Vorbemerkung: Dieser Text ist ziemlich umfangreich. Er betrifft die Fragen des Spielraums, den inhaltliche Kontroversen in einem Fachverband wie der DGSF und ihrer Zeitschrift Kontext – Zeitschrift für systemische Perspektiven haben sollten, wieviel Polemik dabei statthaft und wie mit Forderungen nach einer Zensur von unliebsamen Beiträgen umzugehen ist: ein Thema, das auch für das systemische Feld im allgemeinen von Relevanz sein dürfte.
Wer die vorletzte Ausgabe des Kontext aufmerksam gelesen hat, ist am Ende des Editorials auf einen Absatz gestoßen, der sich auf eine Kontroverse bezieht, die um die Rezension eines Buches des Soziologen Martin Schröder „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“ durch einen der Herausgeber in Heft 3/2023 entstanden ist und in deren Rahmen der DGSF-Vorstand, der Wissenschaftliche Beirat des Kontext (dem ich seit meinem Ausscheiden als Herausgeber anzugehören die Ehre habe) sowie der Ethikbeirat der DGSF zu Stellungnahmen aufgefordert wurde. Dort wurde darauf hingewiesen, dass die Dokumentation dieser Kontroverse (die durch eine sogenannte „Replik“ auf die Rezension durch einige Mitglieder in Gang gebracht wurde) mit allen dazu eingegangenen Stellungnahmen der Verbandsöffentlichkeit auf der DGSG-Webseite zugänglich gemacht würde.
Erst einige Zeit später wurde diese Dokumentation im Mitgliederbereich der DGSF-Webseite veröffentlich, doch so kunstvoll versteckt, dass jemand, der nicht in diese Kontroverse einbezogen worden ist, wohl nur durch einen Zufall auf die Seite stoßen kann. Leider sind die Texte der „Replikgruppe“ in dieser Dokumentation aus Gründen vollständig geschwärzt, auf die noch zurückzukommen sein wird. Das ist bedauerlich, denn die Art und Weise, wie diese Auseinandersetzung geführt wurde, und vor allem die darin erhobenen Forderungen an den Verband, die auf die Beschneidung der Unabhängigkeit der Herausgeber sowie auf die inhaltliche Kontrolle der veröffentlichten Texte abzielen, sind nicht nur relevant für die DGSF mit immerhin 10.000 Mitgliedern, sondern dürften auch von Interesse für die gesamte systemische Community sein.
Es handelt sich um einen bemerkenswerten Frontalangriff auf die Zeitschrift, die seit 1979 besteht und seit 1995 von einem Herausgebergremium geführt wird. Wer den Kontext nicht kennt: Die Herausgeber verantworten einen Thementeil mit Originalbeiträgen aus Wissenschaft, Forschung und Praxis, daneben gibt es einen innerverbandlichen Mitteilungsteil, der von der DGSF-Geschäftsstelle gestaltet wird sowie einen Rezensionsteil, der von einem Redakteur des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht betreut wird und auf den die Herausgeber keinen Einfluss nehmen. Die bislang gültige (und bewährte) Praxis sieht vor, dass das Herausgebergremium den Thementeil autonom und unabhängig konzipiert und gestaltet. Neue Herausgeber werden vom Gremium kooptiert. Diese Regelung beruht auf dem Vertrauen, das seitens des Vorstandes dem Herausgebergremium entgegengebracht wird und das die Basis dafür ist, dass die Zeitschrift auch eine verbandsübergreifende Reputation erworben hat. Sie sorgt dafür, dass eingereichte Beiträge aus der Mitgliedschaft auf die gleiche Weise inhaltlich geprüft werden wie Texte von Autorinnen und Autoren außerhalb des Verbandes.
Der Kern dieser verbandspolitischen Breitseite zielt darauf, diese Regelung zu torpedieren und eine ideologische Kontrolle der veröffentlichten Texte zu etablieren. Ausgangspunkt war die bereits erwähnte„Replik“ einer Gruppe von 8 Personen, die sich in einem Schreiben an den Vorstand der DGSF und die Herausgeber des Kontext am 31.10.2023 als „Qualitätszirkel der Hochschulinstitute“ zu erkennen gaben mit der Ankündigung, dass sie hier als Erstunterzeichner aufträten und eine „weitere Unterzeichner_innenliste“ folgen lassen würden.
Als „Akteur:innen der Wissenschaft innerhalb der DGSF“ hielten sie es „für notwendig, den Text [der Rezension] zu kommentieren und abschließend unsere Forderung bezüglich einer Klärung der Besetzung der Redaktion und der Auswahl von Inhalten für die Fachzeitschrift der DGSF zu stellen“ (Hervorh. TL). Sowohl dem Autor des besprochenen Buches als auch dem Rezensenten wird in der Replik unterstellt, einen „Patriarchal-misogynen Populismus unter dem Deckmantel der Wissenschaft“ „als ,Buchbesprechung’ getarnt“ zu betreiben und feministische Perspektiven als wissenschaftsferne Ideologie zu diffamieren. Abgesehen davon, dass eine Rezension – jedenfalls im Kontext – in der Regel kein wissenschaftlicher Text ist, sondern inhaltliche Angaben zum Buch, Leseeindrücke sowie Kritik und Bewertungen des Rezensenten enthält, handelt es sich bei dem besprochenen Werk auch nicht um ein wissenschaftliches Buch, sondern um eine an ein breites Publikum gerichtete Arbeit, in der die statistischen Analysen des Autors, die sich im Übrigen auf eine sehr breite Datenbasis stützen, auf durchaus polemische Weise präsentiert werden. Der Rezensent teilt sowohl die inhaltliche Perspektive des Buches als auch dessen polemischen Zuspitzungen, wobei zum Kontextwissen noch hinzugefügt werden muss, dass sich die polemischen Stellen im besprochenen Buch nicht auf feministische Positionen im Allgemeinen, sondern in erster Linie auf ideologische Positionen eines vom Autor so genannten „illiberalen Opfer-Feminismus“ beziehen, die selbst nicht durch empirische Daten gedeckt seien. Die dort vorgestellten Daten werden im Übrigen von den Unterzeichnern der Replik gar nicht in Frage gestellt, nur die „falsche Interpretation“ durch den Forscher wie auch den Rezensenten. Die nämlich würden aus der beeindruckenden und interessanterweise gleich hohen Lebenszufriedenheit von Frauen und Männern „aus Unwissenheit oder aus Unkenntnis einer wissenschaftlich-rechtschaffenen Interpretation und Kommunikation von Forschungsergebnissen“ schließen, dass die Emanzipation im Wesentlichen abgeschlossen sei, da es Frauen und Männern gleich gut ginge (die Daten zeigen übrigens auch, dass Männer und Frauen in Ländern, in denen Frauen nach wie vor unterdrückt werden, in gleichem Maße unzufrieden sind). Wer sich weiter mit den inhaltlichen Aspekten dieser Debatte beschäftigen möchte, kann das tun: die Rezension ist auf der bereits erwähnten Internetseite im Mitgliederbereich der DGSF zu finden, das umstrittene Buch findet man hier.
Die Replik war erkennbar nicht als Leserbrief für den Kontext konzipiert, was ja zu einer interessanten inhaltlichen Auseinandersetzung hätte beitragen können. Stattdessen wurde eine Stellungnahme von Vorstand und Herausgebern sowie eine Weiterleitung der Replik an den Wissenschaftlichen Beirat eingefordert, dem zu diesem Zeitpunkt offenbar eine wichtige Stimme zugeschrieben wurde.
Die Herausgeber antworteten mit einer Einladung zur Beteiligung an einem kontroversen Debattenheft zum Thema der Gendergerechtigkeit. Auch der Vorstand begrüßte in seinem Antwortschreiben eine inhaltliche Auseinandersetzung und wies darüber hinaus darauf hin, dass „vertragsgemäß das Herausgeber*innenteam den Inhalt und die wissenschaftliche Gestaltung der Zeitschrift eigenverantwortlich [verantwortet] und […] mit einer Vertreterin und einem Redakteur des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht zusammen [ arbeitet]“.
Ende November teilte die Replikgruppe, die mittlerweile auf 33 Personen angewachsen war, mit, dass der „Wunsch nach einer Stellungnahme“ nicht erfüllt worden sei und deshalb eine weitere Replik verfasst worden sei, „um unsere Sichtweisen zu verdeutlichen“. Desweiteren sei entschieden worden, den Ethikbeirat der DGSF „in den Diskurs einzubinden“. Ultimativ wurden Vorstand und Herausgeber aufgefordert, den Wissenschaftlichen Beirat um eine Stellungnahme zu bitten.
Der Ethikbeirat wurde in einem weiteren Schreiben von der Replikgruppe gebeten, ihr Anliegen zu prüfen und eine Rückmeldung zur „Konkretisierung der aus unserer Sicht zu klärenden Rahmenbedingungen für die Herausgabe und die Inhalte unserer Verbandszeitschrift“ zu geben, eine Aufgabe, die nach §17 der DGSF-Satzung kaum zu den Aufgaben des Ethikbeirates gehören dürfte.
Die mit dieser Antwort verschickte zweite „Replik auf die Mailantworten zu unserer Replik“ verstärkte noch einmal den Vorwurf, „dass in der KONTEXT eine populistische Inanspruchnahme vermeintlicher Wissenschaftlichkeit zur Untermauerung der eigenen Sprech- und Machtposition missbraucht wird“. „Das Angebot der Herausgeber*innen, einen inhaltlichen Beitrag zum Thema Geschlechtergerechtigkeit zu verfassen“, sei „irreführend und ablenkend“, ja, die „Antwort der Herausgeber*innen ist eine Nebelkerze, die das dahinterliegende Thema zu verschleiern sucht und auf unverfrorene Weise versucht dem patriarchalen Populismus […] eine weitere Bühne zu bieten“.
Stattdessen müsse es darum gehen, „wer aufgrund welcher Kriterien entscheidet, welchen Themen in der Verbandszeitung Raum gegeben wird – und welchen nicht. Auch darüber, welche sprachlichen und ethischen Kriterien solche Beiträge erfüllen sollen“. Und: „Grundsätzlich wären – unserer Meinung nach – macht- und statusorientierte und populistische Texte auszuschließen, wie die kritisierte Buchbesprechung und das ihr zugrundeliegende Buch“ und es „müssen Kriterien formuliert werden, die regeln, wer als Herausgeber*in der KONTEXT benannt werden kann und welchen Werten sich diese Person zu verpflichten hat“.
Ideen, wie man macht- und statusorientierte und populistische Texte erkennen und welche Art von Schrifttumskammer mit der Zuständigkeit ausgestattet werden könnte, entsprechende Texte „auszuschließen“, waren in dieser Replik nicht enthalten.
In Folge setzte sich das Herausgebergremium mit dem Wissenschaftlichen Beirat in Verbindung, der keine geschlossene Stellungnahme verfasste, sondern am 17.12.2023 eine Sammlung von Einzelvoten an die Replikgruppe und alle anderen Akteure schickte, aus denen bei aller unterschiedlicher Bewertung der Rezension hervorging, „dass die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates wünschen und hoffen, dass der hier initiierte Konflikt diskursiv-argumentativ geklärt, vielleicht auch aufgelöst werden kann. Darüber hinaus bestand im Beirat ein klares Einverständnis, dass die von den VerfasserInnen erhobenen Forderungen nach einer Kontrolle von außen zurückgewiesen werden“. Desweiteren unterstützte der Beirat den Vorschlag eines Themenheftes zur Genderthematik und schlug vor, die Rezension, Repliken und Stellungnahmen „in der nächsten KONTEXT-Ausgabe zu veröffentlichen, um die von den VerfasserInnen der Repliken geforderte Transparenz herzustellen“.
Am 12. Januar teilten die Herausgeber mit, dass sie für das Heft 3/2024 ein Heft zum Thema „Was emotionalisiert uns an der Genderdebatte“ gestalten werden.
Ende Januar wies dann die Replikgruppe in einem Schreiben, das sich an Vorstand, Herausgeber und den Wissenschaftlichen Beirat richtete, den Vorschlag einer Veröffentlichung zurück mit der Bemerkung, ihre „Intervention (Replik) adressier[…]e sich bewusst an verantwortliche Stellen im Verband und nicht an eine allgemeine Öffentlichkeit. Dabei bleiben wir und möchten unsere Texte nicht veröffentlichen“.
Es gehe „hier in diesem Adressat*innen-Kreis in erster Linie um die Benennung und Bearbeitung von organisationalen Fragen“. Die Replik sei verfasst worden, „da wir uns als aktive und gestaltende Mitglieder im Verband auch verantwortlich gegenüber den 10.000 Mitgliedern, unseren Klient*innen und unsere Organisation sehen. Eine Debatte über die „Emotionalisierung der Genderdebatte« trifft nicht den Kern unseres Anliegens.“ Transparenz über ihr Anliegen sollte aber auch offenbar den 10.000 Mitgliedern, für die man sich verantwortlich fühlte, nicht zugemutet werden. Man befürchte die „Reproduktion und Stabilisierung eines patriarchalen Musters, mit dem inhaltlich-sachliche Themen durch die Fokussierung auf Emotionalisierung bagatellisiert werden.“ Der Wissenschaftliche Beirat hätte zu sehr auf die „in der Replik mitgelieferten Emotionen, wie Empörung, Verletzung, Betroffenheit, Ärger, Wut, Fassungslosigkeit“ reagiert, aber „Als Systemiker*innen wäre es unseres Erachtens angemessen, auf die guten Gründe unserer Emotionen und deren Ausdrucksform (sic!) zu vertrauen und auf die damit verbundenen Themen und Anliegen zu fokussieren“.
Immerhin wurde ein „inhaltlicher Diskurs […] auf breiterer Ebene“ begrüßt, etwa ein „virtueller runder Tisch für ein persönliches Gespräch zwischen Vertreter*innen der beteiligten Gruppen“, auch eine „inhaltliche Auseinandersetzung, z.B. im Rahmen eines Verbandstages zum Thema Gleichstellung, Gender und Macht“. Warum hier die Veröffentlichung der Repliken und Stellungnahmen oder die Beteiligung an einem Debattenheft keine gute Möglichkeit der Vorbereitung eines inhaltlichen Diskurses auf breiterer Ebene sein könnte, erscheint schleierhaft. Allerdings wurde ein separater Leserbrief im Kontext angekündigt, der auch mittlerweile erschienen ist, die hier geschilderten Hintergründe aber weitgehend ausblendet.
Am 6.2.2024 verschickte der Ethik-Beirat die von der Replikgruppe erbetene Stellungnahme. Laut Satzung gehört u.a. die „Beratung und Vermittlung bei Beschwerden und vermuteten Verstößen gegen die Ethik-Richtlinien durch Mitglieder der DGSF“ zu seinen Aufgaben. Auch wenn er selbst schreibt, dass der Ethikbeirat „dazu verpflichtet [sei], alle Beteiligten gründlich zu befragen und danach eine einvernehmliche Lösung anzustreben“, macht er in seiner Stellungnahme aber deutlich, dass er „keine weiteren Meinungen“ eingeholt habe, sondern seine Stellungnahme als „Anregung zum Diskurs“ verstehe. Um Vermittlung war er entsprechend auch nicht vor seiner Stellungnahme bemüht, sondern macht sich darin im Wesentlichen die Bewertung der Rezension durch die Replikgruppe zu eigen. Diese Rezension provoziere „bewusst Widerspruch, denn Duktus und Rhetorik greifen bestimmte politische Strömungen wie etwa die Diskussion der Gender-Sprache auf, um damit Stimmung zu machen gegen jegliche (sic!) Emanzipation und für ein längst überholt geglaubtes, revisionistisches, geschlechtsspezifisches Frauenbild“. Auch wenn „natürlich […] in dem Organ der DGSF die Freiheit zur Meinungsäußerung“ bestehe, schade „einer der Herausgeber mit dieser Entgleisung dem Verband eher“ als ihm zu nützen. Dass der Autor der Rezension an die Ethik-Richtlinien des Verbandes gebunden sei, ist sicherlich eine zutreffende Feststellung.
Dort heißt es: „Die Grundhaltung systemischer Berater*innen, Therapeut*innen, Supervisor*innen und Weiterbildner*innen ist gekennzeichnet durch Achtung, Respekt und Wertschätzung gegenüber einzelnen Personen und Systemen. Dies beinhaltet die Akzeptanz Einzelner als Person und die Allparteilichkeit gegenüber den zum System gehörenden Personen, unabhängig von deren Alter, Geschlecht, ethnischer Herkunft, Kultur, Status, sexueller Orientierung, Weltanschauung und Religion.“ In der Präambel wird festgehalten: „Dies gilt im Verhältnis zu Klient*innen, Kolleg*innen, Lehrenden, Teilnehmenden in Aus-, Fort- und Weiterbildung, Mitarbeitenden und sonstigen Beteiligten sowie zu Instituten und Einrichtungen.“ Hier geht es offensichtlich aus gutem Grund um den Schutz von Klienten, Weiterbildungsteilnehmern, Supervisanden, Kunden etc. vor – wie es weiter heißt – „Diskriminierung, Ausbeutung und Ausnutzung“, der sich aus dem „verantwortungsvollen Umgang mit dem besonderen Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis der Klient*innen bzw. Weiterbildungskandidat*innen“ ergibt. Auch wenn in der Präambel von der „Form eigenverantwortlichen Handelns im therapeutischen, beraterischen, supervisorischen, berufspolitischen, wissenschaftlichen und publizistischen Bereich“ die Rede ist, geht es hier doch offensichtlich um den Umgang mit anderen Personen, nicht um Polemik gegen inhaltliche Positionen.
Aus der gendersensiblen Grundhaltung, die die Mitglieder der DGSF zu Recht gegenüber ihren Klienten und Weiterbildungsteilnehmern gegenüber aufbringen sollen, macht der Ethik-Beirat die Frage: „Kann der Rezensent, der für die aktuelle Frauenbewegung den Begriff eines ,illiberalen Opferfeminismus’ übernimmt, seinen Leser*innen überhaupt noch ,mit Offenheit und Interesse, unabhängig von deren … Geschlecht, … sexueller Orientierung und Lebensorientierung’ (Zitat aus den Ethik-Richtlinien) begegnen?“ Bemerkenswert, wie hier die Leserschaft des Kontext unter der Hand zu Klienten von Autoren wird, die sich ihr gegenüber mit der gleichen inhaltlichen Zurückhaltung wie Professionelle in ihren Beratungskontexten verhalten sollen (was für feministische Positionen nicht zu gelten scheint). Im Unterschied zur Arbeit mit Klienten bzw. Weiterbildungskandidaten gibt es in der Publizistik aber kein „besonderes Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis“ der Leser zu den Autoren. Das wäre auch absurd, will man im Unterschied zu Beratungskontexten doch in Texten die Positionen und Meinungen der Autoren erkennen können, damit sie überhaupt erst kritisierbar werden.
Diese Überdehnung von Ethikrichtlinien scheint der Ethikbeirat selbst nicht unter ethischen Aspekten reflektiert zu haben. Seine Schlussfolgerungen laufen schlussendlich auf den Tod jeder offenen inhaltlichen Debatte hinaus. Letztendlich scheut der Ethik-Beirat aber davor zurück, explizit einen Verstoß gegen die Ethik-Richtlinien festzustellen. Immerhin konzediert er „die Freiheit zur Meinungsäußerung“ auch dem „Organ der DSGSF“. Auch auf die Forderungen der Replik-Gruppe geht er nicht ein.
Die darauf folgenden Wochen sind geprägt von Auseinandersetzungen über die Form der Veröffentlichung dieser Debatte. Die Replikgruppe besteht darauf, dass ihre Texte nicht veröffentlicht werden sollen. Vorstand und Herausgeber schlagen vor, eine anonymisierte Fassung zu veröffentlichen, bei der die Mitglieder dieser Gruppe nicht identifiziert werden können. Auch das wird abgelehnt, trotz der verspürten Verantwortung für 10.000 Mitglieder seitens der „Akteur:innen der Wissenschaft innerhalb der DGSF“. Letzten Endes gibt es eine Entscheidung des Vorstandes, den Verlauf der Debatte in einem PDF allen Mitgliedern zur Verfügung zu stellen, in dem sämtliche Beiträge der Replikgruppe komplett geschwärzt sind.
Ihre Forderungen nach Änderungen des Status des Herausgebergremiums und nach inhaltlicher Kontrolle von Beiträgen scheinen sie nicht aufgegeben zu haben. Offensichtlich fürchten sie aber, für ihre Positionen mit ihrem Namen einzustehen. Die Forderung, „macht- und statusorientierte und populistische Texte auszuschließen“, ohne zu definieren, was denn darunter zu verstehen sei und wer eine solche Definition festlegen kann, ist bemerkenswert in einem Verband, der sich der Pluralität von Perspektiven und einem dialogischen Ansatz verpflichtet fühlt. Es stellt sich die Frage, ob nicht hier selbst vorrangig macht- und statusorientierte Interessen eine Rolle spielen. Im Grundsatzpapier zum Gesellschaftlichen Engagement der DGSF heißt es: „Entsprechend den Grundsätzen der systemischen Therapie und Beratung sollten Interventionen der DGSF keine simplen „Weg mit (…)! / Vorwärts zu (…)!“-Forderungen sein. Gesellschaftspolitik der DGSF sollte sich ihrer eigenen Beobachterabhängigkeit bewusst sein, und dass auch gegenläufige Perspektiven und Forderungen, aus anderen Sichtweisen begründet, gleiche Legitimität beanspruchen können.“ Diese Position steht in krassem Gegensatz zur Cancel Culture, die hinter dieser Kampagne aufscheint. Dass die Repliken nicht Meinungen, sondern Personen auf mitunter denunziatorische Weise diffamieren, ist dem Ethikbeirat übrigens keine ethische Reflexion wert gewesen.
Bedauerlich ist, dass sich unter den Unterzeichnern der Repliken nicht nur prominente Kolleginnen und Kollegen finden, die wichtige Funktionen im Verband wahrnehmen, sondern auch solche, die selbst publizistisch tätig sind und eigentlich die Freiheit inhaltlicher Auseinandersetzungen hochhalten müssten.
Es wäre dem Verband zu wünschen, dass die vom Vorstand bereits erwähnte vertragsgemäße eigenverantwortliche Gestaltung des Kontext durch die Herausgeber nicht nur nicht angetastet, sondern bekräftigt wird. Eine inhaltliche Debatte über die hier aufgeworfenen Themen scheint darüber hinaus mehr als angebracht zu sein. Dafür müssten sich die „Replikanten“ aber aus ihrer Anonymität herauswagen und Verantwortung für ihre Positionen übernehmen – auch wenn es vielleicht weh tut.
Ich konzediere, dass ich weder das Buch noch die Rezension kenne. Erst heute erfahre ich von Tom von der Kontroverse und lese seinen umsichtigen Beitrag im systemagazin. Die Feigheit der Replik-Gruppe, ihre Namen nicht zu nennen, empört mich. Zensur im Jahre 2024 zu fordern, macht mich sprachlos. Ich wünsche der DGSF, dass sie die Herausgeberinnen darin bestärkt, unzensiert eigenverantwortlich die Zeitschrift Kontext zu gestalten. Haja Molter
Als nicht-DGSF-Mitglied und nicht-KONTEXT-Abonnent hatte ich von den geschilderten Vorgängen bisher nichts mitbekommen (Dein Link, Tom, führt in der Tat nur auf den internen Mitgliederbereich der DGSF, zu dem Menschen wie ich keinen Zugang habe). Um so wichtiger finde ich Deine Ausführungen und Erwägungen hier im systemagazin – und auch die bisherigen Kommentare dazu. Weder das Buch noch Behers Rezension oder die anonymen (?) Repliken kenne ich. Warum dennoch ein Kommentar?: Ich möchte den synoptischen letzten Absatz von Dir, Tom, explizit unterstützen. Mir scheint (und ich würde mich freuen, wenn mein Eindruck nicht den Fakten entspricht – leider könnte ich aber etliche Beispiele nennen), dass zunehmend unterschiedliche Positionen nicht diskursiv vor- und ausgetragen werden, sondern versucht wird, mit anderen Mitteln die „Gegner“ zu diskreditieren, denunzieren, diffamierenn pp und so Zensurgewalt auszuüben. Das erscheint mir nicht nur arrogant und selbstherrlich („die dumme Masse soll davor bewahrt werden, sich selbst mit den Argumenten und Sichtweisen, die einem micht in den Kram passen, auseinanderzusetzen), sondern in einem Land, das sich vor 90 Jahren mit Bücherverbrennungen hervorgetan hat, sollten wir alle bereits gegenüber den Anfängen der Eliminierung „unpassender“ Sichtweisen wachsam sein.
Solange es Gewalt gegen Frauen gibt, sollte kein Mann einen Begriff wie „Opferfeminismus“ abwertend benutzen, wie es M. Schröder in seinem Buch getan hat (dessen Positionen sich Stefan Beher in seiner Rezension scheinbar uneingeschränkt anschließt). Egal wo.
Dies schreibe ich als frühere Mitarbeiterin in Frauenhäusern, die unter anderem einen Mord an einer Frauenhausbewohnerin miterlebt hat.
Auch sonst finde ich an den Positionen in der Rezension so viel kritikwürdig, dass es mich sehr wundert, dass die Kritiker:innen nicht mit ihren Namen zu ihrer Kritik stehen. Mir fehlt die Zeit, dazu mehr Fundiertes zu schreiben, aber will ich mich wirklich damit auseinandersetzen? Ich bin für offene Diskussion und gegen Redeverbote, aber so etwas im Kontext zu lesen, hat mich schon sehr verwundert.
Mir fällt auf, dass die Teilnehmer an dieser Debatte (sowohl auf systemagazin als auch auf LinkedIn) überwiegend männlich sind. Hier mal eine kurze Auszählung:
– Kommentator:innen auf systemagazin: 2 : 5 zugunsten von Männern
– Kommentator:innen auf LinkedIn: 1 : 8 zugunsten von Männern
– Likes auf LinkedIn: 6: 16 zugunsten von Männern
Liegt das daran, dass der Text von Tom Levold patriarchalich und frauenfeindlich ist? dass Männer mehr reden und posten als Frauen? dass es mehr Männer als Frauen gibt auf der Welt? dass Frauen auf anderen Diskursplattformen unterwegs sind?
Wo sind die Frauenstimmen zu dieser Sache?
Wäre interessant …
Wer das Anwachsen patriarchaler und frauenfeindlicher Strukturen beobachten will, sucht in Redaktionsstuben systemischer Zeitschriften mE an der falschen Stelle. Der zunehmende Druck islamischer Mileus z.B. auf das Kopftuchtragen junger Mädchen und Frauen zeugen da von einem ganz anderen Kaliber als die Rezension eines mehr oder weniger gelungenen Buches. S. z.B. https://www.emma.de/artikel/keine-abaya-mehr-schulen-340675
Ein paar Fragen. Wer spricht worüber zu wem? Wovon ausgehend? Mit welcher Idee? Mit welchem Ziel? Aus welcher Lage? Mit welcher Berechtigung? In welchem Stil? Wer spricht mit wem in welchem Medium? Ich lese gerade „Das Grundgesetzt. Ein literarischer Kommentar“ herausgegeben von Georg M. Oswald. Angenehm sachlich, wertschätzend und nachdenklich in Stil und Ton. Das würde ich mir für Debatten überhaupt wünschen. In jeder Gemeinschaft ist immer wieder neu zu besprechen und auszuhandeln, wovon „wir“ ausgehen, was „uns“ ausmacht, bindet und treibt. Wie sprechen wir miteinander. Welche Kultur des Sprechens bringen wir dabei hervor, und welche Konsequenzen hat eine solche Kultur für das (miteinander?) Sprechen?
Mir fällt in diesem Zusammenhang der Begriff der „Tribunalisierung“ von Odo Marquardt ein: je mehr der Mensch, was in den spätmodernen Gesellschaften der Fall ist, des existentiellen Leids enthoben ist, umso mehr Zeit und Gelegenheit hat er (nach Marquardt), Gott für das verbleibende Leid (also auch wahrgenommene Ungerechtigkeiten) anzuklagen. In einer gott-losen (dies ist ohne Wertung gemeint) und jeder spirituellen Einbindung baren Konsum-, Leistungs-, Konkurrenz- und Warenwelt bleibt nur der Mensch selbst (=der andere) bzw. „die Gesellschaft“ als Angeklagte(r) übrig.
Wir erleben diese Dynamiken in den letzten 15-20 Jahren mit fast potenzierter Form: überall werden Ungerechtigkeiten aufgespürt und angeklagt, bilden sich Initiativen, die dies aufgreifen und in den Kampf ziehen. Die Folge ist eine zunehmende Bekämpfung des Andersmeinenden, der sofort zum Feind wird, der bekämpft und am besten getilgt werden soll. Zumindest muss seine Meinung ausgemerzt, getilgt und als grundlegend diskreditiert werden. Am Ende gibt es nur noch „Gute“ und „Nazis“. Wir können das anhand der aktuellen Faeserisierung des gesellschaftlichen Klimas beobachten.
Zu beklagen ist eine Verkümmerung des allgemeinen moralischen Urteils: es gibt nur noch Gut oder Böse. Du bist entweder meiner Meinung oder du gehörst verboten, aus der Gesellschaft verbannt. Das ist ein moralisches Urteil auf Kindergartenkindniveau, eine „Verkasperltheatrisierung“ des moralischen Urteils und des öffentlichen Diskurses: es gibt nur noch zwei Seiten: die von Kasperl/Gretel/Großmutter/Polizist und Räuber/Krokodil auf der anderen Seite. Der beste Nährboden für totalitäre Strukturen.
Donnerwetter. Gerade lese ich die neuesten Beiträge im Systemagazin. Da qualmt es ja gewaltig. Danke, Tom, für die Darstellung diser internen Prozesse. Diese werden (vermutlich) von anderen Beobachter*innen dieses Prozesses anders dargestellt, was ja auch nicht überrasachend wäre.
Es scheint, dass sich feministisch-genderorientierte Beiträge und Repliken mit Angriffen auf die bisherigen Prinzipien der Herausgeberschaft der Fachzeitschrift „Kontext“ auf höchst ungute Art vermischen.
Ich kann mich sehr gut Deinen letzten Sätzen anschließen: „Es wäre dem Verband zu wünschen, dass die vom Vorstand bereits erwähnte vertragsgemäße eigenverantwortliche Gestaltung des Kontext durch die Herausgeber nicht nur nicht angetastet, sondern bekräftigt wird. Eine inhaltliche Debatte über die hier aufgeworfenen Themen scheint darüber hinaus mehr als angebracht zu sein.“
Rudolf Klein
Ich lese ungern politische Texte, Positionierungen und allgemeines Geschwafel. Diktaturgeprägt, wie ich aufwuchs, beobachte ich an mir selbst die Tendenz mit den Augen zu rollen, wenn wieder wer mit vielen Worten narzisstisches Geplapper von sich gibt und etwas fordert, ohne wirklich zu verstehen was. Wie interessant, dass Du Tom, diesen Diskurs nun für mich ein wenig aufbereitet hast.
Offen zu diskutieren und sich zu positionieren muss man ja auch erstmal lernen. Die völlig andere Meinung eines Gegenüber erstmal auszuhalten, kann schwierig sein. Ich beobachte seit längerem einerseits eine Verdrossenheit bei den Älteren, Verstehens-Brücken zu bauen für unerfahrene Jüngere und bei diesen fehlende mentale Räume, um Diskurse inhaltlich in Gang zu halten. Da werden dann Begrenzungen gefordert. Fragen zu stellen hat sich dann bewährt, braucht aber Raum und Zeit, was in der hiesigen Computergesellschaft ein knappes Gut zu sein scheint.
Wie interessant, dass wir in unserem Ethikkodex nicht systematisch unterscheiden zwischen Beziehungen zu Klient*innen und Beziehungen zu Kolleg*innen oder Leser*innen professioneller Zeitschriften, und auf beide Typen von Beziehung dieselben Standards von Rücksicht, Vorsicht, Triggerfreiheit usw. anwenden. Das ist in der Tat eine Überdehnung von Ethikrichtlinien, wie der Text sagt. Ethikkodizes dienen dem Schutz von Klient*innen und der Abstützung der Vertrauensbeziehung Professionelle*r/Klient*in, nicht der Regulierung des innerprofessionellen Diskurses.
Ich habe in einem Seminar zu Professionssoziologie bei Ulrich Oevermann gelernt, dass man an der Präzision vs. Ausuferndheit von Ethikkodizes den Entwicklungsstand einer Profession ablesen kann. Das Beispiel war: Der hippokratische Eid der Ärzte ist einen Satz lang. Der Berufskodex irgendeines Verbandes von Sozialarbeitern ist 15 Seiten lang. (Ich weiß nicht mehr, welcher Verband das war.)
Vielleicht sollten wir uns auch auf den Kern der professionellen Arbeit und den Kern des Klientenverhältnisses konzentrieren mit unserem Ethikverständnis …
Danke, lieber Tom, für die sicher nicht einfache Aufgabe, einen ebenfalls nicht einfachen Prozess wiederzugeben. Für die nun sicherlich (hoffentlich?) einsetzende Diskussion empfehle ich, sich an den schönen Rat von Torsten Groth zu halten: „Bleibe im Modus: ‚Wie interessant, dass…'“.
Mit freundlichen Grüßen
Arist v.Schlippe
(Groth, T. 2017, 66 Gebote systemischen Denkens und Handelns. Carl Auer Systeme, S. 26f