ein Beispiel zu nennen, Professor für Allgemeine Soziologie und für Soziologie der Behinderung, vielkindriger und vielenkeliger Vater und Großvater, ich bin Katholik und Skeptiker, ich habe einen Gedichtband geschrieben (Kadmos), ich rauche leidenschaftlich, gelte als Systemtheoretiker, spiele Klarinette … Ich sage mit all dem nichts Neues, sondern nur, dass Psychotherapeut/innen eben auch so eine Ontologie entwickeln, die man nur prüfen kann, wenn man gelernt hat, sich zu distanzieren, also nicht einfach auf ihr zu reiten. Das Mittel dazu ist eine Theorie der Beobachtung, die sich selbst einschließt, also gelten lässt, dass sie Beobachtung ist und deswegen gelten lassen muss, dass sie niemals richtig beobachtet, weil niemand richtig beobachten kann. Der Mandant wie die Therapeutin stecken in ihren eigenen Ontologien.
Ein Beispiel: Auch ich war Klient einer Psychotherapeutin, hineingezwungen in diese Lage durch meine Familie, die überzeugt war davon, ich litte unter Depressionen und es brächte gar nichts, wenn ich dauernd von in meinem Beruf erwartbarer schwarzen Galle, von Melancholia sprach oder bei der Therapeutin die Wonnen der Nichtigkeit des Lebens pries. Sie stellte fest, dass ich litte. Ich erklärte ihr, dass ich gar nicht wisse, was denn ein Ich oder ein Selbst sei, und außerdem würde ich die Methoden, die sie anwende, kennen. So entstand eine hyperkomplexe Situation, die mich darin bestätigte, dass Psychotherapie, die dem nicht Tribut zollt, einfach unterkomplex verfährt. Sie sollte, um es wieder polemisch zu sagen: nicht einfach nur ‚menscheln‘. Luhmann sagte einmal sinngemäß, als man ihn nach seinem Verhältnis zu Menschen fragte, man müsse ihm nur die Adresse DES Menschen nennen, also den Ort, wo man ihn, DEN Menschen finden könne.
Ihr Verweis auf das Handwerk passt sehr gut.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs
Dass Sie sich (und wir einander) über die Theorien, Begriffe, Ontologien hinaus erlauben und einander auch vertrauensvoll zutrauen, auch etwas in die eigenen Karten zu zeigen, finde ich für den Di- oder Trialog – und das meine ich nicht aus einer therapeutischen Optik – bereichernd. Keines Falls möchte ich mich nun aber reflektierend oder kommentierend in Ihre therapeutische Selbsterfahrung besserwisserisch und altklug einmischen. Sie zeigt aber, dass Komplexität, die es auch in der Therapie als solche zu erfassen gilt. Ja, „der Mandant wie die Therapeutin stecken in ihren eigenen Ontologien“, das sehe ich auch so. Ob man dem, i.S. einer gelingenden therapeutischen Kooperation, mit ausreichend passender Theorie oder aber „Selbsterfahrung“ des Therapeuten hinreichend Rechnung tragen kann, weiss ich nicht. Deshalb orientiere ich mich gerne am Modell und der Theorie der „Selbstorganisation“ sensu Synergetik, die über die strukturelle Koppelung der Autopoieses aufnimmt, aber auch darüber hinausweist (vgl. dazu auch die Arbeiten von Schiepek, Kriz u.a.). Aus dieser lassen sich bei der Orientierung in und durch die Komplexität auch „Generische Prinzipien“ ableiten lassen, die einem bei der Orientierung helfen und Handeln (als Beobachter) nicht beliebig wird. In meiner Sprache als Praktiker und getreu meinem Motto (Buch) „Erfasse komplex, handle einfach“, heisst dies: Wandel ist eine Türe, die zwar von aussen (z.B. Therapeut) angestossen, aber nur von innen geöffnet werden kann.
Mit liebem Gruss
Martin Rufer
Lieber Herr Eder und Herr Fuchs
…und noch anzuhängen (da bei uns heute in der Schweiz heute Sonntag ist), die Theorie nicht einfach zum (alleinigen) Referenz-, Bezugssystem für die Praxis wird. Gerade wir Praktiker hätten den Theoretikern Einiges zu sagen, wenn es den auch gesagt und vernommen und entsprechend umgesetzt und konzeptualisiert würde.
Mit sonntäglichem Gruss
Martin Rufer
Lieber Herr Rufer,
ich habe nichts einzuwenden außer eine Kleinigkeit: Was machen wir, wenn Praxis keine Theorie hat? Sie lässt sich doch (sachhaltiger vielleicht) begreifen als ‚Domäne des Vergessens‘ (Polanyi). Sie scheint sich zu konstituieren durch ein Vergessen-müssen dessen, wieso das, was man tut, gekonnt werden kann. Sie haben mir gerade geschrieben. Das geht nur, wenn sie sich erinnern müssen, wie man schreibt. Wenn man mich auf Menschen mit psychischen Leidensdrücken losließe, kann ich nicht helfen, weil ich mich erinnern müsste, was ich gelesen habe darüber, wie man das tun müsste, und ich könnte das dennoch nicht, weil ich in jedem Moment während einer derartigen Situation erinnern müsste, was habe ich dazu gelesen. Wenn
ich mich – ins Wasser gefallen – erinnern müsste, wie man schwimmt, gehe ich bedauerlicherweise unter, wenn nicht jemand kommt, der nicht erst erinnern muss, wie man jemanden aus den Fluten rettet. Kurz: Vielleicht ist Praxis weitaus komplexer, als die Praktiker/innen meinen. Aber das ist ebenfalls aus Zeitmangel, nur so hingetupft.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs und Herr Rufer,
das ist eine sehr spannende Frage: wie macht der Praktiker das was er macht, wenn er es nicht aus einer Theorie ableitet. Wie Martin Rufer denke ich, dass „wir“ Praktiker den Theoriebildnern einiges zu erzählen hätten hinsichtlich impliziter Theorien bzw. „impliziten Wissens“ (Polanyi). Es gibt ja in der qualitativen, vornehmlich in der soziologisch bzw. sozialwissenschaftlich verorteten, Forschung vielerlei Material dazu (v.a. M. Buchholz halte ich hier für federführend). Man braucht dazu allerdings Kategorien, welche die Systemtheoretiker i.d.R. a priori ablehnen bzw. sie sofort zum Spielball ihrer eigenen Diskursregeln machen: z.B. die Kategorie der unbewußten Prozesse. Darauf genau, lieber Herr Fuchs, beziehen Sie sich nämlich, wenn Sie vom Schwimmen sprechen: von unbewußten Prozessen, die keine Theorie benötigen. Genau dies ist auch die Domäne der Psychotherapie: im Ungefähren, „Vagen“, Unscharfen, Kommunikation mit einem Gegenüber so zu gestalten, daß sich daraus für Patienten brauchbare, heilsame Neu-Organisationen und Selbstregulationen ergeben,
Nach wie vor fände ich den von mir vorgeschlagenen Dialog Systemtheoretiker-Psychotherapeut reizvoll, wenn Sie mir meine Rede vom „Geschwurbel“ nicht allzu übel nehmen.
Herzlich, Lothar Eder
Lieber Herr Eder,
mein Eindruck ist, dass wir nicht sehr weit kommen, wenn wir nicht klären, was Theorie und Praxis begrifflich (!) bedeuten. In der Theorie, mit der ich arbeitet, sind Begriffe scharfe Unterscheidungen, deren Seiten sich zueinander antagonistisch verhalten, aber so, dass jede Seite ohne die andere keinen Sinn macht.
Wenn ich das als Formel aufzeichne, ergibt sich: Theorie = Theorie/Praxis. Die Begriffsarbeit bestünde darin, im nächsten Schritt die Differenzseiten zu isolieren: Theoria, das ist die Fernsicht, die Distanzierung (in Latein: visio; theoros etwa der Beobachter olympischer Spieler), die den Philosophen in den Brunnen vor seiner Nase fallen lässt. Praxis bezeichnet den Vorgang, dass die ‚pragmata‘ (die Dinge und Verhältnisse) mit Heidegger etwa ein Umsorgen, Besorgen, ein nahes und dichtes Umgehen mit ‚Zeug‘ erzwingen.
Wenn man so formuliert, redet man theoretisch (also wiederum begrifflich) von einer Praxis, welcher auch immer, ohne die Theorie nichts zum Denken hätte. Ohne Theorie hingegen wüsste die Praxis nicht, womit sie umgeht. Sie wäre nichts weiter als desorientiertes Herumrudern von ‚Zeugleuten‘ im Zeug. Alles andere ist, so gesehen, nur die Frage nach der Differenziertheit (Gescheitheit) der Theorie und der Differenziertheit (Gescheitheit) der Praxis. Ich würde an solchen Stellen von einer reziproken Assistenz sprechen. Aber das wäre schon eine Finesse. Mir genügt es, deutlich zu machen, dass Theorie und Praxis kein beliebiges Verhältnis unterhalten. Sie sind füreinander, um die österreichische Amtssprache zu bemühen: ‚Bedingnisse‘. Ich würde hinzufügen: Beide sind in ihrer Koproduktion bedeutsam, weil die Welt unauszählbar ist.
Übrigens: Die oben aufgezeichnete Formel kann ohne Informationsverlust anders notiert werden: Praxis = Praxis/Theorie.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs
Liebe Mit-Debattierende
Da kommt mir der Satz von Kurt Lewin in den Sinn: „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“. Und genau dies scheint mir auch die Herausforderung in der Psychotherapie zu sein, damit diese weder zum manualisierten Interventionitis noch zu einem „desorientierten Herumrudern von ‚Zeugleuten‘ im Zeug“ verkommt. Da scheint mir das Ritual doch eine sehr treffende Umschreibung Rahmung dessen, was ich gestern als „Synchronisation“ beschrieben habe. Sie knüpft damit auch an Anfängen der Psychotherapieforschung an. Im Gegensatz zur eindeutigen und wiederspruchsfreien Negationsblockade im Dom bei der Hostienverteilung Butter zu verlangen(!), sind die Blockaden und Grenzen ausserhalb der Tempelgefilde, z.B. eben im Rahmen einer psychotherapeutischen Veranstaltung weniger klar geregelt und können von einer wie auch immer gearteten Instanz auch schlecht sanktioniert werden, sofern man sich mit Übergriffen nicht strafbar macht. Der Preis dafür ist, dass das Geschäft, wenn es blüht und die Nachfrage gross ist, schnell einmal beliebig (auch theorielos) von Statten geht. Ähnlich wie in heiligen Hallen Messediener, Novizen oder Zöglinge ihren Priestern in gewissem Sinne ausgeliefert sind und auch das heilige Wort nicht vor Übergriffen schützt, entstehen auch hinter den meist gut verschlossenen und kaum einsehbaren Praxisräumlichkeiten u.a. Abhängigkeiten und Grenzüberschreitungen, aber auch Fehler vor denen auch keine noch so gute Theorie den Praktiker und die Praxis schützt.
Gruss Martin Rufer
Lieber Herr Fuchs,
erneuten Dank für Ihre Antwort!
Die Frage, wie weit wir kommen, setzt die Beantwortung anderer Fragen voraus: wer und wo sind wir, woher kommen wir, und wohin wollen wir gehen? Er scheint mir, daß Ihre und meine Verortungen und Wege verschieden sind und von daher derzeit allenfalls Zurufe aus der Ferne möglich sind, die jedoch durchaus ihren Reiz haben.
Theorie und Begriff sind zwei Worte, die mich ansprechen. „Theoria“ als antike Glückstechnik, von Byung Chul Han analog zu Aristoteles als „Verweilen beim Schönen“ bezeichnet. Und Sloterdijk kommt mir in den Sinn; für ihn ist die „Theoria“, die antike Schau, eine Tiefenentspannung des Intellekts: “ Das ist es, was die Neuzeit vergessen hat, weil ihre Idee von Theorie mit der antiken nur den Namen gemeinsam hat, in der Sache aber das Gegenteil bedeuten. Die moderne Theorie meint nämlich Arbeit des Begriffs, wahrend die antike das Schauen bezeichnet, also Ferien des Begriffs“ (in „Selbstversuch“, S. 39).
Aus meiner Sicht steht die Systemtheorie für die „Arbeit des Begriffs“, es wird dort hart gearbeitet. Psychotherapie wäre nach meinem Verständnis nahe bei der antiken Schau angesiedelt: das Herstellen einer Atmosphäre, in welcher der Patient entspannt auf seine Verhältnisse, seine Themen, Knoten usf. schauen kann und aus dieser Schau sich möglicherweise Re-Organisationen und Neu-Orientierungen ergeben.
Das Wort von den „Zeugleuten“ finde sehr ansprechend. Nur stimme ich nicht zu, daß Zeugleute für ihr Tun eine Theorie i.S. expliziter Begrifflichkeiten benötigen. Das gilt für den LKW-Fahrer ebenso wie für die Psychotherapeutin. Nun, ob das wirklich stimmt, weiß ich selbst noch nicht genau, aber ich werfe es mal in den Raum, um abermals an den wunderbaren Polanyi und sein „implizites Wissen“ anzuschließen.
Nun, es gäbe noch viel zu sagen bzw. zu schreiben, doch die Mitternacht rückt näher.
Herzliche Grüße,
Lothar Eder
Lieber Herr Eder, lieber Herr Fuchs,
Theorie als „Verweilen beim Schönen“ zu sehen, das gefällt mir. Und ich gebe auch Herrn Sloterdijk recht, wenn er sagt, dass die Moderne das vergessen hat. Sogar in bestimmten Systemikerkreisen, scheint mir, hat man das vergessen.
Kant wusste noch, dass die beiden Seiten des Erkennens – die kognitive und die ästhetische – notwendig zusammengehören. Er hat allerdings Selbst-Bewusstsein, Sprache und Gesellschaft noch in sein „Transzendentalsubjekt“ eingefaltet – heute käme es darauf an, dies begrifflich zu ent-falten, und dabei Kants Einsicht nicht wieder zu verlieren. Die Kybernetik zweiter Ordnung wäre prinzipiell dazu in der Lage.
Mir scheint, dass Sie, Herr Fuchs, mit meinem Vorschlag nichts anfangen können, Rituale als das Medium zu sehen, in dem biologisches, psychisches und soziales System sich ko-produzieren. Rituale leisten das, weil sie die Einheit des Unterschieds der beiden Seiten von Erkenntnis verwirklichen.
Lieber Herr Friczewski,
meinerseits finde ich Ihre Ausführungen zum Ritual überlegenster, muß das nochmal gedanklich durchdringen –
beste Grüße, Lothar Eder
… überlegenswert, nicht überlegenster …
danke für das Nach-Denken, lieber Lothar Eder.
Ich sehe das Ritual als das grundlegende Kommunikationsmedium, fundamentaler noch als die Sprache.
Die Anlage dazu scheinen bereits nicht-menschliche Primaten zu besitzen. J. Goodall hat beschrieben, wie Schimpansen sich an einem Wasserfall zusammenfiinden und das Rauschen als Stimulans nutzen, um sich gemeinsam in eine Art Trance zu wiegen.
Ich vermute, dass die Hominiden dann lernten, diese Geräusche selber zu erzeugen.
Lieber Herr Rufer,
ich kann Ihnen leicht in den meisten Punkten zustimmen. Unter sonntäglichen Lebensbelastungen lässt sich nur hinzufügen: Niemand kann sich nicht nicht schuldig machen. Man muss dies nur wissen können.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs,
grundsätzlich kann ich Ihnen nur zustimmen. Ich kenne ähnliche Sprach-Spiele aus der Welt der Arbeit. Sie bilden ein zentrales Moment systemstabilisierender Rituale und vernebeln wirksam die untrennbar mit ihnen verbundene, ausbeuterische Praxis. Dies aber nur solange, wie die Beteiligten das Spiel nicht durchschauen und es aushebeln, indem sie ihm seine Attraktivität nehmen. Sehr schön zu lesen sind hier die Bücher von R. Sprenger, der schon vor Jahren höchst amüsant und einladend z. B. den „Mythos Motivation“ entlarvt hat.
Ich fürchte, dass die von Ihnen kritisierten Sprach-Spiele sich mit dem Luhmann’schen Sprach-Spiel nicht wirksam genug ent-kräften lassen, weil es ihnen nicht ihre (offensichtliche) Attraktivität nimmt. Ich möchte Sie (und die anderen Leser/innen) daher zu einem Sprach-Spiel einladen, das die Lebenswelt mit einbezieht.
Ich beginne mal mit den obskuren Worten „Wir“, „Mensch“ und „Menschlichkeit“. Ich verwende das Wort „Wir“ in Texten öfter und ganz bewusst. Ich halte das dann für nicht mehr obskur, wenn ich es a) als Einladung formuliere (die abgelehnt werden kann) und wenn ich b) die Gruppe eingrenze, in der ich mich zusammen mit den Eingeladenen da sehe. Das kann z. B. „der Mensch der Moderne“ sein, im Grenzfall auch „Menschen überhaupt“. Wobei dann natürlich sofort die Frage auftaucht: „Was ist der Mensch? Was macht das spezifisch Menschliche aus?“ Sich dieser Frage zu stellen, haben „wir moderne Menschen“ aufgrund „unserer“ Lebensweise (die genauer zu beschreiben sich lohnen würde) verlernt. Genau deswegen, so meine These, fallen „wir“ auch so leicht auf diese vernebelnden Sprach-Spiele herein und es fällt uns schwer, sie wirksam zu ent-kräften.
Das Sprach-Spiel der Luhmann’schen Soziologie scheint mir dazu nicht in der Lage zu sein, jedenfalls nicht so, wie wir (z. B. Sie und ich) es uns eigentlich wünschen. Es spinnt den Faden, den Luhmanns Antipode Humberto Maturana mit seiner Frage nach dem, was das Menschliche ausmacht, begonnen hat, nicht weiter. Statt dessen durchtrennt es die Nabelschnur, die Kommunikation – die gesellschaftliche Seite des Mensch-Seins – mit der Lebenswelt verbindet, weil es davon ausgeht, Gesellschaft käme anders nicht in den Blick. Maturanas Faden weiterzuspinnen hieße, die rituellen Wurzeln von Kommunikation freizulegen. Dann käme zusammen mit der ästhetischen Seite des Erkennens auch genau jener Bezugsrahmen in den Blick, in dem vernebelnde Sprach-Spiele fast wie von selbst, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen und in dem die entsprechenden Rituale ihre Attraktivität verlieren.
„Die Alternative zur Vernunft als der Quelle für ein universales Wertesystem ist (..) die ästhetische Verführung zur Annahme eines Bezugsrahmens, den der Mensch ganz speziell dafür aufbaut, seine Wünsche (und nicht seine Bedürfnisse) zu erfüllen, und der daher die Funktionen definiert, die jene (kulturelle und materielle) Welt erfüllen muss, in der der Mensch leben will.“ (Maturana, Biologie der Kognition, S. 92)
Lieber Herr Friczewski,
wegen Zeitdruckes nur ganz kurz: Ich denke, mein Buch „Das Maß aller Dinge“ könnte hilfreich sein. Und: Ich würde Maturana und Luhmann nicht als ‚Gegenfüßer‘ begreifen. Warum auch? Schon die Disziplinen sind zu verschieden. Luhmann zupft sich etwas von Maturana heraus, wesentlich die ‚Autopoiesis‘. Was er daraus macht, ist etwas ganz anderes. Ich kann ihm das nicht verdenken, Ich mach´s ja auch nicht anders: Herauszupfen und nutzen, was immer sich nutzen lässt.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Ja, ich weiß, Herr Fuchs, so erzählt man es sich in den Kreisen, die an Luhmann anknüpfen: Luhmann habe sich nur etwas bei Maturana herausgezupft usw. usw.; beide Ansätze berührten sich nicht, sie stünden sozusagen orthogonal zueinander. Aber da wird es doch gerade interessant.
Ich schlage eine Erzählung vor, in der beide sich gegenseitig den Rücken zukehren (so war es ja in der Tat auch im realen Leben der Beiden): sie beobachten vom blinden Fleck des jeweils Anderen aus. D.h. sie nehmen jeweils einen der beiden für uns als Beobachter überhaupt möglichen und denk-baren Standpunkte ein: der eine beobachtet, wie mit Sprache und Selbst-Bewusstsein ausgestattete Individuen sich in ihrem täglichen Leben als lebende (kognitive) Systeme verwirklichen, während der andere beobachtet, wie Gesellschaft sich unabhängig vom Handeln lebendiger Individuen als ein autopoietisches System bloßer Kommunikationen reproduziert. Maturana kann von seinem Standpunkt aus zwar Selbst-Bewusstsein und Sprache erklären, nicht aber das Phänomen Gesellschaft. Luhmann dagegen durchtrennt die Nabelschnur, die den individuellen Beobachter mit seiner Lebenswelt verbindet, um so Gesellschaft erklären zu können. Die Frage nach dem Muster, das beide Perspektiven verbindet, ist bis heute offen.
Mein Vorschlag ist, das verbindende Muster im Ritual zu sehen. Mit der Frage, was „der Mensch“ ist, hat das nichts zu tun. Mir scheint, da haben Sie mich falsch verstanden; sonst hätten Sie mir wohl nicht Ihr Buch empfohlen.
…um das noch kurz zu erläutern: in Ritualen ko-produzieren sich psychisches und soziales System: Rituale stiften die Einheit des Unterschieds von Erleben und Handeln psychischer Systeme und zugleich von Konstitution und Selbstbeschreibung sozialer Systeme. Das von Ihnen kritisierten Sprach-Spiel ist ein schönes Beispiel dafür.
Lieber Herr Friczewski,
ich kann schwerlich etwas antworten, da ich dann die Theorie referieren müsste, von der wir gerade reden. Deswegen nur soviel: In ihr werden lebende, psychische, soziale Systeme aufgefasst als strukturell gekoppelte Systeme, man könnte auch von der Form ‚konditionierter Koproduktion‘ sprechen. Keins von diesen Systemen ohne die anderen, will das heißen. Als Gott sprach ‚Fiat Lux‘, entstand die Dunkelheit – schlageinheitlich. Als die ersten Uhren tickten, gab es plötzlich analoge Uhren. Erst seitdem in der Evolution Sprache auftaucht, kann man Bewusstsein denken.
Was Rituale anbetrifft: Ich würde sie für Negationsblockaden halten. Wenn ich bei einer Messe im Kölner Dom in die Hostie beiße und angewidert rufe „Gibt’s denn hier keine Butter?“, dann werden massive soziale Sanktionen fällig. Anders: Rituale dürfen nicht negiert werden. Das ist ihre Funktion, so die These.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
ja, danke, Herr Fuchs. Auch ich kann ja meine Theorie hier nur andeuten, in der Hoffnung, damit in einem Dialog mit Ihnen und den anderen systemagazin-Leser/innen einen Unterschied zu machen. Die Bedingungen dafür sind in diesem Medium begrenzt. Aber vielleicht ergibt sich ja die Gelegenheit für einen Dialog, wenn Sie wieder einmal in Hannover sein sollten.
Ansonsten: konditionierte Koproduktion, auch: Ritual als Negationsbremse – alles d’accord. Ich versuche halt nur, diese beiden so unterschiedlichen Begriffe zusammen zu sehen, um plausibel zu machen, wie wir die Geschichten erfinden, die wir erzählen, wenn wir die Frage beantworten wollen oder müssen: „Wie halten wir es mit dem Mensch-sein?“
Alles was ich mit meiner Intervention hier wollte, war letztlich: dazu einzuladen, Phraseologien wie die von Ihnen kritisierten als Teil eines Rituals zu sehen, in dem die Beteiligten genau die Welt kreieren, die sie leben und die sie wünschen; und: dass das für die Beteiligten genau deshalb auch attraktiv ist; vielleicht auch: dass sich dieses Theaterspiel spätestens seit der Moderne um die Fetische Wahrheit, Macht, Geld und Maschine dreht; ferner: zu sehen, dass wir selber daher nolens volens immer schon Mit-Spieler/innen sind, dass wir das spätestens aber dann sind, wenn wir die Phraseologie öffentlich kritisieren.
Und vielleicht wird ja dann aus Polemik (die nur Widerstand hervorruft) eine „ästhetische Verführung“, eine Einladung, gemeinsam einen anderen Tanz zu wagen, ein Tango sozusagen… einen Tanz, der das Leben feiert…
Es gibt im Internet einen interessanten Text von Ihnen, Herr Fuchs, in dem Sie berichten, Luhmann habe einmal eines Nachts auf den Fluren der Bielefelder Uni gesagt: „Eigentlich müsste die Theorie zum Lehrgedicht werden!“ Sie wunderten sich, wie ausgerechnet ein Mensch wie Luhmann darauf kommt, und Sie vermuteten, er habe vielleicht auf Parmenides angespielt.
Ich schlage Ihnen eine andere Deutung vor: dass Luhmann uns dazu einladen wollte, uns als Teilnehmer jenes Theaterspiels zu sehen, in dem wir Akteure und Zuschauer gleichzeitig sind, und in dem wir die Erzählungen kreieren, die die Frage beantworten sollen: „Was heißt es für uns, Mensch zu sein?“
Lieber Herr Fuchs,
ich wäre ein schlechter Theoretiker, wenn ich den Begriff „Ritual“ einfach so in den Raum stellen würde. Ich schlage mit diesem Begriff anderen Beobachtern (z. B. Ihnen) einen Mechanismus vor, dessen Operieren das fragliche Phänomen (nämlich Ko-Produktion von individuellem, ver-körpertem Selbst-Bewusstsein einerseits und Gesellschaft andererseits) hervorbringt. Und zwar ohne dass man dabei auf Wunder („Religion“) zurückgreifen muss, aber auch ohne es auf beobachterunabhängige Primärursachen zu reduzieren.
Für diesen Mechanismus habe ich in meinen Beiträgen hier schon einige Mosaiksteine geliefert – in der Hoffnung, dass die Leser/innen sie im freien Zusammenspiel von Einbildungs-Kraft und Verstand (das ist Kants Bestimmung der ästhetischen Urteilskraft, wenn Sie so wollen: das Zwerchfell)) zu einem kohärenten Gesamtbild ergänzen, das ich hier verständlicherweise (genau wie Sie) nicht in seiner Gänze entfalten kann.
O.k., das hat wohl nicht funktioniert. Daher hier noch zwei, drei weitere Mosaiksteine:
o Ich schlage vor, den genannten Mechanismus als eine in sich selbst zurückkehrende Zweiseitenform zu sehen; bildlich gesprochen wie eine Möbiusschleife: einem fest-stellenden Beobachter zeigt sie zwei Seiten und zwei Kanten, einem nicht-feststellenden, „handelnden“ Beobachter (der mit dem Finger entlang streift) dagegen nur eine Kante und nur eine Seite.
o ich schlage ferner vor, lebende Systeme (auch beobachtende lebende Systeme), als dissipative Strukturen zu sehen (d. h. unter bestimmten Randbedingungen suchen und finden ihre Elemente spontan genau den Ort, an dem ein Minimum an Aufwand und ein Maximum an Anschlüssen zusammenfallen), die sich aber – als autopoietische Systeme – ihre Randbedingungen (Nische) selber kreieren; indem sie nämlich sensorische und motorische Flächen (bzw. Kognition und Volition) auseinanderhalten, sie in einer doppelten Schließung verbinden, dabei eine Gedächtnis- und eine Oszillator- (oder Beobachtungs-)Funktion ausbilden, sodass sie sich quasi von außen ein Bild von sich selbst machen können, um dann mit der so gewonnenen Information fortlaufend wieder in sich einzutreten… Lebende Systeme besitzen Ein-Bildungs-Kraft.
o Menschliche Beobachter empfinden die dabei entstehenden Formen spontan als „schön“. Schönes zu erkennen, heißt nach Kant: man erkennt zweckmäßige Formen, ohne dass eine Absicht, d. h. ein äußerer Zweck ersichtlich wäre; und man erkennt Gesetzmäßigkeit, ohne dass sich ein (beobachterunabhängiges) Gesetz fest-stellen ließe.
o Schönheit ist in der Tat kein Kriterium für Wahrheit, es unterläuft Wahrheit. Mit romantischen Ideen hat das nichts zu tun. Die Menschen der archaischen Stammesgesellschaft, die sich bei Strafe des Untergangs in ihrer Welt vororten und sich fragen mussten: „Wer sind wir überhaupt im Unterschied zu allen anderen Wesen um uns herum?“, diese Menschen also konnten (gemeinsamen) Sinn nur produzieren, indem sie mittels Ritual ihren Sinn für Schönheit ausbildeten. Das ist, wie sich genauer zeigen ließe, bis heute nicht anders; es haben sich lediglich andere Kommunikations-Medien (Wahrheit, Macht, Geld, Technik – in dieser Reihenfolge, so behaupte ich) darüber gelegt.
In Abwandlung von McCulloch könnte man daher fragen: „Was ist Schönheit, dass ein Mensch sie erkennen kann? Und was ist ein Mensch, dass er Schönheit erkennen kann?“ Oder mit Gregory Bateson feststellen, „dass unser Verlust des
Lieber Herr Fricijewski, lieber Herr Eder,
Theorie als ‚Verweilen beim Schönen‘, da bin ich (wie man erwarten kann) sehr skeptisch. Ich würde darin eher eine Leistung der Kunst sehen. Ästhetik ist ja aus meiner Sicht kein Wahrheitskriterium. Ich schätze zwar elegante Theorien, aber auch diese Referenz scheint mir eher aus dem Zwerchfell gedacht. Sie ist eine Präferenz, die seltsam romantische Ideen wiederbelebt und noch dazu weiß, woran sich die Welt (?) erinnern müsste, worauf es ankäme. Für mich ist das eine glatte petitio principii, und so hätte das wohl auch Kant formuliert. Schleierhaft ist mir ebenfalls (verzeihen Sie!), wie Sie zu dem Ergebnis kommen, Rituale seien dies oder das – einfach so. Aber eigentlich müsste man unter modernen Theoriebedingungen klären, wie man zu einem Begriff von Ritual kommen kann, zu einem Begriff, der nicht nur intuitiv gewonnen ist: als ungedecktes Wissen über ein so Sein-müssen oder so Sein-sollen. Das erinnert mich an Religion.
Ähnlich verhält es sich mit Worten wie Welt, Mensch oder – in unserer Debatte einschlägig – um solche wie ‚Psyche‘ oder ‚Therapie‘. Mir kommt es oft so vor, als seien diese Schlüsselworte der Psychotherapie kaum theoretisch gedeckt, aber vielleicht eben deshalb ‚kaum‘, weil man schon weiß, was Psyche, was Therapie meinen. Evidenz ist für mich aber nie ein gutes Argument gewesen. Das Selbstverständliche ist mir unbekannt. Aber vielleicht kommt es gerade an dieser Stelle zu einer coincidentia oppositorum zwischen Kunst und Theorie.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs,
ja, ich geben Ihnen Recht, Ihre Skepsis war erwartbar.
Ihre Gegenüberstellung – „seltsam“ romantische Ideen vs. „moderne Theorienbedingung – scheint mir auf verschiedene Arten zu hinken. Denn zum einen ist meine Referenz (warum eigentlich schreiben Sie diese meinem Zwerchfell zu?) keineswegs die Romantik (als Epoche), sondern vielmehr das antike Denken. Ihre Gegenüberstellung impliziert und unterstellt, wenn ich Sie richtig verstehe, „moderne“ Theorienbildung wäre irgendwie weiter, höherstehend usf. Der Begriff „modern“ tut ja auch so, als sei damit etwas Gutes gemeint. Allerdings wäre (neben vielem anderen) zu sagen, daß antike Philosophien etwas enthielten, was den modernen Theoriegebäuden vollkommen abgeht: ein Wissen über die Kunst des Lebens, der Lebensführung. Wenn man diese studiert, und (Verzeihung!) dafür offen ist, lassen sich auch für uns Spätmodernen beachtliche Gewinne daraus ziehen. Sie sind zeitlos. Die Idee, daß Zeit ein Linie sei, auf der es ein Vorher und Nachher, damit auch ein Vorwärts und Rückwärts gebe, ist ja auch eine Konzeption von Zeit, die sich erst in der Moderne etablierte.
Einige Gedanken zum Ritual: Das Wissen darum ist umfangreich. Die Kulturanthropologie weiß vieles darüber zu berichten. Wir wissen, dass der Homo sapiens sapiens mindestens seit der Altsteinzeit Rituale kennt und sie praktiziert, offenbar aus einer Notwendigkeit heraus. Der Mangel an Ritualen in der Spätmoderne wird und wurde vielfach beschrieben, auch in Zusammenhang mit kollektiven Sinnverlusten. Ich weiß was ein Ritual ist, Herr Friczewski weiß es offenbar auch, mehrere Tausend Generationen Homo sapiens sapiens wußten es, die Kulturanthropologie weiß es (einschließlich der Funktion von Ritualen). Warum weiß es die Systemtheorie nicht? Das wäre für mich die entscheidende Frage. Ungedeckt, wie Sie es sagen, ist dieses Wissen keinesfalls. Nur hat die Systemtheorie schlichtweg kein Sensorium dafür. Wer kein Thermometer besitzt, sondern lediglich ein Barometer, kann natürlich behaupten, es gebe keine Temperatur, aber am Wahrheitsgehalt dieser Aussage könnte man doch erhebliche Zweifel anmelden.
In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die Behauptung, die Psychotherapie würde mit theoretisch ungedeckten Begriffen operieren, zu sehen. Die Systemtheorie hat sich m.E. selbst aller Anschlußmöglichkeiten an umfangreiche Theoriegebäude z.B. zum Thema „Psychotherapie als Wissenschaft“ beraubt. Hieraus den Schluss zu ziehen, die „anderen“ seien nicht wissenschaftlich, ist nun doch ein wenig gewagt. Finden Sie nicht?
Herzliche Grüße
Lothar Eder
und das Gregory-Bateson-Zitat lautet vollständig: „…dass unser Verlust des Sinnes für ästhetische Einheit ganz einfach ein erkenntistheoretischer Fehler war.“ (in: Geist und Natur. Eine notwendige Einheit, 1982, S. 29)
Lieber Herr Eder,
ich weit davon entfernt, ‚moderne Theoriebildung‘ für etwas Höherstehendes zu halten. Das gilt ebenso beim Wort ‚Moderne‘, die in der Systemtheorie als funktionale Differenzierung betrachtet wird, als Ordnung einer Nicht-Ordnung, einer Heterarchie der großen Funktionssysteme Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Politik, Kunst, Erziehung, die nicht mehr aufeinen heiligen Grund zurückgeführt werden können, auf eine Hierarchie, in der wie in der Antike oder dem Mittelalter das Chreon, das sittlich Gebotene, die Lebensführung mitreflektiert werden kann als das allgemein Verpflichtende.
Der Theorie, die ich vertrete, geht nicht etwas ab, worüber die Antike verfügte (in der es das Sinnwidrige, das Dämonische etc. als Thema auch schon gab), ein Wissen um die ‚Kunst des Lebens‘. Diese These ist für mich glatt unbegreiflich, sie stützt sich nur auf Intuition. Es hat dieses Wissen nie gegeben. Wie sollte man das auch feststellen? Beobachten lassen sich nur die Worte.
Das ist nicht anders (und das nenne ich ‚romantisch‘) mit der Idee, dieses okkulte Wissen für zeitlos zu halten. Gerade moderne Theorien im oben genannten Verständnis sind gekennzeichnet durch eine intensive Diskussion der Zeit, aber nicht als gerade Linie, sondern als das Problem der Nichtexistenz von Vergangenheit und Zukunft und damit auch einer Aufhebung der Präsenz, der Gegenwart. Diese Diskussion läuft beispielsweise seit Hegel, Fichte, Freud, Heidegger, Jacques Derrida durch bis in unsere Tage: als Problem der différance, aber ebenso in der Quantenphysik.
Na ja, homo sapiens sapiens … darüber kann man streiten. Aber wie dem auch sei: Über das Ritual zu reden, das tut die Systemtheorie jedenfalls, intensiv und de-ontologisierend. Sie sagt nur nicht, dass die ‚Alten‘ oder die gegenwärtige Ritualisten wissen, was sie tun. Wüssten sie, was sie tun, hätten sie das Ritual aufgegeben, das gerade keine Erkenntnis ist.
Was Sie dann über die Systemtheorie äußern, ist für mich nur ein Kompendium von Vorurteilen. Ich beschränke mich darauf zu sagen, dass ein Konvolut von Erfahrungen nicht das ist, was ich Theorie nennen würde, die Arbeit am Begriff. Psychotherapie mag sich als wissenschaftlich beschreiben, aber als ‚umfangreiches Theoriegebäude‘, da hätte ich viele skeptische Fragen. Empirisch scheint es mir um ein Theoriepuzzle zu gehen, das Hochabstraktionen vermeidet. Ich sprach ja von einem grassierenden Eklektizismus.
Dass sich die Systemtheorie aller Anschlussmöglichkeiten beraubt hat? Was ist denn diese Diskussion unter uns? Kein Anschluss? Ich denke, da haben wir doch jede Menge Anschlüsse gesehen, die auch in der Abwehr immer noch Anschlüsse sind. Finde ich!
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs,
mein Tagwerk hat mich in Anspruch genommen, sodaß ich erst jetzt zu einer Antwort komme. Gerne denke ich an den von Ihnen zitierten Begriff von den „Zeugleuten“, denen ich mich nun zurechne.
Erneut enthält Ihre Antwort eine große Fülle von Aspekten, auf die alle einzugehen ich überfordert bin. Für meine Begriffe sind Ihre theoretischen Ausführungen ein Tanz, der ganz Ihrer eigenen Choreographie folgt, für sich genommen großartig; aber eben eine Möglichkeit neben vielen, die Sache zu tanzen (mir fällt dazu ein, daß im Vertrag mit dem Verlag, der ein Buch von mir herausbrachte, die „Vertanzungsrechte“ geregelt waren).
Da Sie Derrida erwähnen: ich erinnere mich an eine seiner Vorlesungen (leider nur auf Video), in der er sich ausschließlich mit der Hand und dem Be-Greifen beschäftigte. Obwohl angeblich jenseits aller Hermeneutik verortet, hatte er stets die mitlaufende körperliche Referenz aller Erkenntnis im Blick. Von ihm stammt auch sinngemäß die Aussage, das, was ihn an einem Denker zuallererst interessiere, sei sein erotisches Verhältnis zur Welt. Das verstehe ich so, daß Erkenntnis ohne Sinneswahrnehmung, ohne Aisthesis, nicht denkbar ist.
Dies geht für mich zusammen mit der neueren kognitiven Linguistik von Lakoff und Johnson, die gut herausarbeiten konnten, daß Sprache und Begriffe eine stete unbewußte Körperreferenz aufweisen (eben auch die Begriffe Be-Griff, com-prendre, ver-stehen, under-stand usf.).
Als Psychologe interessiert mich an der Theorie auch der Theoretiker bzw. seine Weise, wie er denn zu den Begriffen und Relationen kommt, die er formuliert. Denn sie sind letztlich Ergebnis psychologischer Prozesse; zu fragen wäre beispielsweise, wie sich Plausibilitäten und Nichtplausibilitäten ergeben, was, und nach welchen Regeln, zugelassen und was verworfen wird. Denn nur „die eine“ Perspektive scheint es nicht zu geben, sonst könnte ja die Phänomenologie nicht neben der Systemtheorie bestehen. Es wäre m.E. also interessant, zu schauen, welche inneren Prozesse der Begriffsbildung zugrundeliegen, sofern man nicht ein „reines Denken“, also eine „reine Vernunft“, die sich aus sich selbst heraus ergibt, postuliert.
Ich finde Ihren Begriff der „Hochtabstraktion“ interessant, weil er nach meiner Beobachtung den genau anderen Pol meines Handwerks darstellt. In der Therapie geht es oft darum, Begriffe, durchaus im Sinne Derridas, zu dekonstruieren. Gestern hatte ich eine ausführliche Unterhaltung mit einer Patientin, die mit dem leidlichen Begriff des (natürlich bei ihr mangelhaft ausfallenden) Selbstbewusstseins (SB) daherkam. Wir haben also lange darüber gesprochen, was sie sich denn unter SB vorstellt, woran sie es merkt, unter welchen kontextuellen und situativen Bedingungen sie SB erlebt und unter welchen nicht, worin die Vorteile von „Zurückhaltung“ liegen könnten usf. Das ist dann ein Tanz, den man über geraume Zeit durchführen kann, durchaus mit Gewinn, denn die Patientin war am Ende froher als zu Beginn der Stunde. Möglicherweise sind Ihr und mein Tanzboden an dieser Stelle gar nicht so weit voneinander entfernt, bzw. haben eine polare Entsprechung.
Herzliche Grüße
Lothar Eder
Lieber Herr Eder, das gefällt mir sehr, was Sie hier schreiben (außer vielleicht, dass ich Phänomenologie und Systemtheorie nicht beziehungslos nebeneinander stellen würde; beide passen für mich sehr „schön“ zusammen; aber da habe ich wohl einen weiteren Begriff von STh als Sie, für mich gehört auch Maturana dazu).
Bei Maturana ist Sprach-Handeln ein „Konversieren“, ein gemeinsames Sich-Drehen-und Wenden: Tanz, untrennbar mit Emotionieren verknüpft. Mich interessiert die Frage, wie Maturana’sche Konversationen sich in Luhmann’sche Kommunikationen verwandeln – und wieder zurück. Darin verbirgt sich das Geheimnis des Rituals als einer Möbius-Schleife… Mit Mystik hat das nichts zu tun, wohl aber mit ästhetischer Urteilskraft.
Herzliche Grüße Franz Friczewski
meine Anwort ist leider etwas nach oben gerutscht.
Lieber Herr Eder, lieber Herr Fuchs,
die Frage warum „die“ Systemtheorie (genauer: diejenige Luhmann’scher Provenienz) dem Ritualbegriff keine größere Bedeutung beimisst, ist leicht zu beantworten: Luhmann unterstellt – ich sage mal etwas salopp: bequemlichkeitshalber – „es gibt Systeme“. Damit erspart er sich die Frage, wie es denn denkbar und möglich ist, dass Individuen durch die konsensuelle Koordination ihres Handelns sozusagen „hinter ihrem Rücken“ (Marx) GESELLSCHAFT hervorbringen, d. h. ein sich unabhängig vom Handeln individueller Akteure reproduzierendes „autopoietisches“ System. Die Frage, was die Nabelschnur sein könnte, die Gesellschaft mit der Lebenswelt verbindet, sie sozusagen am Leben hält, braucht ihn dann nicht mehr zu interessieren. Genau diese Frage aber führt zum Begriff des Rituals.
Herzlichen Gruß
Franz Friczewski
Lieber Herr Friczewski,
Finde ich einen sehr wichtigen Gedanken, auch das Batesonzitat, das m.E. gut dazu paßt, dafür Dank und herzliche Grüße, Lothar Eder
Lieber Herr Friczewski,
ich denke, Sie haben damit eines der wichtigsten Theoriemethoden missverstanden, die die Moderne kennt, nämlich die zwanglose De-Ontologisierung der Idee des Ur-Sprungs. Wir gehen davon aus, dass es Systeme gibt … das heißt ja gerade nicht: Es gibt Systeme oder es gibt Nicht-Systeme. Systeme kann man nicht sehen. Sie sind weder tot noch lebendig, sie sind Schrödingerkatzen, wenn man so will, Unzustände oder in meiner Sprache ‚Unjekte‘. Deswegen dieser Satz, der beginnt mit: Wir gehen davon aus, dass … Sie wissen ja auch nicht, ob es die Psyche gibt oder nicht gibt, ob sie ein System ist oder nicht, ob sie gerade aus den Augen (diesen lieben, kleinen Fensterlein) schaut oder ob sie sich gerade entlangweilen will. Es bleibt Ihnen offenbar auch nichts anderes übrig, als zu sagen: Ich gehe davon aus, es gibt die Psyche, und dann schauen wir mal, was mit dieser These an Erkenntnis gewonnen hat.
Aber so steht es mit Ihnen nicht. Sie wissen offenbar immer schon, dass etwas so oder ist. Luhmann hintergeht nicht Fragen, er macht: sie fragbar. Sie sagen: man muss nicht fragen, es ist so. Für Sie existieren Individuen, Akteure, Lebenswelten. Aber was ist denn (auch von der Antike über das Mittelalter) ein Individuum anderes als das Einzelexemplar einer Gattung (eine Antilope von vielen Antilopen). Erst die Neuzeit entwickelt eine Präferenz für das Individuelle – mit verheerenden Folgen, die schon Nietzsche mit ‚Dividualität‘ bezeichnet hat.
Ach so, am Rande: Auch die Gesellschaft lebt nicht, empirisch nicht. Nun, ich denke, da sind unauflösliche Unterschiede. Besser: Ich gehe davon aus, dass ich denke, da sind …
Oder besser: Es geht davon aus …
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Nein, lieber Herr Fuchs,
ich denke, ich habe Luhmann schon so verstanden wie Sie auch, nämlich de-ontologisierend, als Sprach-Spiel, das der Erkenntnis dient; das müsste doch eigentlich aus meinen Ausführungen hervorgehen („bequemlichkeitshalber“, Luhmann interessiert, wie das Phänomen „Gesellschaft“ denk-bar und möglich ist).
Aber SIE missverstehen mich leider offenbar immer noch. Sie projizieren auf mich, so vermute ich, all die Vorurteile gegenüber der Systemtheorie, denen Sie in Ihren Debatten immer wieder begegnen, und die Sie, da verstehe ich Sie gut, irgendwie auch leid sind.
Gesellschaft „gibt“ es nicht, ebenso wie es Individuen nicht „gibt“. Das sind Unterscheidungen, die zu treffen aber sinn-voll ist; insbesondere dann, wenn wir moderne Menschen den gegenwärtigen globalen Problemen noch irgendwie auf Augenhöhe begegnen wollen und eine Epistemologie generieren wollen, mit der wir uns nicht den eigenen Boden unter den Füßen wegziehen. Aber dann stellt sich natürlich die Frage, wie wir uns das „Wieder-Eintritts-Medium“ vorstellen wollen, mittels dessen individuelles Selbst-Bewusstsein einerseits und Gesellschaft andererseits sich GLEICHZEITIG reproduzieren (ko-produzieren).
Bei Luhmann bleibt die Frage nach der gesellschaftlichen Synthesis (nach dem Mechanismus, der sie in ihrem Innersten zusammenhält) nicht nur unbeantwortet; er stellt sie, wenn ich das richtig sehe, gar nicht erst. Sein Begriff der symbolisch generalisierten Kommunikations-Medien würde hier noch am ehesten passen, greift aber erst in einer stratifizierten Gesellschaft, nach der Einführung von Schrift etc. Der Begriff des Rituals als Wieder-Eintritts-Medium, den ich vorschlage liegt mindestens eine Ebene tiefer als Luhmanns Begriff.
Wenn ich in meinem Ansatz überhaupt ontologisiere, dann damit, dass ich lebende Systeme als dissipative Strukturen sehe. Mit Hilfe eines bestimmten Mechanismus (habe ich in meinem letzten Beitrag angedeutet) schaffen sie es sozusagen, natürliche Dynamiken immer wieder in sich selbst ein-zu-speisen (wie das paradoxe Wasserrad von F.C. Escher, das das Wasser, von dem es angetrieben wird, immer wieder auf sich selbst zurücklenkt). Das Gleiche gilt dann, so ließe sich zeigen, für ritualisiertes („kanonisiertes“, um noch mal auf den Anlass hier zu verweisen) menschliches Sprach-Handeln.
Lieber Herr Friczewski,
ich vermute, dass Sie mit diesen Überlegungen zu zwei Dritteln deutlich in der Nähe der Systemtheorie liegen. Nur das tiefer liegende Ritual ist für mich außerordentlich problematisch, natürliche Dynamiken sind mir unbekannt, und – Sie wussten das schon vorher – die Idee des menschlichen Sprach-Handelns. Die Theorie verwandelt Selbstverständlichkeiten in Probleme, das macht sie für mich so faszinierend. Warum denn nicht: Sie gehen davon aus, dass es menschliches Sprach-Handeln gibt? Das wäre doch leichter zu handhaben. Man könnte die Unterscheidungen diskutieren, die Sie benutzen. Sie könnten zurückdiskutieren. Wir müssten uns nur nicht auf Selbstverständlichen einlassen: Sprache (Wer spricht? ES spricht? Die Sprache spricht? Die Sprache ‚handelt‘? Handeln Menschen und Schimpansen nicht? Wann und wie wird auf Handeln zugerechnet? Tut die Psyche etwas? Ist vielleicht Erleben ihre Domäne? Und wer flaggt ihr die Phänomene zu, die sie erlebt? Sind es allgemeine Phänomene, die sozial souffliert werden, oder geht es um singuläre Probleme? Aber dann könnte man nicht über sie reden.
Ich weiß, das sind Fragen über Fragen – vielleicht von einem hartherzigen Theoretiker, dem Glasperlenspiele vorgeworfen werden. Das Buch, an dem ich arbeite, trägt sogar den Arbeitstitel „Immer ist es Welt und niemals nirgends nicht – Glasperlenspiele“. Na also. Nun werfe ich mir selbst vor, was mir vorgeworfen wird. Oder nicht? Ach, immer diese Zirkularitäten …
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs, das Buch, an dem ICH arbeite, trägt den (vorläufigen) Titel: „Mimesis – Das Inszenieren und Aufführen von Wirklichkeit.“
(nebenbei: wie finden Sie den Titel? ich bin mir da noch unsicher).
einfach zu unterstellen, dass es Sprach-Handeln „gibt“, finde ich eher witzlos und nicht sehr interessant. Ich will, wie Maturana, das Sprach-Handeln und den Beobachter als ein biologisches Phänomen erklären – darüberhinaus aber auch zeigen, dass man von (Wort-)Sprache erst sprechen kann, wenn gleichzeitig auch die Autopoiesis von Gesellschaft gesichert ist.
Ich gehe davon aus, dass Sprache in unserem heutigen Sinn und damit auch Gesellschaft nicht länger als 100.000 Jahre existieren.
Beobachten, reflexives Bewusstsein, so meine These, gibt es aber wesentlich länger. Menschen lebten damals eine mimetische Kultur (vgl. M. Donald); das, was für uns heute „Gesellschaft“ bedeutet, mussten sie quasi in einem Dauer-Ritual aufrechterhalten. Symbolische Kommunikations-Medien (und das allererste und allereinfachste, so schlage ich vor, war „Schönheit / Hässlichkeit“) haben das dann ganz wesentlich vereinfacht und sich dann fetischartig darübergelegt…
Herzliche Grüße Franz Friczewski
mit „natürlichen Dynamiken“ meine ich, genauer gesagt: chaotische, momentan nicht kontrolllierbare Dynamiken. Dass Sie die nicht kennen, können Sie nicht ernsthaft behaupten…
Lieber Herr Frizczewski,
tatsächlich, mir ist eine natürliche Dynamik noch nie begegnet, vor allem nicht eine ’natürliche‘. Aber wie immer hängt alles davon ab, wie man ‚Natur, natürlich‘ bestimmt. Für mich wie für Schelling ist ‚Natur‘ nur der Ausdruck für vollkommene Indifferenz. Es geht darum, dass wir, wenn wir sagen ‚Natur‘, wir es halt nur sagen, meistens emphatisch, mitunter ironisch, mitunter in Worten wie ‚Naturphilosophie‘. Soziologisch ist dann interessant zu beobachten, unter welchen Bedingungen wir ‚Natur‘ als Begriff nehmen, der im Gegensatz zur ‚Kultur‘ steht. Vermutlich benötigt, was wir Kultur nennen, einfach einen Gegenbegriff, vor dem sie sich versteht: Natur – und vice versa. Die Dinge verschwimmen, wenn man den Schwarzwald für natürlich hält und später liest, dass er ein angepflanztes Reservoir für Segelschiffmasten war.
Und: Was wäre der Gegenbriff von Dynamik? Stillstand, Ruhe, Unbeweglichkeit? Aber die Alpen sind, wenn man anständig viel Zeit berücksichtigt, schnell wie Windhunde.
Vermutlich würde ich von der Dynamik von Prozessen reden, von sich steigender Eigenselektivität, ob Ehekrach oder Vulkanausbruch. Zumindest dieser Ausbruch ist indifferent gegenüber Identität und Differenz. Er schert sich um nichts, nicht einmal um die Leute, wohingegen meine Frau, wenn andere Leute in der Nähe sind, mich nahezu lautlos anschreit, ein brüllendes Wispern könnte man das nennen, aber immerhin: dynamisch, meinetwegen sogar natürlich dynamisch, also unberechenbar. Ich zolle dem Tribut, indem ich, wenn meine Frau natürlich dynamisch wispert, meine Hörgeräte abstelle. Dann hat sich das – befristet.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs, ich hatte mich doch korrigiert und den missverständlichen Ausdruck „natürlich“ durch „unkontrollierbar“ ersetzt oder, wie Sie sagen: „unberechenbar“. In den Situationen, die Sie schildern, würde ich Sie dann als ein lebendes System beschreiben, das Wahrnehmen und Bewegen (oder Erleben und Handeln) auseinanderhält, beides in einer doppelten Schließung rekursiv verbindet und so seine Autopoiesis wahrt (z.B. durch Abschalten von Hörgeräten).
Herzliche Grüße
Franz Friczewski
Lieber Herr Friczewski,
was den Titel „Mimesis – Das Inszenieren und Aufführen von Wirklichkeit“ angeht, er klingt gut, aber ganz sicher bin ich nicht, ob er Ihre Intentionen trifft. Mimesis, das heißt ja in der Aristotelischen Poetik eigentlich ‚Nachahmung‘. Dann wäre gemeint: „Die Nachahmung – Das Inszenieren und Aufführen von Wirklichkeit“. Ob es das ist, was Sie gemeint haben, kann ich nicht beurteilen. Theoretisch ist die Frage, die sich mir aufdrängt, ob Wirklichkeit nicht immer inszeniert wird, genauer, ob es zwischen Inszenierung und Wirklichkeit, die dann hinter der Aufführung stecken würde, überhaupt eine Differenz hergestellt werden kann, jedenfalls von Sinnsystemen, die ihre Realität errechnen, niemals: kennen. Aber auch das könnte ja von Ihnen genau so gedacht sein.
Beim nächsten Punkt rückt für mich in den Mittelpunkt die Frage, seit wann überhaupt von Gesellschaft geredet werden kann. Ich selbst rede dezidiert nicht von einer frühen Gesellschaft, einer ägyptischen, einer mittelalterlichen Gesellschaft, lieber von Sozialformen, die mit der funktionalen Differenzierung allmählich in eine autopoietische (Welt)Gesellschaft überführt werden, und zwar im Moment, in dem es nicht mehr darauf ankommt, was wer wie etwas meint, besser mitteilt, sondern auf nichts dergleichen. Es geht nun um schiere Autopoiesis, die nicht einmal für sich selbst (existentielle) Bedeutung hat. Deswegen denke ich auch nicht, dass es die Gesellschaft 100 000 Jahre alt ist, allenfalls 400 Jahre vielleicht. Bei Sprache ändern sich laufend im Blick auf ihr Entstehen, ihren zeitlichen Ursprung etc. die Zeiträume, die angesetzt werden.
Mir war wichtig, das Handeln aus dem Sprach-Handeln zu extrahieren. Es ist alles andere als klar, was mit Handeln gemeint ist, darüber hinaus auch nicht, wo man die Sprache finden kann. Wahrscheinlich würde ich außer im Sprechen, im Schreiben nirgendwo eine Sprache vermuten. Ich vermute, da spielt bei Ihnen ein sprechendes Subjekt eine wichtige Rolle. Die Tradition spricht von Sprechakten, aber auch das hat mich nicht überzeugt. Seit Derrida kann man statt dessen von archi-écriture ‚sprechen‘.
Zwei Wermutstropfen: Beobachten ist für mich nicht reflexives Bewusstsein. Und unter symbolischen Kommunikationsmedien verstehe ich leider auch etwas anderes. Warum ausgerechnet die Leitdifferenz schön/hässlich sein soll, ist mir schleierhaft und auch, wie solche Medien, wenn es sie denn gegeben hätte, sich fetischartig über ein Dauerritual gelegt haben sollen. Das klingt mir ein wenig zu exaltiert.
Aber Sie wissen schon, dass ich meine Aufgabe darin sehe, allzu forcierte Thesen abzukühlen. Das ist schon fast ein Ritual.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs,
Mimesis meine ich nicht im Sinne von fest-stellendem Imitieren (das wäre Mimikry), eher ein Vor- und Nach-Ahmen zugleich; ein spielerisches ebenso wie lustvolles Sich-Anähneln an ein nicht Fest-stellbares; die performatorisch-ästhetische Seite des Beobachtens i. U. zur „technischen“ . Bei Kant entspräche dem die reflektierende Urteilskraft, die (i. U. zur bestimmenden UK) zu einem gegebenen Besonderen das Allgemeine (er)findet. Oder bei Wittgenstein: Wahrnehmen als Quelle von Identität (i. U. zu Wahrnehmen als Kontrolle von Identität).
Ich beobachte autopoietische Systeme als „bildende“ Systeme; d. h. qua fortlaufender zirkulärer Verknüpfung von Kognition und Volition – schließend, öffnend, schließend… bzw. umgekehrt: öffnend, schließend, öffnend… – machen (errechnen) sie sich ein „Bild“ von dem was IST ebenso wie von dem was SEIN KÖNNTE. Letzteres nenne ich den mimetischen Aspekt.
Inszenieren und Aufführen von Wirklichkeit sehe ich nicht als sequenzielle Abfolge im Sinne von: erst dies, dann das… Auch hier greifen für mich beide Aspekte wieder zirkulär ineinander. Inszenieren heißt: das System konstituiert sich, indem es Artefakte als Dispositiv zur Verfügung stellt; so stellt z. B. das soziale System Geräte aller Art, Häuser, Straßen, aber auch Rollen und Institutionen bereit; und das psychische System konstituiert sich, indem es den „Habitus“ oder „Charakter“ für das Individuum bereitstellt. Artefakte bilden sozusagen das Flussbett für Sprach-Handeln.
Aufführen heißt dann: Die sprach-handelnden Akteure brauchen nur noch die bereitstehenden Geräte etc. in die Hand zu nehmen und in die Rollen zu schlüpfen. Das (psychische bzw. das soziale) System beschreibt (oder beobachtet) sich dann selbst; die mimetische Performanz des Handelns der Akteure vollendet die Autopoiesis des sozialen Systems und gleichzeitig die Autopoiesis des individuellen Selbst-Bewusstseins.
Zugleich modifiziert es rekursiv die Artefakte, so wie fließendes Wasser sich sein eigenes Bett gräbt…
Mit freundlichem Gruß
Franz Friczewski
Lieber Herr Friczewski,
Ich kürze ein bisschen ab, weil ich denke, wir verlieren uns angesichts des Ausgangtextes in einer Spezialdiskussion. Deswegen nur Hinweise: Ich würde autopoietische Systeme nicht in Ihrem Verständnis als ‚bildende‘ Systeme begreifen und mag auch nicht von Volition sprechen. Die Differenz wäre (strukturelle Koppelung vorausgesetzt) die von Kommunikation und Kognition. Deswegen würde ich nicht von Öffnung, Schließung, Öffnung … ausgehen. Der Grund dafür ist, dass psychische Systeme und soziale Systeme füreinander intransparent zu sein scheinen. Die Kommunikation kennt keine Kognition, die Kognition keine Kommunikation. Dass ich jetzt theoretische Prämissen in Anschlag bringe, die nicht die Ihren sind, dürfte klar sein.
Aus dieser reziproken Geschlossenheit folgt, dass ich auch Ihre weiteren Ausführungen bedenkenvoll sehe. Zum Beispiel weiß ich nicht, wieso und wie soziale Systeme Häuser etc. zur Verfügung stellen. Ich vermute, dass Sie ja doch annehmen, dass soziale Systeme Menschen beinhalten, die Häuser bauen?
Aber ich stutzte schon beim anfänglichem ‚spielerisch‘ und ‚lustvoll‘. Das ist wieder eine sehr seltsame Wendung. Sind denn Gefühle nicht die sozial induzierten Interpretationen von Körperereignissen?
Ich muss leider schließen, denn heute ist unser Uraltkater Oliver verstorben, und meine Frau will mich trösten, weil ich von uns beiden der Sentimentalere bin. Aber ein bisschen weint sie schon.
Herzliche und traurige Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs,
wir können diese Konversation gerne beenden. Abschließend möchte ich aber noch mal kurz meine Position ganz knapp umreißen.
Ich sehe autopoietisch organisierte Systeme (egal welcher Art) als dissipative Strukturen, die sich mittels eines bestimmten Mechanismus ihre eigenen stabilen Randbedingungen (in Form einer Nische) schaffen, um sich so immer wieder am eigenen Schopf aus dem Sumpf des Unbestimmten zu ziehen.
Als diesen Mechanismus schlage ich vor: einen primären Energiekreis aus „Kognition“ (fremd-referenzielles Operieren) und „Volition“ (selbst-referenzielles Operieren), der von einem sekundären Energiekreis aus „Habitus“ (Gedächtnisfunktion: schließen, öffnen, schließen,…) und „Beobachten“ (Oszillatorfunktion: öffnen, schließen, öffnen,…) gesteuert wird.
Mir fällt auf – und ich rätsele schon seit längerem, woran das (von meiner beschränkten Vermittlungsfähigkeit mal abgesehen) liegen könnte – dass Systemiker, insbesondere Luhmann’scher Herkunft (auch sehr kluge) damit nichts anfangen können. Ich vermute mal, es hängt mit dem unterschiedlichen Stellenwert von Begriffen wie „Bild“, „Einbildungs-Kraft“, „Ästhetik“ zusammen.
Gestern stieß ich auf den Satz von Adorno: „Kunst komplettiert Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene.“ Für mich hat sich dieser Raum geöffnet, als ich vor vielen Jahren Kants Kritik der Urteilskraft las, für mich ein (bis heute leider sehr unterschätzter) Schlüsseltext der Moderne, fast immer noch ein Geheimtipp.
Vielen Dank, Herr Fuchs, für die anregende Diskussion. Und: das mit Oliver tut mir leid.
Mit freundlichen Grüßen
Franz Friczewski
Lieber Herr Fuchs,
unser Austausch scheint an einem Ende angelangt zu sein. Ich danke Ihnen für die zahlreichen Verstörungen und Anregungen und wünsche Ihnen und allen Mitlesenden ein gutes neues Jahr.
Zudem mein Beileid zum Tod von Oliver, auch von unseren Katzen Moritz und Mimi!
Lothar Eder
Hm, lieber Franz, dass dir das mit Oliver leid tut, kam jetzt doch sehr unvermittelt rüber. Als Körperereignis wäre das, was ihr am Aushandeln wart, in der Rückübersetzung natürlich der Atem, der Oliver nun nicht mehr am Leben hält. Denn ja, deine Ästhetik hat etwas Blaues. Und die Fuchs’schen Komplementärimpulse fehlen mir nun hier, keine Erwähnung von Moritz und Mimi wird mich darüber hinwegtrösten können.
liebe gabby,
das freut mich, dass da doch noch jemand nicht nur mit-liest, sondern auch mit-denkt.
Das mit dem Atem finde ich einen guten Tipp.
Da fällt mir ein Satz von Gerhard Stamer ein, den er neulich in seinem Blog „Warum Naturgesetze nicht zu sehen sind, aber trotzdem gelten“ schrieb, ein Satz der mir sehr gefällt:
„Naturgesetze gelten, weil wir – durch unser Denken – mit der raumzeitlichen Welt, bzw. der Natur so eng verbunden sind wie durch das Atmen.“
Lieber Herr Fuchs
Liebe KollegInnen
Bei all dem Treffenden und Zu-Treffenden nun doch noch ein Nachtrag, auch zur Frage, welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen denn daraus gezogen werden müssten (Andre Christoph)?
So sehr ich der Aussage in den „vagen Dingen“ zustimme, dass Psychotherapie dann aufgegeben hat, wenn sie in der Medizin aufgeht,, so sehr möchte ich dem widersprechen, dass Psychotherapie keine wissenschaftliche Disziplin sei. Falls diese Sprachregelung in unserer Szene nämlich konsensfähig würde, könnte/müsste die Psychotherapie, insbesondere als eine, die auch kassenpflichtig ist den damit verbundenen Anspruch/Nachweis nach „Wirtschaftlichkeit, Zweckmässigkeit und Wissenschaftlichkeit“ aufgeben und würde sich dann wahrscheinlich in der Konsequenz ausschliesslich im Bereich von Wellbeing oder gar Esoterik einrichten.
Lieber Herr Rufer,
Wissenschaft begreife ich als das System, das die Differenz wahr/unwahr ‚reproduziert‘. Das bedeutet nicht im mindestens, dass die wissenschaftlichen Disziplinen unentwegt Wahrheiten produzieren (sie werfen im selben Zuge Unwahrheiten aus). Sie hängen ja – und nicht geringfügig – an Medien wie Reputation, an Sponsoren, an Projekterwirtschaftung etc. Aber es ist jeweils relativ klar, worum es in den Disziplinen geht. ‚Relativ‘ meint nur, dass es zwar Kämpfe um die Dominanz von Schulen in ihnen gibt, aber keinen Generalzweifel daran, dass beispielsweise die Physik auf Kräfte, Bewegung, Energie usw. angelegt ist, die Biologie auf organische Moleküle, die sich zu lebenden Einheiten ballen (auf welcher Emergenzebene auch immer), die Soziologie auf die Erforschung von sozialen Prozessen und Strukturen.
Die Psychotherapie halte ich (wie etwa Sozialarbeit und jede Form der Pädagogik), kategorial gedacht, nicht für eine in diesem Sinne wissenschaftliche Disziplin, sehr wohl aber für ein System, das (Sie haben das Wort benutzt) viel an Wissenschaftlichkeit aus verschiedenen Wissenschaften zusammenzieht – eklektizistisch im Blick auf eine Praxeologie, die aufnimmt, was sie brauchen kann. Das ist von mir nicht als Abwertung gemeint. Ich selbst schätze Wissenschaften nicht als höher und wichtiger ein als Kunst, Musik, Religion etc.
Jener Eklektizismus kann präzise Unterscheidungen einsetzen oder eben auch nicht. Wenn nicht, dann lässt sich zwischen Esoterik, Wellbeing, zwischen Körperbetulichkeiten, Gesundheitsfanatismus … und der Psychotherapie tatsächlich kaum kaum noch eine Trennlinie ziehen. Musil sprach einmal von der ‚Genauigkeit der Seele‘, hier können wir umformulieren: Es gehe um die Genauigkeit der Psychotherapie. Ich habe meinen Artikel auch geschrieben, um die von Ihnen bezeichneten Verschwimmungsgefahren als Verhedderungen in einem weit ausgedehnten Phrasenwebewerk zu markieren.
Ich glaube, wir sind gar nicht so weit auseinander.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs,
Sie verwenden eine interessante Formulierung: „die Genauigkeit der Psychotherapie“ – was genau ist damit gemeint?
M.E. verfügt der Berufstand der „Verwalter der vagen Dinge“ (eine interessante Bezeichnung!) über ein äußerst umfangreiches und detailliertes Wissen um eben diese „Verwaltungskunst“; auch die Frage, wie denn der Spagat zwischen exakter Wissenschaft einerseits und der „Vagheit“ des Gegenstandes und der Praxis von Psychotherapie andererseits zu bewältigen wäre, ist häufig und immer wieder, mit unterschiedlichen Antworten, thematisiert worden. Und sie wird von Psychotherapeuten/innen täglich praktisch beantwortet, insgesamt zur Zufriedenheit der Kundschaft und des Gesundheitssystems (ich spreche von den deutschen Gegebenheiten, die anderen kenne ich nicht).
Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis und auch die Lektüre der Leseprobe, die der CA Verlag freundlicherweise zur Verfügung stellt, läßt bei mir allerdings mehr Fragen als Antworten entstehen. Denn ich kann dort keineswegs die Fragen (und auch Antworten) entdecken, die das Fach, also die „Insider“ sich selbst stellen.
Letztendlich stellt sich (mir) also die Frage, was denn der Profit des Faches, also der Psychotherapie in ihrem praktischen Vollzug sein könnte, wenn sie sich mit den von Ihnen formulierten Positionen beschäftigt. Denn die Ausgangsfragen kommen m.E. nicht aus den Not-Wendigkeiten des Faches, sondern aus der Beschäftigung der Systemtheorie mit sich selbst.
Bitte verstehen Sie das nicht als persönliche Abwertung, denn so ist es nicht gemeint; mir kommt es als psychotherapeutischer Praktiker nur gelegentlich so vor, als würde die systemische Theorie sich in Bezug auf Therapie manchmal Fragen stellen, die bei psychotherapeutisch Tätigen so gar nicht aufkommen (eben weil metatheoretische Unstimmigkeiten dort keine Rolle spielen).
Mit besten Grüßen
Lothar Eder
Lieber Herr Eder,
ich denke, es ist wichtig, erst einmal festzuhalten, dass ich alles andere als ein Gegner der Psychotherapie bin. Es ist mir ja gerade wichtig, dass diese ‚Verwaltungskunst‘ eine ‚genaue Kunst‘ bleibt und den ‚Spagat zwischen Wissenschaft und Vagheit‘ aushält und ausnutzt. Die Systemtheorie, die ich in diesem Dialog so wenig wie möglich ins Spiel brachte, würde formulieren, dass die Vagheit, die Unschärfe des Lebens, der Sozialität, der Kognition etc. als Funktionsproblem der Psychotherapie begriffen werden kann, das sie zu lösen versucht – mit allen Ambivalenzen, die das Bezugsproblem auswirft.
Meine Provokation besteht darin zu sagen, dass das Arbeiten an Vagheitsproblemen, die psychischen Leidensdruck generieren, auch ‚Ausfransungen‘ (fringes im Sinne William James) ermöglicht, eben die ganze kanonische Phraseologie, die ich moniert habe. Klassischer: Da ist ein Schwatzen in der Welt, das nicht zur Psychotherapie gehört, sich aber gleichsam ansiedelt an ihren Rändern, parasitär, wie man es auch nennen könnte, und von dort aus sich gleichsam hineinbohrt in das Feld des Psychotherapeutischen – ein schon lange nicht mehr marginales Problem, das sich gut ablesen lässt an der Inflation des Ausdrucks ‚systemisch‘.
Der Punkt, dass Sie sagen, dass die Lektüre der Leseprobe mehr Fragen als Antworten bei Ihnen ausgelöst hat, ist wichtig. Denn tatsächlich ist die Systemtheorie eine orientierte Struktur, die über nichts orientiert. Sie ist in meiner Sicht nicht angetreten, um Lösungen für irgendeine Praxis zu finden, sondern um bis dahin nicht gestellte Fragen zu stellen, zu finden, inkongruente Perspektiven, die die Domänen der Praxis irritieren – wie beiläufig.
Ich würde Ihnen also (dann jedoch zufrieden) zustimmen, dass die Systemtheorie sich mit sich selbst befasst und eben nicht Beratung betreibt. Aber dadurch wird sie nicht steril; es macht sie unbefangen. Sie kann ihre eigene Selbstreferenz ausnutzen. Daraus ergibt sich ein großes Interesse an ihr. Jedenfalls ich muss unentwegt ‚tingeln: nicht nur in psychotherapeutischen Kontexten, aber eben auch und alles andere als selten.
Aber ich spreche jetzt pro domo, das wollte ich nicht, aber ich weiß, dass Sie sehr wohl wissen, wie es in Metatheorien zugeht. Sie sind ja, lieber Herr Eder, ablesbar an Ihren Schriften, absolut nicht anästhetisch gegenüber Störungen.
Sehr herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs,
danke für Ihre Antwort. Dazu hätte ich einiges zu sagen, aber der samstägliche Zeitplan erlaubt es nicht.
Soviel aber sei gesagt: ich stelle mir vor, ein Systemtheoretiker und ein Psychotherapeut träfen sich gelegentlich und berichteten sich von ihrem Alltag, bei einem schönen Rotwein, bei Quellwasser oder via Email. Was mich interessiert; wie würde der jeweils eine verstehen (nachfragen, kommentieren, räsonieren …) was der andere macht? Was würde der Systemtheoretiker jenseits seiner (für meine Begriffe) schwurbeligen Begrifflichkeit, die eigentlich nur noch Selbstanschlüsse ermöglichen, sagen. Und was der Psychotherapeut, wenn er dem Systemtheoretiker etwas von „Resonanz“ o.ä. (Geschwurbel nun wohl im Ohr des Systemtheoretikers) berichten wollte. Sie müßten ja eine gemeinsame Referenz entwerfen, eine Sprache, die wechselseitig anschlußfähig wäre.
das fände ich spannend.
Seien auch Sie damit sehr herzlich gegrüßt! Lothar Eder
Lieber Herr Eder,
das ist eine schöne Idee. Ich trinke gern Wein, ich diskutiere ebenso gern, und vor allem: Ich habe oft mit Psychotherapeut/innen gemütlich zusammengesessen und über Theorie gesprochen. Das hat vor allem funktioniert, wenn die Leute (und ich) nicht automatisch schon reziprokes Geschwirbel und Geschwurbel unterstellt haben. Hauptsache: Es wird kein Apriori richtigen Wissens behauptet. Aber wer tut das schon?
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs
Es scheint sich ja in diesem fortlaufenden – und verstehen Sie das bitte nicht falsch – nun fast so etwas i.S. der fernöstlichen Mystik und Religion wie eine „Belehrung“ beim Meister zu etablieren. Und Meister zeichnen sich ja nicht nur durch Ihr Alter (denn da haben wir ja in denselben Jahrgang), sondern durch ihr angesammeltes Wissen und Können, durch Weisheit und Gelassenheit aus. Meister haben es aber so an sich, dass sie Jünger um sich scharen bzw. das Ganze in doch auch bald man in exklusiven Räumen stattfindet, sich zunehmend auch von der Alltagsrealität (hier der „PsychotherapeutInnen“) entfernend. In der Geschichte der Psychoanalyse z.B. liesse sich dieser Prozesse gut nachzeichnen und ablesen..
Was mir aber in der Tat meisterlich erscheint, ist der Umgang mit Worten und Begriffen wie z.B. „Verschwimmungsgefahr“, „kanonisches Phrasenwebewerk“ u.a., die die vagen Dinge nicht nur möglichst genau, sondern auch mit provokativem Witz zu erfassen versuchen. Längst nicht Alles kann ich als Nicht-Lumannianer (wenn schon eher Synergetiker) verstehen. Und in diesem Sinne gebe ich Kollege Eder recht, wenn er schreibt, dass der systemtheoretische Diskurs über(!) den Inhalt ihres Tuns mit der täglichen Arbeit zwar etwas zu tun haben mag, aber die meisten nicht betrifft und darum auch kaum interessiert. Allzu oft, weil sich hier sozusagen verschiedene Systemebenen und Sinnsysteme begegnen, finden diese Diskurse dann losgelöst von einander und nach je eigenen Spielregeln statt.
Ich selber habe mich als Praktiker mit theoretischen Interessen immer auch wieder als Brückenbauer (so u.a. auch in meinem Buch „Erfasse komplex, handle einfach“) versucht. Dafür wird man zwar von beiden Seiten gewürdigt, was aber noch lange nicht heisst, dass daraus ein Veränderungsprozess (oder in der Sprache der Systemtheorie) Emergenz entsteht.
Mit erneutem Gruss aus Bern
Martin Rufer
Lieber Herr Rufer,
ich meine tatsächlich, dass Weisheit so etwas wie höhere Naivität ist. Und ich habe, soweit ich sehe, keine Jünger/innen und schreite auch nicht mit segnenden Händen über die Felder, so dass man mir Tänze tanzend, Schellen schellend, Trommeln trommelnd folgen könnte. Ich halte es mit Luhmanns Motto: „Guter Geist ist trocken!“ Und mit Baeckers Maxime: „Wider die Naivität!“ Das Wort ‚Meister‘ höre ich gern, aber ich brauche nur mein Arbeitszimmer zu verlassen, meiner Frau oder Kindern oder Enkeln zu begegnen, dann wird mir dieser Zahn gezogen – nachhaltig. Und wenn ich doch versuche, etwas theoretisch diskutieren zu wollen (etwa die Struktur eines endoplasmatischen Retikulums) werde ich zugegähnt. Da vergisst man schnell alle entsprechenden Prätentionen.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs und Herr Eder
Nicht dass ich mit der Anrede suggerieren möchte, dass wir uns nun zu dritt abheben, wenn der Wein vorläufig fehlt, aber der Diskurs hat auch etwas Berauschendes wie dies übrigens oft auch unter Musikern passiert ohne dass diese weinseelig sind. Und auch hier braucht es die Dissonanzen, den Wechsel der Rhythmen, aber in kleinen Ensembles meist keinen Dirigenten. Ja, in diesem Sinne spielen Sie zwar meisterlich auf Ihrer Tastatur und der eine oder andere Schüler ( nicht Jünger!) wird Einiges lernen können in Sachen Sprachgewandtheit und Reflexionskompetenz gerade auch zum Kontext der Arbeit von Psychotherapeuten, im Wissen, dass Sie auch diese Begriffe virtuos zerpflücken werden.
Und zum Schluss noch dies: den Wein liebe ich eher trocken, aber lieber rot und kräftig. Im Gegensatz dazu ist das gelingende Handwerk des Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin (ist ja inzwischen ein Frauenberuf) nie ein trockenes. Nur dann, wenn es jenseits von Phraseologien, zur Sache geht, TherapeutInnen und PatientInnen miteinander den Punkt finden, indem das, was geschieht emotional gegenseitig berührt, würde ich – jenseits einer Methode oder Therapieschule – auch von Psychotherapie (auch wenn man diese eigentlich nicht therapieren kann) sprechen wollen. In diesem Sinne ist Psychotherapie v.a. Synchronisation (auch wenn der Ausdruck ursprünglich aus der Physik stammt).
Mit liebem Gruss
Martin Rufer
Lieber Herr Fuchs,
mich überzeugt zunächst einmal, daß Sie die Nacht in einem Flüchtlingswohnheim verbringen werden. Vor allem auch dies: „… aus weiter nicht nennbaren und rechenschaftspflichtigen Gründen“.
Ich habe das auch einmal gemacht und wurde von unterschiedlichsten Emotionen kräftig durchgeschüttelt …
Alles Beste – – –
Uli Wetz
…höflich, mit Takt und Anstand, aber nicht: zugewandt, achtsam, offen, wertschätzend, sondern einfach nur so, aus weiter nicht nennbaren und rechenschaftspflichtigen Gründen…(P. Fuchs)
Es ist schwierig, so zu kommunizieren, denn jedes zweite Wort der Alltagssprache ist wertend, bewertend…“Das sehe ich anders“ (nicht offen) „Wer soll das lesen?“ (nicht wertschätzend) „Richtig!“ (zugewandt) „Danke“ (offen & wertschätzend). In der Körperarbeit (wie Shiatsu) ist es die Leere, die durch das Schweigen entsteht, in der das „einfach nur so“ seinen Raum findet. Shiatsu verstehen daher aber auch nur wenige … denn so gut wie jeder Klient will wissen, wo es „gut“ im Körper ist und wo „schlecht“ (entspannt/verspannt; fließend/blockiert; …) – dreht mir der Klient von sich aus eher den Rücken zu (zu) oder legt er sich in Bauchlage (offen). Alles lässt sich so bewerten. Ich finde Ihren Text trotzdem interessant (zugewandt, wertschätzend), einfach nur so, wenn ich auch nicht weiß, welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen sich daraus ergeben…
Liebe Frau Christoph,
ich bedanke mich für dieses schöne Beispiel. Ist das jetzt offen oder geschlossen formuliert? Raffiniert oder tückisch? Was machen Sie mit einem „Nein, Danke!“ – Offen und geschlossen zugleich? Wenn ich, von meiner Frau wie heute morgen gefragt werde „Kannst Du mir helfen, dieses Durcheinander zu beseitigen?“ und ich sage „Nein!“, ist das nicht eine offene (ehrliche) Antwort? Wenn meine Frau erwidert (mit einem gewissen, gefährlichen Ton in der Stimme: „Danke!!!“, ist das jetzt offen? Wertschätzend? Vielleicht dreht sie mir ruckartig den Rücken zu. Ist das jetzt eine Drohung? Wieso ist eine Bauchlage offen? Liegt man dann nicht auf dem Bauch? Also geschlossen? Ich verstehe jetzt, dass Shiatsu von wenigen verstanden wird. „Ich sehe das alles ganz anders.“ Ist das denn nicht: Öffnung für eine Diskussion vielleicht?
Vermutlich habe ich sie auch nicht verstanden. Ich kann nur raten, sich ein wenig mit Kontingenz, der Poyvalenz von Kommunikation zu befassen, vielleicht auch damit, dass niemand in die Psyche eines anderen hineinschauen kann, empirisch nicht. Wenn doch, wäre Psychotherapie ziemlich überflüssig.
Meinen herzlichen Dank dafür. Nichts für ungut. Offen geschrieben? Oder doch nur eine Schließung?
Peter Fuchs
Lieber Herr Fuchs!
Lieber Herr Fuchs,
ich denke, ich habe verstanden, worauf Sie hinauswollen und es gefällt mir auch. Ich wollte jedoch darauf aufmerksam machen, dass sich die Alltagssprache in den von Ihnen beschriebenen Gegensätzen bewegt; die von Ihnen genannten und in Wirform formulierten „Leitbilder“ Gewichten den (scheinbar) „positiven“ Pol und damit eine bestimmte Ideologie, ein Menschenbild. Meine Schlussfolgerung wäre, erst gar nicht solche Leitbilder zu formulieren, und zwar nicht nur, weil sie niemals für jeden stimmig sein können.
Alles Gute im neuen Jahr (offen für Neues),
Beste Grüße Andrea Christoph
ps: Ja, in der Bauchlage liegt man am Bauch. Aber darf der Rücken nicht auch offen sein? Wer sagt, dass das irgendetwas zu bedeuten hat, dass sich der Klient dabei irgendetwas gedacht hat. Shiatsu ist übrigens keine Esoterik, sondern eine recht durchdachte Disziplin (außer „Shiatsu-Stühle“ auf Flughäfen oder in Einkaufshallen, wir sehen, es gibt auch hier wieder Ausnahmen…).
Lieber Herr Fuchs
Dass Sie nicht nur die „vagen Dinge“ gut „verwalten“ können, sondern ganz zum Schluss nun auch dort, wo Menschen auf Menschen treffen die treffenden Worte finden, trifft.
Mit besten Wünschen zum Jahreswechsel aus der Schweiz
Martin Rufer
Die Kritik an den schwer erträglichen Ausfaltungen des psychosozialen Jargons ist – auch nach der Lektüre mancher Einlassungen zur Adventszeit – zunächst eine erfrischende und befreiende Intervention „in einem Kontext, der dogmatisch rhetorisch sich für vortrefflich hält“ – wunderbar. Die Kritik wird dann aber selbst schwer erträglich, weil sie ohne empirisch-analytisches Rüstzeug an der Oberfläche bleibt – die Metaphorik des Wegs in „Begleiten“ und verwandten Redewendungen, die Behälter-Metaphorik des „offen seins“ an seinen Ausfaltungen u.a. sind – in dieser Kultur – unvermeidbar, und auch der Autor kann auf die kulturell übliche Kampfmetaphorik nicht verzichten, wenn er glaubt, dass diese und andere Denkmuster „schon längst intellektuell erledigt wäre(n)“. Hier werden vor allem Metaphern diskutiert und kritisiert, ohne dass ihr innerer Zusammenhang mit metaphorischen Konzepten (im Sinne der Terminologie der kognitiven Linguistik sensu Lakoff/Johnson) oder Deutungsmustern (im Sinne der Wissenssoziologie, nicht nur Oevermann) herausgearbeitet werden würde. Damit gerät der Text in die Gefahr, zur zusammenhanglosen Rechthaberei zu werden. Die genannten „Metaphern des Helfens“ sind als elementare und kollektive soziale Orientierungen unverzichtbar, es sei denn, jemand erfindet für sich eine Sprache, die außerhalb der kulturellen Konventionen und ihrer Bildschemata steht (von Peter Bichsel gibt es eine nette kleine Geschichte dazu). Weil dieser Hintergrund fehlt, kommt ein Teil der Kritik nicht an: Die kritisierten Metaphern (vom „Sprachrohr“ über den „Platz in der Gesellschaft“ bis hin zum „Orientierung geben“) sind allerdings versteinert, sie sind ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind […]“ (Nietzsche: Ueber Wahrheit und Luege im aussermoralischen Sinne).
Es käme darauf an, diese Metaphern von ihren symbolisch-moralischen Aufladungen zu befreien – weniger durch intellektuelle „Erledigung“, sondern durch empirische Analyse, aber auch Parodie, damit sie wieder als Bilder sichtbar werden, die man verändern könnte.
P.S. Die am Schluss nachgefragten Beispiele und das Wörterbuch des psychosozialen Jargons gibt es als „Metaphern des Helfens“ schon, allerdings nun über 20 Jahre alt.
Lieber Rudolf Schmitt,
Danke für Ihren Kommentar, dem ich zustimmen kann.
Was mich an dem Artikel von Peter Fuchs fasziniert, ist die sprachliche Aufbereitung. Zuerst konstruiert Fuchs eine „Zone des Tabus“, die er nicht näher definiert, dann hebt er vier Aussagen hervor und in allen Fällen nutzt er die von ihm selber aufgebauten Sprachfiguren, um diese dann zu kritisieren. Inhaltlich stimme ich mit vielen Sprachmustern nicht überein. Ein paar Beispiele:
„gelingende Kommunikation“ – gelingen ist für mich ein vieldeutiger Begriff. So wie ich Fuchs verstehe, gelingt jede Kommunikation, auch die, wenn der Bankräuber den Bankangestellten erschießt und das Geld dann bekommt.
„wertschätzende Offenheit“ – auch hier habe ich ein anderes Verständnis. Ich bin offen im Sinne von „bereit zuzuhören“ und das Gesagte wertzuschätzen im Sinne von respektieren (was nichts mit akzeptieren zu tun hat, denn es gibt Grenzen – für mich)
Nun gut – ich höre einfach auf, und räume ein, dass ich Peter Fuchs nicht verstanden habe. Ist das in seinem Sinne eine „gelungene Kommunikation“?
Vor allem aber – da stimme ich Rudolf Schmitt zu – ist die hier vorgestellte rhetorische Figur für mich (ich betone: für mich!) nichts anderes, als erst einen Popanz aufzubauen (die fett gedruckten Aussagen, von denen ich nicht weiß, wo sie herstammen), diesen dann zu kritisieren (was nicht sehr schwer ist, wenn ich mir meinen Popanz selber aufbaue), um damit auszudrücken, dass ich als Autor Recht habe. Schade – denn solche Argumentation kenne ich zur genüge. Mir geht es nicht ums Recht haben, sondern um das, was ein US-Kollege in den 1980er Jahren als Motto seiner Zeitschrift formulierte: Continuing the Conversation.
Wenn es darum geht, richtig und falsch auseinander zu nehmen, erübrigt sich die Konversation, weil schon feststeht, wer Recht hat.
Was mich schon sehr interessiert – und was ich nicht erkannt habe -, ist, welches Ziel und welche Absicht Peter Fuchs mit seinem Artikel verfolgt – Recht zu haben, Ärger los zu werden, anzuregen … ich spekuliere nicht, sondern hoffe, dass er das selber offenlegt.
Mit friedlichem Gruß
Jürgen Hargens
Wertschätzend offen würde ich Peter Fuchs allemal unterstellen, dass er – unter anderem – Ärger anregen wollte. Was sollte Recht haben für ihn selber wie für den Diskurs hier denn für einen Sinn machen? Dieses Motiv überhaupt einzustellen erregt eher einen recht haberischen Verdacht bei mir. Aber wie auch immer. Ärger ist angeregt, – gelungen.
Lieber Herr Hargens,
Popanz? Na ja … alle Zitate stammen aus Broschüren, Selbstbeschreibungen, Leitbildern etc., deren Quelle ich nicht nachweisen wollte, um niemanden zu blamieren.
Dass wir einen vollständig verschiedenen Kommunikationsbegriff pflegen, ist, denke ich, sehr deutlich geworden. Aber darüber müsste man einen anderen Diskurs ‚entfalten‘.
Auch Ihnen wünsche ich ein schönes Jahr
Peter Fuchs
Lieber Peter Fuchs,
ich weiß es zu schätzen, dass Sie geantwortet haben. Durchaus nicht selbstverständlich. Danke!
Und auch Ihnen ein gelassenes neues Jahr 2016. So kann „continuing the conversation“ beibehalten werden – und ich bin gespannt, wer sich noch wie in diese Debatte einschalten wird.
Mit friedlichem Gruß
Jürgen Hargens
Lieber Herr Schmitt,
mir scheint, dass sie teilweise verkennen, dass mein Text überdeutlich im Register polemischer Formen spielt. Er hat nichts mit Wissenschaftlichkeit zu tun, sonst hätte ich mich nicht darum bemüht, die Systemtheorie der Luhmannschen Prägung auszublenden. Ohnehin halte ich Psychotherapie nicht für eine wissenschaftliche Disziplin. Sie pflegt (und das zu Recht) einen Eklektizismus, der sich darauf bezieht, dass ihr Gegenstand (unter psychischem Leidensdruck stehende Leute) nicht fassbar, dass er vage ist und ständig entschwindet, wenn man Präzision im üblichen Sinne will. Deswegen mein Buch „Die Verwaltung der vagen Dinge“, in dem ich dafür plädiere, das Exzellenzmerkmal der Psychotherapie genau darin zu sehen, dass sie es meistens mit fragmentarischen Verhältnissen zu tun hat, die sich verflüchtigen, wenn man sie handfest haben will. Psychotherapie ist eher eine Kunst der ‚délicatesse‘, die mit (Mikro)Diversität als ihrem Medium arbeitet, also eigentlich: hochkomplex ihre Kreise zieht und ihre eigenen Formen entwickelt. Da spielt der Wissenschaftscode wahr/unwahr nicht die entscheidende Rolle.
Mir ging es deswegen genau darum, darauf aufmerksam zu machen, dass es sehr schade wäre, wenn es der Psychotherapie nicht gelänge, ihre eigene Exzellenz zu pflegen und stattdessen Phrasendrescherei zu dulden, mit der sie sich ohne Not lächerlich macht bzw. sich machen lässt. Psychotherapie ist keine Weltverbesserungsanstalt; wenn sie es sein will, gibt sie sich auf.
Herzliche Neujahrswünsche
Peter Fuchs
P.S. Vielen Dank für den Buchhinweis.
Lieber Herr Fuchs,
es sieht so aus, als hätten wir von unseren Texten wechselseitig wenig gelesen, und natürlich könnte man das jetzt erst einmal nachholen, um die jeweiligen Bezüge einordnen zu können. Allerdings würde das jetzt eine sehr lange Unterbrechung bedeuten, und mir scheint es im Moment sinnvoller, an das anzuknüpfen, was in diesem Blog geschrieben steht, wissend, dass Text und Antwort ohne Hintergrund der weiteren Texte nur tentativ verstanden werden kann (um auch das gleich einzuordnen: Mein Verstehensbegriff lässt sich als demütige Variante der Gadamerschen Hermeneutik bezeichnen – ohnehin eine Richtung, auf die der Code wahr/unwahr mir nicht zu passen scheint).
Mir scheint, dass wir an einem Punkt überhaupt nicht sehr weit auseinander sind: der Wahrnehmung, dass es rituelle und kanonisierte Sprechweisen des psychosozialen Jargons gibt, die in diffuser Weise das Wir moralisch erhöhen; der Wahrnehmung, dass diese Selbsterhöhung mit metaphorischen Formeln geschieht, die, nimmt man sie ernst, einander widersprechen. Hinzufügen muss ich meine Verblüffung, dass ich nach jahrzehntelanger Abstinenz im letzten Jahr an einem Konfirmationsgottesdienst mit alten und neuen Kirchenliedern mich einem ähnlichen Bombardement inkonsistenter Bilder ausgesetzt sah. Natürlich ist es zu kurz gegriffen, die im psychosozialen Jargon enthaltenen weltanschaulichen Fragmente als (konsistente) Religion zu bezeichnen, das wäre eine metaphorische Übertragung, die das weltanschauliche Phänomen verzeichnet (so scheint auch eher eine gewisse Nötigung zu herrschen, dass sich jede/r aus diesen sprachlichen Fragmenten eine eigene Weltsicht zusammen baut und auf ihrer Individualität besteht, also kein credo in unum deo).
Der Punkt, an dem wir sehr weit auseinander sind, ist der Umgang mit diesem Phänomen. Der polemische Zugang positioniert sich als richtender, besser wissender, gut und böse unterscheidender Zugang – und ist mir damit zu konsistent mit christlich-abendländischen Denkmustern. Natürlich – als Mitglied dieser Kultur bin ich befangen, ich beharre hier auf einem – möglichst, siehe Gadamer: nie vorurteilsfreien – verstehenden Zugang, der dieses Phänomen der psychosozialen Weltanschauung(en) als empirisch unbegriffenes sieht, der sich in diesem Verstehen wissenschaftlicher Methoden bedienen will – hier im engeren Sinne qualitative Methoden wie die Positionierungsanalyse (als Element der Konversationsanalyse), die von mir vorgeschlagene Metaphernanalyse, aber auch narrative Analysen nutzt – so gilt die Erzählung, die psychischen Erkrankungen nähmen zu, als Untergangserwartungserzählung als gesetztes Wissen, obschon dies statistisch so einfach nicht nachzuweisen ist, wenn strengere Kriterien als Krankschreibungszahlen genutzt werden, die in ihrer Reliabilität jenseits des wissenschaftlich vertretbaren liegen. Und ähnliche Phänomene mehr … die Sie ja auch auf das Korn genommen haben. Aber eben: „auf das Korn genommen haben“ mit einer recht großkalibrigen Flinte. Jenseits solcher „Erledigungen“ geht es mir um eine Durchdringung des Phänomens ohne Kugeln.
An dem Satz von Ihnen demonstriert: “ wenn es der Psychotherapie nicht gelänge, ihre eigene Exzellenz zu pflegen und stattdessen Phrasendrescherei zu dulden, mit der sie sich ohne Not lächerlich macht bzw. sich machen lässt.“
=> Zunächst eine (metaphorische) Personifikation der Psychotherapie (was erbringt diese imaginierte Einheitlichkeit der Psychotherapie als Person, was verdeckt sie?), die pflegen soll und nicht dulden soll (in der Regie welcher normativer Dispositionen wird eine solche Überlegenheit behauptet?), dass sie sich (nicht) lächerlich macht – vor wem? Am Anfang Ihres ersten Textes nennen Sie Physik und Biologie als Referenzgrößen, mit denen Sie den sachlichen Gehalt von Aussagen des psychosozialen Jargons vergleichen – was erbringt der Vergleich mit den Naturwissenschaften, was verdeckt er? Sie nennen dort auch die Soziologie, und in der Tat scheinen mir Herangehensweisen aus der Religionssoziologie, aber eben auch der Wissenssoziologie mit den Methoden qualitativer Forschung an den psychosozialen Jargon (und die Psychotherapie) sinnvoll. Die von Ihnen genannten Äußerungen sind, so meine Behauptung, mehr als „Phrasendrescherei“, sie scheinen ihre eigene Logik zu haben. Sie folgen sicher keiner wissenschaftlichen Logik – was nicht ausschließt, sie mit qualitativ-wissenschaftlicher Bemühung nachzuzeichnen und kenntlich zu machen. Was mir fern ist: vorzuschreiben, was Psychotherapie zu sein habe und was ein „richtiges“ Sprechen im psychosozialen Feld sei. (Ich würde daher nicht ausschließen, dass die Imagination, eine „Weltverbesserungsanstalt“ [in Ihrer Formulierung] zu sein, für das Feld des Psychosozialen ein funktionales (Selbst-)Deutungsmuster ist.) Eine sich annähernde Rekonstruktion des Nichtverstandenen scheint mir also Aufgabe genug zu sein.
Soweit. Danke für den Diskurs, ebenfalls einen guten Start im neuen Jahr wünscht:
rudolf schmitt
Das trifft genau die praktische Erfahrung einer Enge zB durch versuchte, aber uneingestandene Machtausübung, wie ich sie zB bei Literaturauswahl für Kongressbüchertische schon erlebt habe. Wird Zeit, dass die Kirche im Dorf (bzw. die Kirchen in den Dörfern) mal gesehen und klar benannt werden und darüber diskutiert wird. Ihr Hinweis auf Päpste zB spricht dafür. Danke!
Lieber Herr Ohler,
im Blick auf Ihre Beiträge kann ich mich nur bedanken.
Herzliche Grüße
Peter Fuchs
Jedes einzelne Wort kann ich unterstreichen, lieber Herr Fuchs… Wunderbar (werde ich verteilen, wenn Sie nichts dagegen haben).
Lieber Herr Simon,
ich bedanke mich für die starke Schützenhilfe, und: Ich habe selbstverständlich nichts dagegen, wenn Sie den Text verteilen.
Ein gutes neues Jahr wünschend
Peter Fuchs
Lieber Peter Fuchs ich habe Ihren Text genüsslich gelesen, ich denke darüber nach wann und wie Menschen das Wort unmenschlich als Unterscheidung zu wie auch immer menschlich nutzen weil doch alles was Elend und Gewalt etc. betrifft auch von Menschen verursacht wird also menschlich ist herzliche Grüße Dörte foertsch
Liebe Frau Foertsch,
ja, das sehe ich ganz ähnlich. Wahrscheinlich würde ich, mit dieser Idee konfrontiert, nur die Unterscheidung Mensch/Unmensch tilgen und für die Psychotherapie ersetzen durch Mandant/Nicht-Mandant, denn sie ist nicht zuständig für den Menschen, die Menschen, für den Weltzustand, so wenig wie das Zahnärzte, Kaufleute, Tierpfleger etc. es sind. Ich als Soziologe bin auch nicht zuständig. Das hindert mich nicht daran, heute Nacht in einem Flüchtlingsheim zu verbringen, um diesen Leuten ein bisschen über den Böllerlärm hinweg zu helfen, höflich, mit Takt und Anstand, aber nicht: zugewandt, achtsam, offen, wertschätzend, sondern einfach nur so, aus weiter nicht nennbaren und rechenschaftspflichtigen Gründen. Sollte ich flash-backs traumatischer Erfahrungen bemerken, würde ich nach Fachleuten rufen. That’s all!
Herzliche Neujahrsgrüße
Peter Fuchs