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Online-Journal für systemische Entwicklungen

Erfasse komplex, handle einfach!

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Martin Rufer

Unter den Systemikern in Deutschland ist er vor allem durch seine Publikationen und seine rege Beteiligung an den psychotherapiepolitischen Debatten bekannt. Sein Buch „Erfasse komplex, handle einfach. Systemische Psychotherapie als Praxis der Selbstorganisation – ein Lernbuch“, das 2012 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht herausgekommen ist, versucht, mit einem synergetischen Paradigma allgemeine Wirkfaktoren und Kriterien ausfindig zu machen, die helfen, Komplexität zu verstehen und zu vereinfachen. Jürgen Kriz hat in der Familiendynamik 2012 das Buch euphorisch rezensiert, ein guter Grund, die Rezension zum Geburtstag von Martin Rufer (mit freundlicher Genehmigung der Familiendynamik) noch einmal zu veröffentlichen.

Heute feiert Martin Rufer aus Bern seinen 70. Geburtstag – und systemagazin gratuliert von Herzen. Nach seiner Ausbildung zum Primarlehrer (1966-70) studierte er Psychologie, Pädagogik und Soziologie mit Abschluss Erziehungsberatung (lic.phil.). ein Bereich, in dem er neben der Kinder- und Jugendpsychiatrie langjährig tätig war. Seit 1990 hat er eine Privatpraxis als Psychologe und Psychotherapeut für Therapie, Supervision, Fort- und Weiterbildung und arbeitet als Kursleiter von Fortbildungskursen in systemischer Therapie (Uni Zürich, Basel, FSP, SPV , FMH). Er ist Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für systemische Therapie und Beratung (SGS) sowie der Expertenkommission Psychotherapie der FSP und hatte von 2001 bis 2009 die Geschäftsleitung des Zentrums für systemische Therapie und Beratung in Bern inne.

Lieber Martin, zum 70. alles Gute, bleib gesund und dem systemischen Diskurs auch weiterhin mit dem einen oder anderen Beitrag erhalten!

Jürgen Kriz, Osnabrück:

Um es gleich vorweg zu nehmen: diese Buch gehört zu den besten, die mir in den vergangenen Jahrzehnten in die Hand gekommen sind. Diese enthusiastische Bewertung erhält es aufgrund einer – in dieser Form m.W. bisher einmaligen – geglückten Verbindung sonst eher einzeln bearbeiteter Aspekte. Denn es gibt eine Reihe guter bis sehr guter Werke, die entweder Lehrbuchcharakter haben – ergänzt um einige Beispiele und Fallvignetten – oder aber Falldarstellungen enthalten, und dabei auch ein wenig auf die theoretischen Grundlagen eingehen. Letztlich gibt es auch einige gute Werke, in denen Praxis theoretisch reflektiert bzw. über die praktische Umsetzung von Theorie diskutiert wird. Martin Rufer ist es aber mit diesem Werk gelungen, alle drei Perspektiven schlüssig verdichtet miteinander zu vernetzen: Markant vorgetragene theoretische Grundlage, ausführlich dargestellte Fallbeispiele mit klug ausgewähltem Wechsel zwischen wörtlichen Sequenzen und vignettenhafter Übersicht – und das Ganze ergänzt um eine selbstkritisch reflektierende Diskussion der Zusammenhänge zwischen theoretischer Grundorientierung und jeweils praktischer Umsetzung für die zentralen Interventionen. Das Buch erfüllt damit voll das, was dem Untertitel nach dem Gedankenstrich als programmatische Aussage angehängt wurde und was man fast überliest: Es ist ein Lernbuch. In der Tat kann ich mir kaum jemand an systemischer Arbeit Interessierten vorstellen – sei es ein Anfänger, der sich anhand von praktischen Beispielen orientieren will, sei es ein Fachmann, der seine eigene Modelle in der Verbindung von Theorie und Praxis hinterfragen und überdenken möchte – der anhand dieses Buches nicht zum Lernen eingeladen wird.

Entsprechend dieser Ausrichtung steht das 5. Kapitel „Systemische Fallkonzeption – Falbeispiele“ im inhaltlichen Zentrum und ist mit über 150 Seiten am weitaus längsten gestaltet. Es gliedert sich in Darstellungen von sechs systemischen Therapien, deren manifester Anlass (bzw. „Symptomatik“) (1.) Substanzmittelmissbrauch, (2.) Gewalt im bikulturellen Kontext eines Elternpaares, (3.) Therapiemotivation im Kontext einer massiven, psychiatrisch zu behandelnden Störung, (4.) Trauma und posttraumatische Störung im Kontext schulischer Gewalt, (5.) Folgestörungen von sexuellem Missbrauch und (6.) Prüfung der Indikation für Psychotherapie bei multimorbidem, unklarem Störungsbild einer Jugendlichen in einem sozialpädagogischen Heim. Jede dieser Falldarstellungen besteht aus einer kurzen Übersicht, was an diesem Fall besonders lernenswert erscheint, gefolgt von einer ausführlichen Beschreibung des Verlaufs. Diese wiederum ist unterbrochen von wörtlichen Transkript-Passagen sowie von Reflexionen, Erörterungen und Begründungen des Autors, auf was er besonders geachtet hat, wie er die Probleme und Möglichkeiten in der konkreten Situation einschätzt, wie dies mit den theoretischen Grundannahmen in Verbindung steht und welche „Fallen“ sich ggf. auftun, hier inadäquat zu reagieren. Nach einem jeweiligen „Schlusskommentar und Bilanz“ schließen sich bei manchen Falldarstellungen bis zu 5 Nachträge an, mit katemnestische Informationen – bis zu sechs Jahren nach Beendigung der Therapie. Damit werden auch die weiteren Verläufe der angestoßenen Entwicklungen für die Leser dokumentiert.

Allein schon diese Konzeption von Falldarstellungen verdient höchstes Lob und sollte als empfehlenswertes Muster in Lehrbücher zur Psychotherapie eingehen – gern auch bei anderen als nur den systemischen Richtungen. Dies könnte dazu beitragen, dass ein sowohl für die Praxis als auch für die Wissenschaft wirklich fruchtbarer Diskurs über die Bedeutung und Tragfähigkeit bestimmter psychotherapeutischer Grundannahmen und ihre konkrete Umsetzung in der therapeutischen Realität entstehen könnte – jenseits jener auf gemittelte Parametervergleiche von standardisiert beobachteten Variablen unter mehr oder weniger artifiziellen Laborbedingungen erhobenen Ergebnisse, die zwar für bestimmte Forschungsfragen interessant sind, aber über die Realität von Psychotherapie erschreckend wenig aussagen und deren Veröffentlichungen daher von Praktikern in der Regel auch kaum registriert werden. In Rufers Darstellungen hingegen wird ständig der reflexive Kreislauf zwischen theoretischen Grundlagen und deren Annahmen sowie den konkreten Vorgehensweisen unter nicht-Laborbedingungen nachvollziehbar dargelegt. Hier könnten nicht nur systemische Praktiker und Theoretiker unter sich, sondern sofort auch beispielsweise Verhaltenstherapeuten oder Psychodynamiker in den Diskurs einsteigen und die Schlüssigkeit von Annahmen und Umsetzungen sowie mögliche Alternativen kritisch miteinander erörtern. Zumal Rufer nichts beschönigt, sondern selbstkritisch auch die Herausforderungen durch unterschiedliche Krankheitsmodelle (Fall 3) und die Grenzen möglicher Hilfe seines systemischen Arbeitens (Fall 6) aufzeigt und diskutiert.

Da allerdings nicht einmal bei allen Systemtherapeuten die theoretischen Grundlagen systemischer Arbeitsweise auf der Basis des Selbstorganisationsparadigmas vorausgesetzt werden kann, sind dem umfangreichen Fallkapitel (neben einem Anfangs- und einem Schlusskapitel) drei kurze theoretisch-konzeptionelle Kapitel vorangestellt. In diesen werden – gut untergliedert und recht prägnant – die für praktisch systemisches Arbeiten relevanten Aspekte von Selbstorganisation referiert. Es geht also um die Ableitung und Darstellung der Prinzipien, welche dem therapeutischen Handeln in den dargestellten Therapien zugrunde liegen. Wobei dann in diesen Falldarstellungen auch immer wieder erläuternd auf diese Prinzipien Bezug genommen wird (deren referierende Prägnanz allerdings schärfer und enger ist, als es für die praktischen Vorgehensweisen und Erörterungen im 5. Kapitel wirklich notwendig wäre). Nachdem sich systemische Psychotherapie ja historisch eher aus einer blühenden Praxeologie entwickelt hat, kann man diese Kapitel auch nochmals als Einladung lesen und verstehen, dem therapeutischen Handeln nicht nur eine Art „Tool-Box“ zugrunde zu legen, sondern diese durchaus auch konzeptionell fundiert zu verankern – weil eigentlich nur daraus die feineren Unterschiede der Werkzeuge begründbar werden.

Es ist klar, dass mit der von Rufer referierten Selbstorganisationstheorie und ihren generischen Prinzipien für konkretes therapeutisches Handeln nicht beansprucht wird „die Systemtherapie“ schlechthin begründend abzudecken. So dürften Systemiker aus dem autopoietischen Lager ggf. im Detail andere Prinzipien als für sie handlungsleitend anführen. Genau das aber müsste erst einmal durchbuchstabiert werden: Mir ist kein einziges Werk bekannt, das auch nur ansatzweise eine solch konsequente Vernetzung von konzeptionellen Aspekten und praktischer Vorgehensweise leistet, wie hier von Rufer vorgelegt. Auch Anhänger der „Autopoiese“-Konzeption (was immer sie damit auch konkret genau meinen mögen) können daher aus diesem Werk große Lernerfolge erzielen, wenn sie nach Gleichheiten und Unterschieden in den Vorgehensweisen und/oder den zugrundeliegenden Prinzipien fragen. Es ist ja gerade die bereits betonte Stärke dieses Buches, dass es sowohl für Anfänger als eben auch für ausgewiesene Fachleute reichlich Stoff und Anregungen für Lernerfahrungen und konstruktive Diskurse bietet.

Bleibt mir zum Schluss nur, die bereits ausgesprochene enthusiastische Empfehlung zu wiederholen: Wenn auch nur ein winziger Bruchteil aller jener, die von diesem Buch überaus stark profitieren können, sich dieses auch zulegen, wird es bald viele weitere Auflagen geben. Weit wichtiger aber: Dieses Werk von Rufer ist geeignet, den Diskurs innerhalb der systemischen Therapie, zwischen Theoretikern und Praktikern, sowie auch zwischen unterschiedlichen Therapierichtungen bedeutsam voranzubringen.

Martin Rufer (2012): Erfasse komplex, handle einfach. Systemische Psychotherapie als Praxis der Selbstorganisation – ein Lernbuch. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht)

271 Seiten, mit einer Abb., kartoniert
ISBN: 978-3-525-40179-8
Preis: ab 22,90 €

Verlagsinformation:

Praxisliteratur wie auch Fortbildungen hinterlassen oft den Eindruck, dass Therapie eine Sache der Methode oder Technik sei. Dem stehen Erkenntnisse aus Forschung und Praxis gegenüber, die therapeutische Kompetenz an »common factors« festmachen und die Therapeuten als Prozessgestalter und Künstler des Gesprächs verstehen, angefangen bei der Wahl des passenden Settings hin zu Wortwahl, Tonfall und Gestik. In diesem an der Alltagspraxis orientierten Lernbuch stehen folgende Fragen im Mittelpunkt:- Wie kann man therapeutische Prozesse verstehen und gestalten?- Wer und was ist dabei wichtig?- Woran liegt es, wenn es in Therapien hakt?In allen gelingenden Therapien lassen sich allgemeine Wirkfaktoren und Kriterien ausfindig machen, die helfen, Komplexität zu verstehen und zu vereinfachen. Martin Rufer unternimmt den Versuch, die generischen Prinzipien selbstorganisierender Prozesse nach Haken und Schiepek als ein systemisches Konzept für die Fallkonzeption zu konkretisieren und basierend darauf Psychotherapie im weiteren Kontext zu verstehen.Dieses Buch ruft bewährte Werkzeuge in Erinnerung, ergänzt das Handlungsrepertoire um neue und regt dazu an, sich als Praktiker in den system- und psychotherapeutischen Diskurs einzumischen.

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