Thorsten Padberg, Berlin:
„Wann ist endlich Schluss mit der Konkurrenz?“ fragen Peter Fiedler und seine Heidelberger Kollegen im Sammelband „Die Zukunft der Psychotherapie“. Sie sehen sich jenseits des Therapieschulenstreits, wollen „Inspiration“ sein und „kollegiale Anregung“ geben.
In einer Zeit, in der sich die Psychologie nicht mehr von Therapieschulen, sondern von Daten bestimmt sieht, ist es besonders wichtig, auf die Beispiele zu achten, die – meist nebenher – benutzt werden. Sie stellen Zusammenhänge her, wo sonst nur Zahlen stünden.
In dem vorliegenden Band ist es der Streit in der psychoanalytischen Vereinigung zwischen Freud, Jung und Adler, der als abschreckendes Beispiel für Eitelkeiten und Ideologien in der Wissenschaft dient. „Glaubensgemeinschaften“ und „Sektenbildung“ assoziiert Fiedler. Als vorbildlich empfiehlt er dagegen „die herausragenden Psychiater“ Emil Kraepelin und Jean-Martin Charcot.
Das ist für die Psychotherapie keine ganz unproblematische Auswahl. Kraepelins und Charcots Interesse an psychischen Krankheiten orientierte sich an den Klassifikationssystemen der Botanik, als gelte es seltsame Blüten zu sortieren. Ihr Therapieverständnis beschränkte sich häufig auf die bloße Verwahrung der Kranken. Beide wollten nicht allzu nah an ihre Patienten heran. Kraepelin, weil er Empathie als schlechte, weil verzerrende Basis einer wissenschaftlichen Psychiatrie ansah. Charcot zusätzlich deshalb, weil er als Professor und Arzt an der Nervenheilanstalt Salpêtrière mit den Patienten, die meist aus der Unterschicht stammten, wenig gemein hatte.
Auch die in dem Band versammelten Autoren interessieren sich „zuvorderst für die Ursachen und Hintergründe psychischer Störungen bzw. Störungsgruppen (Syndrome) und erst nachgeordnet für die Fortentwicklung therapeutischer Verfahren“, stellt Fiedler fest. Sind das gute Orientierungspunkte für die Zukunft der Psychotherapie?
Biospychosoziales Modell als Pate des Störungsmodells
Das biopsychosoziale Modell steht in vielen der Beiträgen offensichtlich Pate für die vorgestellten Störungsmodelle, die dann u.a. aus neurobiologischer, persönlichkeitspsychologischer oder geschlechtsspezifischer Perspektive vorgestellt werden. Zeitgeistkonform häufen sich die Bezüge zu den Neurowissenschaften. Die „Furchtexpression“, heißt es im Kapitel von Herpertz, sei „im zentralen Amygdalakerngebiet repräsentiert, das auf Hirnstammkerne und das Periaqueduktale Grau projiziert“, und, so weiter, diese „Projektionen sind auf Hypothalamuskerngebiete via hypothalamo-hypophysiär-adrenale Achse (HPA-Achse) von endokrinen Angstkorrelaten gefolgt“. Auffällig ist, dass viele der von der Neurobiologie inspirierten psychotherapeutischen Neuerungen im Konjunktiv stehen. Sie sind Versprechen z.T. abgeleitet aus Erkenntnissen „am Beispiel der Ratte“ und noch keine funktionierende Praxis. Sollten sich die damit verbundenen Erwartungen nicht erfüllen, besteht Gefahr: Schon wegen der pompösen Begrifflichkeit könnte man eines Tages wie in des Kaisers neue Kleider dastehen.
„Die Zukunft der Psychotherapie“ liegt in ihrer Vergangenheit
Gelungen ist im Kapitel zur Schizophrenie die Ableitung heutiger multimodaler Therapieprogramme aus historischen Sichtweisen: Nach Bleulers Disharmonie-Dissoziations-Hypothese empfiehlt sich die Gabe von Antipsychotika, aus der sozialpsychologischen Perspektive leiten sich Maßnahmen wie Selbstmanagement und Soziales Kompetenztraining ab, usw.
Es wird aber auch ein Problem des Bandes deutlich: Einerseits nutzen die polyperspektivischen Ansätze, die Fiedler und Co vorstellen, Mittel, die den Therapieschulen entstammen. Andererseits werden diese immer wieder als fortschrittshemmend dargestellt. Damit sägt man an dem Ast, auf dem man sitzt. Und ob die Konzentration auf Ätiologie- und Pathogenese-Modelle den einzigen Weg in die Zukunft darstellt, darf bezweifelt werden, wenn man bspw. die Entstehungsgeschichten von akzeptanzorientierten, existenziellen oder schematherapeutischen Ansätzen anschaut. Das erkennt in einer etwas selbst-widersprüchlichen Volte auch Fiedler an: „Konstruktiver Streit [unter den Therapieschulen] ist unverzichtbar!“ Die Zukunft der Psychotherapie liegt also auch bei den streitenden Schulen – und damit in ihrer Vergangenheit.
Wenn Fiedler dann wieder beklagt, die psychischen Störungen seien bisher „nur einseitig mit dem jeweils vorherrschenden Menschenbild in Augenschein genommen“ worden, übersieht er, dass „krank“ und „gesund“ in der Psychotherapie keine natürlichen Kategorien sind. Sie sind nur mit Bezug auf einen impliziten oder expliziten Standard sinnvoll, eben mit Blick auf ein Menschenbild mit seiner inhärenten Moral. Sein nur scheinbar „unmoralisches“, weil rein „phänomenologisches“ Angebot ist eben auch nur eine weitere Schule. Durch ihre manchmal unhinterfragte Weltsicht ist sie zudem den so sehr gescholtenen Therapieschulen ziemlich ähnlich.
Diese „Phänomenologie“ ist – als eine weitere Perspektive – sicher nützlich. Es zeigt sich aber auch, dass sie zu vielleicht ungewollten Vorfestlegungen führt. Die geschlechtsspezifische Perspektive im Kapitel von Kämmerer beispielsweise erschöpft sich im Referat epidemiologischer Daten und betrachtet gesellschaftliche Entwicklungen, wie die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen, die digitale Revolution oder auch die adornosche Individuation vorwiegend als Risikofaktoren für weitere psychopathologische „Phänomene“. Dadurch wirkt dieser aus sozialer Sicht geschriebene Beitrag besonders konservativ. Da besteht z.B. beim Soziologen Nikolas Rose (z.B. Rose & Abi-Rached, 2013) wesentlich mehr Bewusstsein für die Rückwirkung psychopathologischer Konzepte auf gesellschaftliche Prozesse. Um von feministischen Perspektiven gar nicht erst zu reden.
Ein großer Schritt voran
Ausschlaggebend sind bei einem Buch dieses Titels die zukünftigen Attraktionen, die „kollegialen Anregungen“, die die Psychologie für die Praxis im Angebot hat. Bastines kritische Betrachtungen zum Komorbiditätskonzept machen deutlich, dass die bisher herrschende Konzeption von morbiditätsorientierter Diagnostik und Indikation noch massiv überarbeitet werden müsste. Das ist schon fast revolutionär, bleibt aber mehr Aufgabe als Angebot. Fiedler empfiehlt abschließend modular eingesetzte, störungsspezifische Manuale, eingebettet in eine „positiv zu gestaltende Beziehung zum Patienten“. Die Berücksichtigung von „Lebensthemen und Entwicklungsaufgaben“ in der Therapie von Kindern und auch die „Herstellung einer sicheren Gegenwart“ empfiehlt Resch. Ahlsdorf fragt „Was also kann nun eine Psychotherapie im Alter leisten?“ und gibt die Antwort: „Sie kann das leisten, was sie auch im jüngeren Alter leisten kann.“
Das ist vertretbar, aber in seiner Allgemeinheit für diejenigen, die in ihrer Praxis mehr als Kraepelin und Charcot leisten wollen und müssen, doch etwas wenig. Die Autoren heben mitunter selbst hervor, dass ihre Konzeptionen z.T. noch in der Erforschung und vor der Erprobung stehen. Warum sollten sie den guten alten Therapieschulen notwendig überlegen sein? Genauso vielversprechend ist eine erneute argumentative Lektüre ihrer Klassiker, mögen sie von Rogers, Ellis, Bateson, Freud oder anderen stammen.
Deutlich wird aber, dass man sich in Heidelberg in Toleranz übt. Das sollte Schule machen. Es ist nach den Verwerfungen, die auch durch die von Fiedler ebenfalls kritisierten empirischen Therapievergleichsstudien befördert wurden, ein großer Schritt voran. Die Lektüre lohnt als Einblick in die Diskussionen an einer Universität, die sich auf den Weg zu mehr Offenheit gemacht hat.
Literatur:
Rose, N & Abi-Rached, J. (2013). Neuro. The New Brain Sciences and the Management of the Mind. Princeton University Press.
Eine weitere Rezension von Hans-Peter Heekerens für socialnet.de
Ausführlich mit diesem Buch hat sich auch Michael B. Buchholz in seinem Psycho-News-Letter Nr. 93 beschäftigt, der ebenfalls im systemagazin zu lesen ist.
Peter Fiedler (Hrsg.): Die Zukunft der Psychotherapie. Wann ist endlich Schluss mit der Konkurrenz?
Springer (Berlin – Heidelberg), 2012
167 Seiten
ISBN: 978-3-642-22470-6
Preis: 36,99 €
Verlagsinformation:
Therapieforscher sind sich einig, dass sich innerhalb einer Therapieschule niemals alle Patienten gleichermaßen erfolgreich behandeln lassen. Wegen des Festhaltens am Therapieschulendenken jedoch wurde bisher selten die Frage der selektiven Indikation systematisch geprüft: Könnte es nicht sein, dass jene Patienten, denen eine Therapieform nicht weiter hilft, ein anderes Therapieverfahren mit Erfolg absolvieren könnten? An der Heidelberger Universität sieht man die schulenübergreifende Notwendigkeit der Veränderung von Therapiekonzepten in Bezug auf die Grundlagenforschung – in dieser Tradition sieht man sich im Dienste der Patienten. Dieses Buch trägt aus verschiedenen Perspektiven einer störungsspezifischen ätiologischen und epidemiologischen Forschung in Psychologie, Psychiatrie und Psychosomatik Ideen zusammen, wie die Psychotherapie der Zukunft aussehen könnte. Die beteiligten Autorinnen und Autoren: Peter Fiedler, Reiner Bastine, Christoph Mundt, Sabine C. Herpertz, Annette Kämmerer, Sven Barnow, Simone Lang, Franz Resch, Elke Ahlsdorf, Gerd Rudolf. Dabei ist keine Streitschrift entstanden, sondern eine kollegiale Anregung zum Überdenken von therapeutischer Arbeit und zu erforschenden Grundannahmen. Geschrieben für Psychologische und ärztliche Psychotherapeuten, Psychologen, Psychiater, Psychosomatiker, Studierende und Lehrende der Fächer.
Inhaltsverzeichnis:
Psychotherapie zwischen Forschung und Praxis: Stiefkind »Integrative Psychotherapie«?
Psychotherapie zwischen Forschung und Praxis: Stiefkind »Integrative Psychotherapie «? (Seite 1-9)
Diagnostik – Klassifikation – Psychopathologie
Komorbidität: Ein Anachronismus und eine Herausforderung für die Psychotherapie (Seite 13-25)
Eine psychopathologische Perspektive am Beispiel der Schizophrenie (Seite 27-38)
Neurobiologie – Geschlecht – Persönlichkeit
Frontmatter (Seite 39-39)
Wie beeinflussen neurobiologische Erkenntnisse die Psychotherapie? (Seite 41-55)
Psychotherapie und Geschlechtszugehörigkeit (Seite 57-73)
Eine persönlichkeitspsychologische Perspektive (Seite 75-89)
Kindheit – Jugend – hohes Alter
Frontmatter (Seite 91-91)
Die Perspektive der Kindheit und Jugend (Seite 93-116)
Wege ins höhere Lebensalter: Entwicklungsmöglichkeiten durch Psychotherapie (Seite 117-132)
Übergreifende Perspektiven für die Zukunft
Frontmatter (Seite 133-133)
Psychotherapeutische Entwicklungen: Das Beispiel der Strukturbezogenen Psychotherapie (Seite 135-147)
Phänomenologisch orientierte Indikation: Gemeinsame Herausforderung für die Therapieschulen (Seite 149-162)
Über den Herausgeber:
Peter Fiedler ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte und Fachpublikationen zur Ätiologie und Behandlung psychischer Störungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, Depression, dissoziative Störungen, posttraumatische Störungen und Paraphilien.