Am Montag vergangener Woche ist Jochen Schweitzer nach langer Krankheit gestorben. Ein Tod, der abzusehen war, aber dennoch – wie immer – zur Unzeit eintrat. Noch im Sommer hatten wir uns in Heidelberg getroffen und ein weiteres Treffen im November avisiert. Dazu ist es nun nicht mehr gekommen. Nachdem ich ihn in den 1980er Jahren bereits durch seine Veröffentlichungen (u.a. in der Familiendynamik) und von Tagungen kannte, habe ich ihn persönlich wohl erst Anfang der 1990er Jahre näher kennengelernt. Durch unsere Zusammenarbeit in der SG und später der DGSF (in der er als Vorstandsmitglied und später 1. Vorsitzender fungierte und ich Mitglied des Kontext-Herausgebergremiums) hatten wir immer wieder miteinander zu tun. In vielen inhaltlichen und fachpolitischen Fragen standen wir auf eher kontroversen Positionen, allerdings machten uns die Auseinandersetzungen immer auch Spaß und waren von großer persönlicher Wertschätzung geprägt, zumal hinter diesen Kontroversen auch ein großes Maß an Übereinstimmung und parallelen persönlichen Entwicklungsprozessen stand. Die ungeheure Breite seiner Themen in Praxis und Forschung haben mich ebenso fasziniert wie seine unglaublich kreative Ader, mit der er Menschen beruflich und privat mitreißen und zur Kooperation bringen konnte und mit der er seine Ideen für alle möglichen Interventionen in unterschiedlichsten Kontexten entwickelte. Die Integrationskraft, mit der er die DSGF zusammenhielt und gleichzeitig nach vorne brachte, habe ich sehr bewundert.
Dass seine Aussichten nicht gut standen, war ihm schon im vergangenen Jahr klar. Er hat die Zeit nicht nur genutzt, um sich aus seinen Verpflichtungen zu lösen, von seinen wichtigen Wegbegleitern und Projekten zu verabschieden und sich auf das Bevorstehende vorzubereiten, sondern auch noch für Wanderungen, kleinere Reisen und andere Dinge, die für ihn zum guten Leben gehörten. Seine bewunderswerte Gelassenheit im Umgang mit seiner Erkrankung und seine Akzeptanz des Unvermeidlichen haben mich tief beeindruckt.
Farewell, Jochen! Dass du gegangen bist, ist ein großer Verlust für uns alle. In unserer Erinnerung wirst du einen festen Platz behalten.
Matthias Ochs, Doktorand, langjähriger Mitarbeiter und Freund von Jochen Schweitzer, hat einen Nachruf verfasst, der heute auch auf der DGSF-Webseite veröffentlicht wurde. Mit seiner freundlichen -Erlaubnis bringe ich seinen Text hier im systemagazin – begleitet mit Fotografien, die ich in den letzten 20 Jahren von Jochen machen konnte.
Matthias Ochs, Wiesbaden: Nachruf auf Jochen Schweitzer
Nach längerer Krankheit ist am 31.10.2022 unser ehemaliger DGSF-Vorsitzender Prof. Dr. Jochen Schweitzer im Alter von 68 Jahren viel zu früh verstorben. Das ist ein großer, großer Verlust für viele von uns, für die DGSF und für das gesamte systemische Feld – auch für mich persönlich, da ich meinen Doktorvater, Mentor sowie geschätzten und nahen Kollegen verloren habe. Unser besonderes Mitgefühl gilt seiner Familie und seinen Angehörigen.
Jochen Schweitzer hat die Entwicklung des systemischen Felds in Deutschland auf so vielfältige Weise mitgeprägt, dass es schwerfällt, einige wenige Bereiche in den Vordergrund zu stellen. Besonders dankbar bin ich deshalb dafür, dass es Jochen noch möglich war, sein vielfältiges berufliches Wirken über Jahrzehnte in dem gerade erschienenen Buch „Ich hätte da noch eine Idee … Persönliche Geschichten aus 45 Jahren Systemischer Therapie und Beratung“ selbst so wunderbar, informativ und beeindruckend darzustellen.
Jochen Schweitzer brillierte – ja, so möchte ich dies tatsächlich beschreiben – zudem in vielfältigen Rollen, in denen ich mit ihm auch intensiver zu tun hatte: als Wissenschaftler, als „Vielschreiber“, als Weiterbildner, als Familientherapeut – und letztlich als DGSF-Vorsitzender. In all diesen unterschiedlichen Rollen wirkte Jochen als ein begnadeter „Zusammenbringer“, also als jemand der die Kooperationen und das Miteinander auch ganz unterschiedlicher Menschen und Akteure förderte. Noch zwei Wochen vor seinem Tod machte er sich in einem fachlichen Austausch des wissenschaftlichen Beirats des Helm Stierlin Instituts stark für die Mehrgenerationen- und Mehrpersonenperspektive, also für das therapeutische, weiterbildnerische und forscherische In-den-Blick-nehmen des umfassenderen Miteinanders in Familiensystemen.
Als Wissenschaftler ist Jochen Schweitzer nicht der Versuchung erlegen, den Mühen der Rekrutierung von Kontrollgruppen, dem grauen Alltag der Erstellung von Signifikanztests und Histogrammen oder dem ständigen Überarbeiten von peer-reviewed Artikeln in wissenschaftlichen Fachzeitschriften mittels „Episto-babbel“ (eine Bezeichnung für quasi vulgär-epistemologisches „Gebabbele“ und „Geschwurbele“) zu entfliehen – also indem man jeglicher Forschung entsagt mit dem scheinbar konstruktivistischen Argument, dass die Wahrheit ja eine Erfindung eines Lügners ist und deshalb jegliche forscherische Erkenntnisbemühungen systemisch obsolet sind. Jochen Schweitzer hat sich als Systemiker auf die Rahmenbedingungen des Wissenschaftsbetriebs eingelassen, und damit etwa eine Begleitforschung für ein systemisches Weiterbildungsprojekt in der Psychiatrie (SYMPA) über einen Zeitraum von über 20 Jahren verwirklichen können, bestehend aus quantitativen und qualitativen Forschungszugängen mit enormem Publikationsoutput. Er hat Forschungsprojekte bei der VW Stiftung bewilligt bekommen oder eine RCT-Studie zum Familienaufstellen gemeinsam mit Christina Hunger-Schoppe realisiert; nicht zu vergessen die SOPHO-Angststudie, die Systemische Therapie mit Verhaltenstherapie per RCT bei sozialen Ängsten vergleicht.
Als Wissenschaftler hat Jochen Schweitzer zudem im Rahmen seiner zahlreichen Forschungsprojekte, die in so unterschiedlichen Bereichen, wie Organisationsentwicklung, Gemeindepsychiatrie, Medizinische Psychologie, Psychotherapieforschung oder Weiterbildungsevaluation anzusiedeln sind, immer wieder sehr begabte Nachwuchswissenschaftler*innen gewinnen und fördern können – nicht wenige davon mit darauffolgend beeindruckenden akademischen oder anderswertig systemischen Karrieren – und diese mit engagierten Praktiker*innen zusammengebracht. Im Rahmen der Heidelberger Forschungstagungen, die 2014 und 2017 zudem im internationalen Kontext stattfanden, hat Jochen Schweitzer systemische Kolleg*innen unterschiedlicher Disziplinen und Forschungsausrichtung mit Expert*innen anderer Verfahrensrichtungen, mit Gesundheits- und Fachpolitiker*innen sowie mit Praktiker*innen und unserem Nachwuchs in Kontakt gebracht. So hat er mit Kolleg*innen im Kontext dieser systemischen Forschungstagungen in Heidelberg die sozialrechtliche Anerkennung der Systemischen Therapie vorbereitet und initiiert, die dann von seinem Nachfolger im DGSF-Vorsitz Enno Hermans zu einem erfolgreichen Ende begleitet wurde.
Seine wissenschaftlichen Leistungen lassen sich außerdem an seinem enormen Publikationsoutput ermessen: An über 200 Fachartikeln hat er als alleiniger, Erst- oder Co-Autor mitgewirkt, über 20 Bücher hat er als Monografie, in Co-Autorenschaft, oder als (Mit-)Herausgeber erstellt. Selbst diejenigen im systemischen Feld, die nicht das Privileg hatten, Jochen Schweitzer persönlich kennengelernt zu haben, kennen ihn aus der Literatur: Denn das „Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung“, das er gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Arist von Schlippe geschrieben hat, ist wahrscheinlich der Klassiker deutschsprachiger systemischer Publikationen.
Ich selbst hatte im Rahmen meiner eigenen Qualifizierung zum systemischen Familientherapeuten das Privileg, Jochen als systemischen Weiterbildner kennenzulernen – und hier viel von seiner kreativen Seite erleben zu dürfen – etwa wenn er seine „berüchtigten“ Sprechchöre mit der Weiterbildungsgruppe durchführte, diese kreativ mit Zeitlinienarbeit kombinierte oder ungewöhnliche Aufstellungsformate ausprobierte. Seine kreative Seite beeindruckte mich schon bei unserer ersten Begegnung vor über 25 Jahren 1995 in Osnabrück. Dort arbeitete ich als Psychologiestudent bei Arist von Schlippe an der Universität Osnabrück. Jochen Schweitzer hielt in den schönen, historischen Anstaltsgebäuden des Osnabrücker psychiatrischen Krankenhauses einen Vortrag über »Kundenorientierung als systemische Dienstleistungsphilosophie«, in dem er ermaß, was wäre, wenn wir die Wünsche und Bedürfnisse von Psychiatriepatient*innen wirklich ernst nehmen? Ich fand seinen Vortrag sehr inspirierend! Eine seiner Hypothesen war, dass Patient*innen vielleicht in den Wintermonaten nicht wegen des multimodalen Therapieangebots in die Psychiatrie eingewiesen werden wollen, sondern wegen des warmen Betts und der drei Mahlzeiten am Tag. Wenn dem so wäre, so überlegte er weiter, sollten wir Psychotherapeut*innen vielleicht weniger frustriert sein, wenn Therapiefortschritte, im klassischen Sinne definiert als Symptomreduktion, nicht im erwünschten Maße zu beobachten waren. Vielleicht würde es uns dann leichter fallen, eine tragfähige und zugewandt-wertschätzende therapeutische Beziehung zu Patient*innen aufzubauen, die sich nicht wie von uns gewünscht verändern – denen es aber, würden wir sie ehrlich fragen und eine ehrliche Antwort hören wollen, im Zuge ihres Aufenthalts besser geht, nur eben aus ganz anderen Gründen, als von uns gedacht bzw. erwartet. Mit diesen Ideen, verbunden mit seiner Haarpracht, wirkte Jochen damals auf mich fast eher wie eine Art kreativer »Hippie« – das ist nicht despektierlich gemeint – denn ein Psychologieprofessor. Das gefiel mir neben seinen „verrückten“ Ideen zur systemischen Therapie im Kontext von Psychosen sehr gut.
Solche kreativen systemischen Ideen hat Jochen Schweitzer tatsächlich nicht nur theoretisch ventiliert, sondern in der familientherapeutischen Praxis umgesetzt. Davon konnte ich mir ein Bild machen, da ich die Möglichkeit hatte, mit Jochen gemeinsam co-therapeutisch im Rahmen eines Forschungsprojekts sowie der medizinpsychologischen Ambulanz am Uniklinikum Heidelberg zu arbeiten. Ich habe von ihm dabei das „Nähmaschinen-Prinzip“ gelernt, also wie eine Nähmaschine im Takt jedem Familienmitglied die gleiche Frage zu stellen, und dies immer wieder; ich habe zudem von ihm gelernt, wie man sich in die Dynamik von Familien zunächst „einspinnen“ lässt, um dann mithilfe von Kolleg*innen hinter der Einwegscheibe wieder auf eine Metaposition gehen zu können und von dort Abschlussinterventionen und -kommentare zu tätigen. Gerade bei letzterem war es mir immer wieder eine Freude, wenn Jochen seine gegen den Strich gebürstete Kreativität mit mir teilte.
Jochen Schweitzer war aber nicht nur durch und durch Systemiker – mit übrigens durchaus unterschiedlichen Theoriebezügen, wie aus seinem oben erwähnten Buch zu erfahren ist – er war auch durch und durch DGSFler, der Verband lag ihm am Herzen! Er hat den Verband von 2007 bis 2013 in einer Zeit des Wachstums im Vorsitz geprägt. Er hat die DGSF weiterentwickelt und ihr mit seiner immensen Energie, Fachlichkeit und Kreativität im positivsten Sinne seinen Stempel aufgedrückt. Jochen Schweitzer war eine möglichst breite, selbstorganisierte und initiative Beteiligung der Mitglieder sehr wichtig, die ihren Niederschlag etwa in der bunten Vielfalt an Regional- und Fachgruppen gefunden hat. Zudem war ihm wichtig, sozial-und gesundheitspolitische Themen systemisch zu reflektieren, und er wollte, dass die DGSF in die Gesellschaft hineinwirkt! So ist es nicht verwunderlich, dass mein letztes Treffen mit ihm im Juli 2022 in Fulda im Rahmen einer Veranstaltung des „Forums für gesellschaftliches Engagement“ der DGSF stattfand. Es schien nochmals ein guter Moment im Krankheitsverlauf gewesen zu sein: er beteiligte sich aktiv, machte eifrig und gewissenhaft Notizen in seiner Kladde (es müssen Dutzende solcher Kladden mit enormen Wissensbeständen in seinem Nachlass vorhanden sein …) und versuchte, mit allen in Kontakt zu kommen.
Auf der Rückfahrt von Fulda nach Frankfurt saß ich mit Jochen noch im Speisewagen des ICEs: Wir tauschten uns über die Berufungspolitik bei der Besetzung klinisch-psychologischer Lehrstühle aus, in deren Kontext Systemiker*innen immer noch stark unterrepräsentiert sind, philosophierten über die Zukunft der enorm gewachsene DGSF mit ihrer stark zunehmenden sozial-, gesundheits- und fachpolitischen Bedeutsamkeit – und hatten sogar fast noch eine kleine Meinungsverschiedenheit zur Frage, ob ein Waldstück, das wir passierten, zum Spessart, zum Vogelsberg oder zum Taunus gehört. In Frankfurt-Süd stieg Jochen aus und ich hatte kurz die Anmutung, auch wenn es sich kitschig anhören mag, dass er mich beim Abschied ein wenig so anschaut, als wüsste eine Seite von ihm bereits, dass dies unsere letzte Begegnung gewesen war.
Nach Helm Stierlin im Jahr 2021 hat unsere systemische Community mit Jochen Schweitzer einen weiteren Pionier und großen Menschen verloren – einen Menschen, dem die Vita Aktiva sehr viel bedeutete, der noch so viel vorhatte, unserer Community noch so viel zu bieten hatte. Der zu frühe Tod von Jochen Schweitzer macht unsere Trauer nur noch größer – und unsere Verantwortung, sein Werk, sein fachliches, berufliches und menschliches Erbe und Wirken in Ehren zu halten und in die Welt zu tragen. Ich glaube, das hätte er sich sehr gewünscht!
Matthias Ochs
für den Vorstand der DGSF
Jochen Schweitzer war zusammen mit Andrea Ebbecke-Nohlen 1989 mein erster Lehrer in systemischer Therapie und ich denke gerne an ihn. Ich erinnere mich an die sanfte Klarheit in seinem Wesen und an seine wachen lebendigen Augen. Für mich hat sich seinerzeit durch die Beschäftigung mit systemischen Blickwinkeln und Werkzeugen eine neue Welt eröffnet, die für mich innere Freiheit und Vertrauen in meinen eigenen Weg mit sich brachte. Daran war Jochen wesentlich beteiligt und dafür danke ich ihm sehr. Er war ein Lehrer auf Augenhöhe, der uns Teilnehmer ernstgenommen und Mut gemacht hat. Im Rückblick fällt mir auf, dass Jochen nie irgendwelche gestelzten epistemologischen Über- oder Unterbauten bemüht hat, er hat sozusagen eine bodenständige systemische Therapie vermittelt. Und ich erinnere mich, dass er an jedem Seminarmorgen mit Butterbrezeln und süßen Teilchen kam und so auch für unser leibliches Wohl in den Seminarpausen gesorgt hat. Deutlich in Erinnerung geblieben ist mir ein Satz von ihm, der sinngemäß lautete, dass Einzeltherapie nährender sei als Familientherapie. Dieser Satz hat für mich bis heute Gültigkeit.
Wir sind uns danach ab und an persönlich begegnet und diese Begegnungen waren angenehm und freundlich. Jochen Schweitzers viel zu früher Tod ist für mich ein Memento Mori. Lieber Jochen, ich bin dankbar, dass ich dir begegnen durfte und ich wünsche dir alles Gute aus dieser Welt hinüber in die Gefilde, in denen du dich nun bewegst.
Danke an Dich. lieber Tom und ebenso an Dich, lieber Matthias für Eure Würdigungen zum Tod von Jochen. Ich durfte Jochen im Oktober 1989 kennenlernen als Teilnehmer in seinem ersten Weiterbildungsdurchgang bei der IGST zusammen mit Andrea Ebbecke-Nohlen. Jochen war experimentierfreudig, der auch mal provokant vorging bei gleichzeitiger grosser Neugier für die Arbeitsfelder von uns Teilnehmenden und er war ein Sucher nach Möglichkeiten aller Art, in noch so schwierigen Arbeitskontexten Spielräume zu schaffen. Erst kurz vor seinem Tod konnte ich ihm sagen, wie sehr er meinen beruflichen Weg unterstützt hat, einfach dadurch, dass er mich bei anfragenden Organisationen für Inhouse-Weiterbildungen empfohlen hat und ich dann auch den Weg in die Lehre beschritten habe und ich durfte zusammen mit ihm mein erstes „richtiges“ Seminar gestalten. Was er für die Implementierung systemischer Konzepte, insbesondere im psychiatrischen Kontext, geschaffen hat, kann garnicht ausreichend gewürdigt werden. Er war ein Meister des Anbahnens von Kooperation, baute Brücken, wo die Gräben unüberwindbar tief erschienen. Diese Haltung zeigte sich ebenso in seinem vielfältigen bürgerschaftlichen Engagement in Heidelberg. Wer heute an seiner Beerdigung teilgenommen hat, wurde nochmals leibhaftig seiner Bekanntheit und seiner Beliebheit gleichermaßen gewahr. Lieber Jochen, Du hinterlässt eine grosse Lücke und bist uns ein Ermutiger, den eigenen Tod anzuschauen und anzunehmen. Danke, dass ich Dir begegnen und von Dir lernen durfte.