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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe. Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit

Unter diesem Titel hat Heiko Kleve 2020 im Carl-Auer-Verlag seine Streitschrift veröffentlicht, in der er dafür plädiert, die sozialstaatliche Regulierung sozialer Arbeit durch eine marktliberale Politik von Angebot und Nachfrage zu ersetzen. Dabei bezieht er sich wesentlich auf Autoren wie den Theoretiker des Neoliberalismus Friedrich Hayek und den Systemtheoretiker Niklas Luhmann, deren Ansätze für ihn im Wesentlichen übereinstimmen: „Während der Neoliberalismus insbesondere Wirtschaftsfragen thematisiert, und ein Wirtschaftsliberalismus ist, kann die Systemtheorie weiter gefasst werden: Wir könnten sie als Systemliberalismus bezeichnen“ (S. 86). Dieses Etikett nimmt er auch für seine eigene Position in Anspruch.

Seine Begeisterung für den Neoliberalismus hat Kleve schon seit 2010 in verschiedenen Zeitschriftenaufsätzen publiziert, die ausschnittweise und überarbeitet auch in dieses Buch eingegangen sind, so z.B. auch der Artikel Systemische Sozialarbeit und Liberalismus. Plädoyer für soziale Selbstorganisation und individuelle Autonomie – eine Diskussionsanregung, der 2016 in der Familiendynamik erschien, ohne aber eine nennenswerte Diskussion auszulösen. Im sozialarbeiterischen Diskurs sind seine Texte durchaus auf Widerspruch gestoßen, anerkennenswerter Weise hat er einen kritischen Dialog mit Markus Eckl über seine Thesen auch als Kapitel in dieses Buch aufgenommen. Im systemischen Feld haben seine Überlegungen, die ja hohen politischen Sprengstoff bieten, dagegen bislang keine sonderliche Aufmerksamkeit bekommen, entsprechend fiel auch die Resonanz auf seine „Streitschrift“ bislang eher mager aus.

Vor diesem Hintergrund bietet die nachfolgende ausführliche Rezension Reinhart Wolffs, der die Promotion Heiko Kleves betreut hat, vielleicht doch die Möglichkeit, in eine kritische Debatte von Kleves Thesen einzusteigen.

Reinhart Wolff, Berlin: Kein Leuchtturm mehr – Kritische Lektüre einer Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit

1.
Als mich vor einigen Monaten Tom Levold fragte, ob ich bereit wäre, eine 2020 publizierte, allerdings schnell in der Fachöffentlichkeit heftig umstrittene Aufsatzsammlung von Heiko Kleve: Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe. Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit zu rezensieren, zögerte ich und fragte mich, ob ich das tatsächlich tun sollte, war Heiko Kleve doch einer meiner besten Doktoranden in den 1990er Jahren gewesen, dessen weitere Arbeit ich immer mit Interesse verfolgt hatte. Heiko Kleve hatte an meinem Promotionscolloquium „Theorie und Praxis sozialer Hilfesysteme“ teilgenommen und dann 1998 eine rasante Dissertation „Postmoderne Sozialarbeit. Ein systemtheoreti-sche-konstruktivistischer Beitrag zur Sozialarbeitswissenschaft“ vorgelegt (in 1. Auflage 1999 in Aachen in Heinz Kerstings Wiss. Verlag des Instituts für Beratung und Supervision und 2007 als 2. Auflage in Wiesbaden im VS Verlag für Sozialwissenschaften erschienen), die ich selbst und Dietmar Kamper als Gutachter wie auch viele Leser danach (wie beispielsweise auch Herbert Effinger in seiner Rezension der Zweitauflage vom 08. Okt. 2007 im socialnet; Zugriff: 08.06.2022) als eine wichtige, ja, herausragende Leistung einschätzten. Ich hatte damals im Vorwort zur Erstveröffentlichung geschrieben:
„Wer wissen will, wie man Sozialarbeit als modernes Berufssystem mit all seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit verstehen und beschreiben kann, wird diese Arbeit eines Fachhochschulabsolventen, der damit seine Promotion im direkten Zugang von der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin zur Freien Universität Berlin mit Auszeichnung abschloß, mit Gewinn lesen.
Die Arbeit ist ein Glücksfall einer eigenständigen Weiterentwicklung systemisch-konstruktivistischen Denkens. Wie ein Leuchtturm, dessen bin ich mir sicher, wird sie der Theorie wie der Praxis moderner Sozialer Arbeit Richtung und Orientierung geben.“ (S.11)

Ohne Zweifel konnte Heiko Kleve in den folgenden Jahren an diesen hervorragenden Start in seiner weiteren wissenschaftlichen Praxis anknüpfen. Er wurde schnell nach der Promotion im Jahre 1998 Hochschullehrer an der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin, war danach mehrere Jahre an der Hochschule Potsdam als Hochschullehrer und Dekan tätig und wurde schließlich auf den Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am Wittener Institut f. Familienunternehmen (WIFU) der Universität Witten/Herdecke berufen, wo er immer noch tätig ist. Als junger Spezialist im gerade erst aufgebauten EDV-System der DDR hatte er den Zusammenbruch des staatskommunistischen Systems als Befreiung erlebt und machte sich nun – orientiert an Systemtheorie und Konstruktivismus – mit großem Fleiß und nicht nachlassendem Engagement auf den Weg, herauszufinden, worum es in der Sozialen Arbeit und in der Sozialarbeitswissenschaft – zumal in der „Postmoderne“ – eigentlich geht, denen er zu theoretischer Klarheit verhelfen wollte. Während ihm anfangs auch die Entwicklung methodischer Handlungskonzepte wichtig war (wie beispielsweise der viel gelesene Band „Systemisches Case Management. Falleinschätzung und Hilfeplanung in der Sozialen Arbeit“, den Heiko Kleve zusammen mit Britta Haye, Andreas Hampe-Grosser und Matthias Müller erarbeitete – zuerst 2003 im Kersting Verlag und dann 2006, 2008, 2011 in 3. überarbeiteter Auflage und schließlich in der 6. Auflage 2021 im Carl-Auer Verlag erschienen, oder auch der 2011 veröffentlichte Band „Aufgestellte Unterschiede: systemische Aufstellung und Tetralemma in der sozialen Arbeit“ ebenfalls im Carl-Auer Verlag), war es in den weiteren Jahren seines unermüdlichen Schaffens (mit der Vorlage von immerhin mehr als 30 substanziellen Schriften) dann aber vor allem Kleve’s Hauptinteresse, systemtheoretische und konstruktivistische Grundorientierungen für das Berufssystem und die Disziplin der Sozialen Arbeit zu entwickeln. Die wichtigen Stichworte waren dabei Postmoderne, Konstruktivismus, Unterschiede, Ambivalenz, Paradoxie, Sozialarbeit ohne Eigenschaften, Exklusion/Inklusion, Komplexität gestalten oder sogar: Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (zusammen mit Jan V. Wirth).

Im Kern geht es immer wieder darum: Wie kann man das moderne Berufssystem der Sozialen Arbeit in seinen Entwicklungen und vor allem seinen innersystemischen Widersprüchen und Verwicklungen und seinen Bezügen zu den Bürgern mit ihren Interessen, Bedürfnissen und Notlagen und zu den professionellen, gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umgebungssystemen verstehen und gestalten? Gerade die Bezüge zu den ökonomischen Kontexten in den Blick zu nehmen, ist allerdings mit der Berufung von Heiko Kleve auf den Lehrstuhl für Organisation und Entwicklung am WIFU der privaten Universität Witten/Herdecke wichtiger geworden, was sich ja auch in den jüngsten Veröffentlichungen zeigt (wie beispielsweise: Management der dynastischen Unternehmerfamilie (2021) / Die Unternehmerfamilie (2020) / Soziologie der Unternehmerfamilie (2019)). Explizite Auseinandersetzungen mit kritischen Politik- und Gesellschaftstheorien der fortgeschrittenen Moderne (etwa von Pierre Bourdieu, Zygmund Bauman, Stephan Lessenich, Klaus Dörre oder von Robert Castel und Pierre Rosanvallon) waren bei Heiko Kleve natürlich beim strategi-schen Anschluss an Luhmann’s depolitisiertes Konzept der kommunikativen Schließung der modernen gesellschaftlichen Funktionssysteme weniger angesagt, was sich auch bereits in der Leuchtturmarbeit „Postmoderne Sozialarbeit“ gezeigt hatte, wo es allerdings immerhin noch am Schluss um Überlegungen zur Sozialen Arbeit als lösungsorientierte und postmoderne Gerechtigkeitspraxis ging.

2.
Dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des von der Sowjetunion dominerten staatskommunistischen Systems wird nun 2020 von Kleve mit der Aufsatzsammlung Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe (FVS) (ebenfalls im Carl-Auer Verlag erschienen) ein neues, explizit politisches Kapitel aufgeschlagen, positioniert sich der Autor politisch mit einer Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit, wie es im Untertitel des Bandes heißt. Es handelt sich in dieser Schrift um eine Bündelung von Überlegungen des Autors zu einem politischen Orientierungskonzept, das Kleve – in Abgrenzung zum „Neoliberalismus“ – „Systemliberalismus“ nennt.
Worum es geht, wird gleich mit drei Zitaten des Demokratieverächters und Kapitalismuspropagandisten Friedrich von Hayek angetönt (1):

• Nicht die Grund- und Menschenrechte eines jeden Menschen, wie sie in der amerikanischen und französischen Revolution im 18. Jahrhundert erkämpft wurden, werden als die Grundlagen der Freiheit der Bürgerinnen und Bürger herausgestellt. Stattdessen soll es der Wettbewerb richten, sollen wir nach von Hayek darauf vertrauen, „dass die unabhängigen und wettbewerblichen Bemühungen vieler die Dinge hervorbringen, die wir wünschen werden, wenn wir sie sehen.“ (Hayek, Friedrich August von (1991): Die Verfassung der Freiheit. Tübingen: Mohr Siebeck, S. 38)
• Freiheit verlange, dass jeder nur für sich selbst und seine eignen Handlungen verantwortlich ist, „aber nicht für die anderer, die ebenso frei sind.“ (a.a.O., S. 102)
• Der „echte Individualismus“ setze nicht auf die „Zwangsgewalt des Staates“, der danach trachtet, „alle sozialen Bindungen zu einer Vorschrift zu machen“, sondern auf „freiwillige Zusammenarbeit“, die „Zusammenarbeit der kleinen Gemeinschaften und Gruppen“ (Hayek, Friedrich August v. (1976): Individualismus und wirtschaftliche Ordnung. Salzburg: Neugebauer, S. 36 f.)

Entsprechend wird in der Einleitung unterstrichen, was mit den im Band Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe (FVS) versammelten Beiträge erreicht werden soll: Es soll nämlich die These vertreten werden, „dass sich die Soziale Arbeit ein neues Verhältnis zur kapitalistischen Ökonomie erarbeiten sollte. Denn der wirtschaftliche Kapitalismus und der Liberalismus gehören zusammen und sind als getrennte Phänomene nicht zu haben.“ (FVS, S. 9) Und darum müsse die ökonomische Logik der sozialprofessionellen Organisation umgestaltet und „die enge Verbindung von Staat und Sozialer Arbeit problematisiert“ werden, wird versucht, „eine positive Beziehung von kapitalistisch-liberaler Wirtschaft und Sozialer Arbeit zu denken“ (ebenda). Systemtheoretisch aufgerüstet kennzeichnet der Autor seine Position als „Systemliberalismus“ (FVS, S. 11). Sein Programm klingt wie aus Reden konservativer neoliberaler Politikerinnen und Politiker abgeschrieben (wie etwa von Reagan und Thatcher oder hier in Deutschland von Kapitalismus-Propagandisten aus CDU/CSU und FDP, die in der aktuellen Ampel-Koalition mit Lindner sogar das wichtige Finanzministerium übernommen haben). Nicht zuletzt auch wegen seiner eigenen bedrückenden Erfahrung im Staatskommunismus der DDR (Kleve spricht erstaunlicherweise vom „Realsozialismus der DDR“) präzisiert der Autor für die Soziale Arbeit:
„Dieser Systemliberalismus macht auch vor der Sozialen Arbeit nicht halt, sondern versucht, das Verhältnis dieser Profession zur Wirtschaft und Politik neu zu denken: Hinsichtlich der Wirtschaft wird nicht weniger, sondern mehr Markt etwa tatsächliche Kundenorientierung eingefordert. Hinsichtlich des Staates werden nicht mehr politische Einflussnamen und gegenseitige Verflechtungen, sondern weniger davon postuliert. Und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit gilt es so zu gestalten, dass die ökonomischen Anreize für die Träger bzw. Organisationen der Sozialen Arbeit den fachlichen und ethischen Normen entsprechen, die eindeutig als liberal bewertet werden können und sich als Stärkung und Ermöglichung lebensweltlicher Selbstorganisation und individueller Autonomie bezeichnen lassen. Die stärkere Unabhängigkeit von der staatlichen Politik bedeutet auch, sich zu öffnen für alternative Finanzquellen Sozialer Arbeit (etwa aus Unternehmen und Stiftungen) und damit auch für eine breitere zivilgesellschaftliche Verankerung der Profession, die weniger als handelnder Arm des Sozialstaats gesehen wird, sondern eher als unabhängige Dienstleistung professioneller Hilfe.“ (FVS, S. 11 f.)

Im Kern geht es also um die Frage, wie die Aufgaben eines modernen Berufssystems, wozu die Soziale Arbeit inzwischen geworden ist, und sein Verhältnis zu anderen Funktionssystemen, wie Wirtschaft und Politik, Recht und Wissenschaft, Massenmedien und Bildung bestimmt werden können. Nicht überraschend nimmt Kleve noch einmal in mehreren Kapiteln von FVS die wesentlichen Befunde aus systemtheoretischer Sicht auf: dass wir nämlich in einer funktional differenzierten Netzwerkgesellschaft gelandet sind, in der die beteiligten Systeme „in ihrer jeweiligen Eigendynamik hoch irritierbar geworden sind durch das, was in den jeweils anderen Systemen geschieht … alle diese Systeme ermöglichen und begrenzen sich zugleich“ – und dann heißt es: Die Systeme „können sich nicht nicht beeinflussen, ohne jedoch in der Lage zu sein, sich gegenseitig zu determinieren“ (FVS, S. 26); wir lebten nun in einer polyzentrischen Gesellschaft – „jedes Funktionssystem kreist um sich selbst, ist sein eigenes Zentrum“ (FVS, S. 27).

In allen Variationen wird dieses Konzept von Kapitel zu Kapitel durchgespielt, ohne allerdings schlüssige akteurs- und handlungstheoretische, politiktheoretische – und nicht zuletzt demokratietheoretische – sowie wirtschaftstheoretische und professionstheoretische Konzepte zu nutzen, um die Disziplin (das Fach) und die professionelle Praxis Sozialer Arbeit differenziert zu bestimmen, bei der es – wie auch Kleve unterstreicht – im Kern um Helfen geht, das allerdings nicht – wie Kleve unterstellt – normativ allein „auf die Hilfe zur Selbsthilfe ausgerichtet ist“ (FVS, S. 55); es nurmehr marktförmig als Anbieter-Kunden-System, wie Kleve meint, auszurichten, ist aber programmatisch und methodisch eine Sackgasse, wie mit Blick auf neue Praxistheorien sozialer Hilfepraxis (2) gesehen werden kann, die allerdings in FVS keine Rolle spielen.

Wenn Kleve in FVS an diese neuen Praxistheoretiker angeschlossen hätte, wäre deutlich geworden, dass die plumpe marktwirtschaftliche Ausrichtung Sozialer Arbeit (mit sozial-räumlicher Budgetfinanzierung und einem sog. erfolgsorientierten Fallfinanzierungs- und Kontraktmanagement kein Weg zum Erfolg in der sozialen Fachpraxis ist. Denn es muss überhaupt erst einmal verstanden werden, worauf es in der Sozialen Arbeit praxistheoretisch ankommt. Kompetente soziale Fachkräfte müssen nämlich wissen:

• Die Bestimmung / Konstruktion von Problemen – die in professioneller Praxis gelöst werden sollen – ist selbst kein technisches Problem. „Problemerfassung (problem setting) ist ein Prozess, in dem wir interaktiv die Dinge bezeichnen (name the things), denen wir uns zuwenden wollen, und in dem wir den Kontext rahmen (bestimmen), in dem wir sie bearbeiten.“ (Schön 1983,1991: 40)
• Vor allem, wenn es Konflikte über die zu bearbeitenden Probleme und über die zu erreichenden Ziele gibt, also in Situationen struktureller Unsicherheit, erweist sich technisch-instrumentelle Rationalität als zu schematisch und faktisch unbrauchbar.
• Darum entwickelten kritische Praxistheoretiker einen neuen Ansatz, den sie Design-Denken (Peter G. Rowe) bzw. die Wissenschaft vom Künstlichen (Herbert A. Simon) bzw. Reflective Practice („reflection-in-action“ und „reflection-on-action) (Donald A. Schön) nannten.
• Design-Denken ist intuitiv, experimentell, informell, nutzt erfahrungs-, praxisbasierte (cookbooky) Optimierungsverfahren, um in „unordentlichen“ Problemsituationen (messy problem situations) handlungsfähig zu bleiben.
• Reflective pratice entdeckt eine kritische Epistemologie der Praxis, die Fachkräfte nutzen, um künstlerische, intuitive Prozesse in „Situationen von Unsicherheit, Instabilität, Einzigartigkeit und Wertkonflikt“ (Schön, a.a.O.: 49) zu gestalten.
• Die professionelle Kunst reflektierter Praxis nämlich besteht darin: Sich das verschwiegene, hintergründige Wissen (tacit, implicit knowing-in-action), das alle Fachkräfte besitzen, klar zu machen /Die Kompetenz zu handeln in der Aktion zu erkennen (the know-how is in the action) /Intelligent zu handeln, indem man dem folgt, was einem im „Kopf“ ist („acting one‘s mind“), dann wird deutlich, dass man manchmal mehr weiß, als man sagen kann! /Dass Fachkräfte über die Praxis gerade in „schwierigen Situationen“ nachdenken, wenn sie mitten drinstecken. Sie untersuchen gewissermaßen – en passant – was sie tun, ob etwas gelingt oder misslingt. Und im Rückblick eröffnen sich neue Wissens- und Handlungschancen, wenn man die eigene Praxis untersucht (reflection-on-action).

3.
Einige weiteren Gesichtspunkte, die Heiko Kleve zu wenig im Blick hat, können pointiert werden:
In polyzentrischen komplex vernetzten, lebensgeschichtlich privaten und professionellen Funktionssystemen handeln in den modernen demokratischen und zugleich globalen finanzkapitalistischen Gesellschaften ganz unterschiedliche Akteure – einzeln und in Gruppen, die als Bürger wie als Fachkräfte über gleiche politische Grund- und Freiheitsrechte, nicht aber über den gleichen Grundbesitz, das gleiche Einkommen, das gleiche Vermögen und eine gleichwertige Bildung verfügen, die zwar historisch Ansprüche auf soziale Gerechtigkeit und gegenseitige Unterstützung (Solidarität) haben, die ihnen aber immer wieder in unterschiedlichem Ausmaß gewährt oder sogar vorenthalten werden. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (Solidarität) – oder sogar „the pursuit of happiness“ (das Streben nach Glück bzw. ein glückliches Leben zu führen), wie es in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung heißt, sind politische Leitorientierungen, die noch nicht realisiert sind. Demokratische Bewegungen, sich für sie einzusetzen und ins Werk zu setzen, waren daher in der Geschichte der Sozialen Arbeit wichtig, auch wenn im Laufe der beiden vergangenen Jahrhunderte Demokratie als Leitorientierung des Berufssystems der Sozialen Arbeit nicht immer ein von vielen geteiltes Anliegen in Wissenschaft und Praxis war; erst mit den Gefährdungen der modernen Demokratie in den letzten Jahren ist es wieder zu einem interessierenden Thema geworden ist. Die inzwischen dazu vorliegenden Beiträge nimmt aber Kleve in seiner Streitschrift nicht in den Blick (3). Demokratische Soziale Arbeit ist in der Begründung seines Konzepts einer „liberalen Sozialen Arbeit“ nicht sein Anliegen, zeigt er keinen Weg auf, wie die sozialen Fachkräfte zu „Handwerkern der Demokratie“ (4) werden können, und greift natürlich auch die zehn Leitlinien nicht auf, die wir zusammen mit Patrick Oehler für das berufliche Handeln demokratischer Fachkräfte in der Sozialen Arbeit entwickelt haben. Sie lauten:

① Dialogisch handeln und alle relevanten Akteure einbeziehen und beteiligen
② Sich miteinander verständigen und gegenseitig verstehen
③ Konflikte, Widerstände und Kritik als Chance nutzen (um Veränderungen in Gang zu setzen)
④ Rechte, Freiheiten und Pflichten achten und schützen
⑤ Autorität legitimieren und kritisieren
⑥ Wahlmöglichkeiten eröffnen
⑦ Informationen teilen und unterschiedliche Sichtweisen begreiflich machen
⑧ Interessen und Erwartungen in den Blick nehmen und fair aushandeln
⑨ Prozessoffen sein und Zukunftsdialoge führen
⑩ Gemeinsames experimentelles Forschen und Lernen in Gang setzen (s. auch: Oehler, Patrick (2018): Demokratie und Soziale Arbeit. Entwicklungslinien und Konturen demokratischer Professionalität. Wiesbaden: Springer VS, S. 266 f. / weitere Hinweise in der Einleitung zu unserem Handbuch: Gedik, Kira & Wolff, Reinhart (Hrsg.) (2021): Kinderschutz in der Demokratie – Eckpfeiler guter Fachpraxis. Ein Handbuch. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 9 -20)

Vor allem aber gibt es in der Streitschrift FVS keine wirklich substanzielle Analyse, was im globalen finanzkapitalistischen Wirtschaftssystem tatsächlich los ist. Das wäre aber wichtig gewesen, ist das kapitalistische Wirtschaftssystem, das uns (mit Blick auf von Hayek, Bolz, von Mieses, Popper und natürlich darf auch der FAZ-Journalist Rainer Hank nicht fehlen) als Eldorado der Freiheit und als Garant für wirtschaftliche Selbstorganisation geschildert wird, doch ohne Zweifel neben den politischen und sozio-kulturellen Umweltsystemen für die Soziale Arbeit einer der wichtigsten ökologischen Kontexte: Denn dieses Wirtschaftssystem ist alles andere, als das zu schaffen, „was die Gesellschaft zum Blühen bringt: Reichtum und Wohlstand für alle.“ (FVS, S. 22). Die gegenwärtige Realität sieht anders aus.

Das hyperkapitalistische Wirtschaftssystem ist – in wachsendem Maße in den letzten 40 Jahren – in eine strukturelle Krise geraten. Dabei muss man bedenken: Die moderne kapitalistische Eigentümergesellschaft war seit ihren Anfängen in der amerikanischen und französischen Revolution eine in Besitz, Chancen und Macht ungleich strukturierte Klassengesellschaft geblieben, in der eine Minderheit der Kapitaleigentümer und Vermögens- und Landbesitzer sich den größten Teil des im wirtschaftlichen Produktionsprozess erzeugten Mehrwerts aneignete. Dieser Prozess hat sich nun verschärft. Überall werden die unermesslich Reichen reicher, sodass es sogar in den öffentlichen Diskussionen immer häufiger heißt: „Reich, reicher, obszön reich“ (Der Spiegel, Nr. 21 /21.05.2022). Der Hintergrund ist, dass überall die Besteuerung von hohem Einkommen, großem Vermögen und Kapitalerträgen zurückgenommen worden ist, und eine wachsende Anzahl von Kapitalgewinnen in sog. „Steuerparadiesen“ ausgelagert wird, so dass sich die Ungleichheit überall verstärkt hat. Das reichste Zehntel besitzt (2017) z. B. in Deutschland 67,3 % des privaten Haushaltsvermögens, während das ärmste 50 % nur 1,3 % davon besitzt. Zugleich wurden in vielen Ländern die Leistungen des Sozialstaats (in Deutschland beginnend mit den Harz IV-Rückschritten) abgebaut und ein marktwirtschaftlich orientiertes New Public Management mit den Maastricher Beschlüssen der EU verstärkt. Überall kam es zudem zu großen Lücken im Bildungs- und Gesundheitssystem.

Diese sozio-ökonomische Entwicklung ist an der Entwicklung persönlicher, lebensgeschichtlicher und gesellschaftlicher Krisen, Konflikte, Notlagen und Belastungen – vor allem in den ausgegrenzten Armutsschichten (in Deutschland etwa 11 Millionen Menschen, darunter 2- 3 Millionen Kinder) wesentlich beteiligt, die immer wieder zu einer Herausforderung für die beteiligten Akteure in ihren privaten familialen Lebenszusammenhängen wie in anderen gesellschaftlichen und vor allem institutionellen Kontexten und auch für die Fachkräfte im professionelle Hilfesystem der Sozialen Arbeit werden. Darauf gibt es in der Moderne (zumeist nach gesellschaftlichen und politischen Katstrophen, wie z. B. dem I. und II. Weltkrieg) eine doppelte, aber immer wieder auch bedrohte Antwort: die Herausbildung des abgaben- und steuerfinanzierten modernen Wohlfahrtsstaats in der Form sozialstaatlicher Versicherungssysteme (der Alters-, Kranken- und Sozialversicherung), des Gesundheits- und Bildungssystems und des staatlichen und freigemeinnützigen Sozialen Hilfesystems, das die gesellschaftlich, kulturell, rechtlich und ökonomisch lebensgeschichtlich und beziehungsmäßig in der Lebensführung entstandenen Problemlagen erkennt, aufgreift und behandelt. Andrew Abbott hat dafür den professionellen Akteuren eine dreifache Aufgabe vorgeschlagen: In der offenen Begegnung mit den problembelasteten Akteuren müssen sie die entstandenen bzw. vorliegenden Probleme bestimmen, indem sie eine Problemkonstruktion erarbeiten, die sie professionell behandeln wollen (diagnosis). Sodann ziehen sie daraus konkrete fachliche Schlussfolgerungen, was zu tun ist (inference), um schließlich ein geeignetes Hilfeprogramm vorzuschlagen und ins Werk zu setzen (treatment) (vgl. Abbott, A. (1988): The System of Professions. An Essay on the Division of Expert Labor. Chicago and London: The University of Chicago Press).

Für die Fachpraxis ist allerdings strategisch von Belang, was in der Streitschrift FVS praxis-theoretisch, programmatisch und methodisch leider nicht differenziert erörtert und begründet wird, nämlich: (1) Wer sind die Akteure und wie packen sie diese Aufgaben an? (2) Teilen sie im Praxisprozess Macht, Kompetenz & Ressourcen miteinander – und mit den Klientinnen und Klienten? (3) Spielt ein einseitiges oder ein mehrseitiges, multiperspektivisches Fallverstehen eine Rolle? (4) Gibt es im Praxisprozess ein Geben und Nehmen – Reziprozität/Gegenseitigkeit? (5) Werden die Fachkräfte zu Bündnispartnern der Menschen, die arm, arbeitslos und benachteiligt sind, um deren soziale Exklusion gemeinsam mit ihnen zu überwinden?

Eine solche demokratische Hilfepraxis wäre chancenreicher, wenn sie eingebettet wäre – nicht in eine Politik der Abschaffung und Verstaatlichung des Eigentums überhaupt – sondern, wie kritische Ökonomen und Sozialwissenschaftler vorgeschlagen haben, in eine neue Politik des „partizipativen Sozialismus“, die Thomas Piketty in seinem umfangreichen kritischen Buch (2020): Kapital und Ideologie. München: C.H. Beck entfaltet (5). Er fragt:

„Was ist eine gerechte Gesellschaft? Im Rahmen dieses Buches schlage ich folgende vorläufige Definition vor: Gerecht ist eine Gesellschaft, die allen, die ihr angehören, möglichst umfangreichen Zugang zu grundlegenden Güter gewährt. Zu solchen Grundgütern zählen namentlich Bildung, Gesundheit, aber auch das Wahlrecht und, allgemeiner gesprochen, Partizipation, als Mitbestimmung und möglichst umfassende Teilhabe aller an den verschiedenen Formen gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen, staatsbürgerlichen, politischen Lebens. Die gerechte Gesellschaft organisiert soziale und wirtschaftliche Beziehungen, Eigentumsverhältnisse, Einkommens- und Vermögensverteilung derart, dass sie ihren am wenigsten begünstigten Mitgliedern die bestmöglichen Existenzbedingungen bietet. Damit schließt sie Gleichförmigkeit so wenig ein wie absolute Gleichheit. Einkommens- und Vermögensungleichheiten können, so sie unterschiedlichen Zielsetzungen und Lebensentscheidungen entspringen, und wenn sie die Lebensbedingungen und Chancen der am wenigsten Begünstigten verbessern, durchaus gerecht sein. Das aber muss jeweils erwiesen werden, nicht bloß unterstellt, und dieses Argument darf nicht, wie es nur zu oft geschieht, der Rechtfertigung jedes erdenklichen Ungleichheitsniveaus dienen.“ (S.1187 f.).

Ich kann Heiko Kleve nur einladen, die durch die Erfahrung des DDR-Staatssozialismus ausgelöste Beschädigung der wissenschaftlichen Analysekompetenz in einem solidarischen Dialog zu überwinden. FVS kann nicht das letzte Wort sein.

Anmerkungen

(1) Siehe auch die kritischen Essays von Theresia Enzensberger zur „Mount Pélerin Society“ und von Quin Slobodian über „Hayeks Bastarde. Die neoliberalen Wurzeln des Rechtsliberalismus“ in der kritischen schweizerischen Online-Zeitung republick.ch.

(2) vgl. etwa: Rowe, Peter G. (1986, 1991). Design Thinking. Cambridge (MA): The MIT Press / Simon, Herbert A. (1981). The Sciences of the Artificial. Cambridge (MA): The MIT Press, 1981, dt. (1990) Die Wissenschaften vom Künstlichen. Berlin: Kammerer & Unverzagt / Weick, Karl E. (1995): Sensemaking in Organizations. Thousand Oaks, London; Delhi: Sage Publications / Weick, Karl E. (1985): Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (stw 1194) /Moore, Wilbert (1970): The Professions. New York: Russel Sage Foundation / Glazer, Na-than (1974): Schools of the Minor Professions. In: Minerva / und nicht zuletzt: Schön, Donald A. (1983, 1991): The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action. New York: Basic Books /Aldershot: Ashgate; neueste Auflage: (2016) London & New York: Routledge / Senge, Peter M. (2017): Die fünfte Disziplin. Kunst und Praxis der lernenden Organisation. 11. völlig überarbeitete u. aktualisierte Edition. Stuttgart: Schäffer-Poeschel /Scharmer, Otto C. (2020): Theorie U – Von der Zukunft her führen: Presencing als soziale Technik. Heidelberg: Carl-Auer Verlag / Scharmer, Otto C. (2022): Essentials der Theorie U: Grundprinzipien und Anwendungen. Heidelberg: Carl-Auer Verlag / Klatetzki, Thomas (Hrsg.) (2010): Soziale personenbezogene Dienstleistungsorganisationen. Soziologische Perspektiven. Wiesbaden: Springer VS.

(3) Siehe insbesondere: Köttig, Michaela /Röh, Dieter (Hrsg.) (2019): Soziale Arbeit in der Demokratie – De-mokratieförderung in der Sozialen Arbeit. Theoretische Analysen, gesellschaftliche Herausforderungen und Reflexionen zur Demokratieförderung und Partizipation. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich (auch mit einem anderen Titel: Soziale Arbeit und Demokratie…) / Mührel, Eric /Birgmeier, Bernd (Hrsg.) (2013): Menschenrechte und Demokratie. Perspektiven für die Entwicklung der Sozialen Arbeit als Profession und wissenschaftliche Disziplin. Wiesbaden: Springer VS / Oehler, Patrick (2018): Demokratie und Soziale Arbeit. Entwicklungslinien und Konturen demokratischer Professionalität, mit einem Vorwort von Reinhart Wolff. Wiesbaden: Springer VS / Geisen, Thomas /Kessl, Fabian /Olk, Thomas /Schnurr, Stefan (2013): Soziale Arbeit und Demokratie. Wiesbaden: Springer VS.

(4) Vgl.: Rosenfeld, Jona M. /Tardieu, Bruno (2000): Artisans of Democracy. How Ordinary People, Families in Extreme Poverty, and Social Institutions Become Allies to Overcome Social Exclusion. Lanham, Maryland: University Press of America. /Rätz-Heinisch, Regina /Heeg, Stefan (2009): Handwerker der Demokratie: Bürgerschaftliches und professionelles Handeln in der Kinder- und Jugendhilfe. München: Juventa.

(5) Kleve hat nur einen Satz für das andere wichtige Buch Piketty’s (Das Kapital im 21. Jahrhundert) in seiner Streitschrift FVS übrig. Für die Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems wird es nicht genutzt.

Heiko Kleve (2020): Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe. Streitschrift für eine liberale Soziale Arbeit. Heidelberg (Carl-Auer)

128 Seiten, Kt
ISBN: 978-3-8497-0339-4
Preis: 18,- €

Verlagsinformation:

Liberale Ideen sind durch die Flurschäden, die der vermeintliche Neoliberalismus in der Gesellschaft hinterlassen hat, in Misskredit geraten. Dabei ist gerade die Soziale Arbeit im Kern ein liberales Projekt: Es geht darum, Menschen professionell darin zu unterstützen, dass sie Probleme in ihrer Lebensführung so selbstbestimmt wie möglich lösen können. Das gelingt vor allem dann, wenn nicht nur die Theorien, Haltungen und Methoden der Sozialen Arbeiten liberalen Werten genügen. Auch die Finanzierung und die rechtlichen Grundlagen müssen auf dieses Ziel hin ausgerichtet sein. Heiko Kleve nimmt diese Aspekte in den Blick und macht daran die Soziale Arbeit als Teil des modernen Liberalismus sichtbar. Als Streitschrift wirken seine Ausführungen deshalb, weil sie die gängigen Abwehrreflexe gegen die so genannte Ökonomisierung des Sozialen nicht bedienen – im Gegenteil: Der Wirtschaftsliberalismus wird hier als Anregung genutzt, um die Ziele der Sozialen Arbeit deutlich in den Blick zu rücken: Freiheitszuwachs, Verantwortungsübernahme und Selbsthilfeförderung. Das Buch macht in diesem Zusammenhang auch deutlich, warum systemische Prinzipien wie Selbstorganisation, Ressourcen-, Lösungs- und Zukunftsorientierung so ertragreich für die Soziale Arbeit sind.

Über den Autor:

Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und postmodernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften.

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